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Vertragsverletzungsverfahren


Vertragsverletzungsverfahren

Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein zentrales Instrument des Unionsrechts zur Durchsetzung der Einhaltung des Europäischen Rechts durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Ziel des Verfahrens ist es sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus den EU-Verträgen, der sekundären Gesetzgebung sowie den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nachkommen. Das Vertragsverletzungsverfahren ist hauptsächlich in den Artikeln 258 bis 260 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt.

Rechtsgrundlagen des Vertragsverletzungsverfahrens

Artikel 258 AEUV – Einleitung des Verfahrens durch die Kommission

Die Europäische Kommission ist laut Artikel 258 AEUV befugt, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten, wenn sie der Ansicht ist, dass dieser gegen eine Verpflichtung aus dem Recht der Europäischen Union verstoßen hat. Die Kommission gilt als sogenannte „Hüterin der Verträge“ und nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Das Verfahren umfasst mehrere Stufen, um sowohl dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung zu geben als auch eine einvernehmliche Lösung anzustreben.

Artikel 259 AEUV – Verfahren auf Antrag eines anderen Mitgliedstaats

Zusätzlich zur Kommission kann gemäß Artikel 259 AEUV auch ein Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen anderen Mitgliedstaat einleiten, sofern er der Auffassung ist, dass dieser gegen das Unionsrecht verstößt. Vor einer Klageerhebung muss jedoch die Kommission angehört werden und die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten.

Artikel 260 AEUV – Folgen einer festgestellten Vertragsverletzung

Kommt ein Mitgliedstaat einem Urteil des Gerichtshofs nicht nach, sieht Artikel 260 AEUV finanzielle Sanktionen und weitere Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertragseinhaltung vor.

Ablauf des Vertragsverletzungsverfahrens

Das Vertragsverletzungsverfahren durchläuft in der Regel mehrere Phasen, beginnend mit einem vorgerichtlichen Verfahren und ggf. übergehend in ein gerichtliches Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Vorverfahren (Vorgerichtliches Verfahren)

  1. Aufforderungsschreiben:

Das Verfahren beginnt mit einem Aufforderungsschreiben („Letter of Formal Notice“) der Kommission an den betreffenden Mitgliedstaat. In diesem erfolgt eine konkrete Darlegung des behaupteten Vertragsverstoßes und die Aufforderung, innerhalb einer gesetzten Frist zur Sachlage Stellung zu nehmen.

  1. Begründete Stellungnahme:

Entkräftet der Mitgliedstaat die Vorwürfe nicht ausreichend, folgt eine „begründete Stellungnahme“ (Reasoned Opinion) der Kommission. Sie stellt die Verletzung des Unionsrechts fest und fordert den Staat auf, Abhilfe zu schaffen.

  1. Fristsetzung und Möglichkeit zur Korrektur:

Der Mitgliedstaat erhält eine Frist, um die beanstandete Praxis einzustellen oder das nationale Recht an das Unionsrecht anzupassen.

Gerichtliches Verfahren

Benennt der Mitgliedstaat keine Abhilfemaßnahmen oder bleibt untätig, kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Artikel 258 AEUV anrufen. Das Verfahren wird mit einer Klageschrift eingeleitet.

  1. Klage vor dem EuGH:

Der EuGH prüft den Sachverhalt, hört die Parteien an und entscheidet, ob tatsächlich eine Vertragsverletzung vorliegt.

  1. Urteilsfolgen:

Wird eine Vertragsverletzung festgestellt, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, die notwendige Maßnahmen zur Beendigung der Verletzung zu ergreifen. Zudem ist das Urteil bindend.

Verfahren bei fortdauernder Vertragsverletzung (Art. 260 AEUV)

Kommt der Mitgliedstaat der Entscheidung des Gerichts nicht nach, kann die Kommission eine weitere Klage anstrengen und die Verhängung von Zwangsgeldern und/oder Pauschalbeträgen beantragen. Die Höhe dieser Sanktionen richtet sich nach Schwere und Dauer der Vertragsverletzung sowie der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Staates.

Gegenstand von Vertragsverletzungsverfahren

Ein Vertragsverletzungsverfahren kann wegen zahlreicher Verstöße gegen das Unionsrecht eingeleitet werden, beispielsweise:

  • Nicht- oder verspätete Umsetzung von EU-Richtlinien
  • Anwendung nationaler Vorschriften, die nicht mit EU-Recht vereinbar sind
  • Nichterfüllung von Verpflichtungen aus EU-Verordnungen
  • Zuwiderhandlungen gegen Grundfreiheiten des Binnenmarktes

Bedeutung des Vertragsverletzungsverfahrens

Das Vertragsverletzungsverfahren dient der Sicherstellung eines einheitlichen und wirksamen Funktionierens des Binnenmarktes sowie der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze innerhalb der Europäischen Union. Es schützt die Rechte der Unionsbürger und Unternehmen und sichert die Verbindlichkeit des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten.

Statistische Entwicklung und Praxisbeispiele

Die Europäische Kommission veröffentlicht regelmäßig Berichte über anhängige und abgeschlossene Vertragsverletzungsverfahren. Typische Anwendungsbereiche sind das Umweltrecht, das Steuerrecht, der Verbraucherschutz sowie das Vergaberecht. Prominente Beispiele aus der Vergangenheit betreffen u.a. Verstöße gegen Luftqualitätsrichtlinien, die Nichtumsetzung von Datenschutzvorschriften oder die diskriminierende Anwendung nationaler Steuergesetze auf grenzüberschreitende Sachverhalte.

Rechtsfolge einer festgestellten Vertragsverletzung

Eine vom EuGH festgestellte Vertragsverletzung verpflichtet den Mitgliedstaat zu unverzüglicher Abhilfe. Darüber hinaus können im Wiederholungsfall finanzielle Sanktionen verhängt werden, die ggf. den allgemeinen EU-Haushalt zugutekommen. Der betroffene Mitgliedstaat ist gezwungen, sowohl die unmittelbaren Umstände der Vertragsverletzung zu beseitigen als auch mögliche Folgewirkungen zu adressieren.

Reformen und Weiterentwicklungen

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das Instrumentarium der Kommission zur Durchsetzung ihrer Urteile ausgeweitet, indem sie bereits beim Erstverfahren finanzielle Sanktionen beantragen kann, etwa bei Nichtumsetzung von Richtlinien.

Verhältnis zu anderen unionsrechtlichen Instrumenten

Das Vertragsverletzungsverfahren steht neben anderen Mechanismen, etwa der Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV), der Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV) und Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV), dient jedoch ausschließlich der Überwachung der Vertragstreue der Mitgliedstaaten.


Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein wesentliches Element zur Wahrung der Integrität des europäischen Rechtsraums. Es garantiert nicht nur die Wirksamkeit des Unionsrechts, sondern auch die Rechtsgleichheit aller Bürgerinnen und Bürger im europäischen Binnenmarkt und den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten im Rahmen gemeinsamer europäischer Werte.

Häufig gestellte Fragen

Welche Instanzen sind an einem Vertragsverletzungsverfahren beteiligt?

An einem Vertragsverletzungsverfahren im rechtlichen Kontext der Europäischen Union sind wesentliche Institutionen beteiligt. Das Verfahren wird in der Regel von der Europäischen Kommission eingeleitet, die Verstöße der Mitgliedstaaten gegen Verpflichtungen aus den EU-Verträgen überwacht. Die Mitgliedstaaten selbst stehen als mögliche Antragsgegner im Mittelpunkt. Im weiteren Verlauf kann auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) als entscheidende Instanz angerufen werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat den festgestellten Verstoß nicht behebt. In Ausnahmefällen haben auch die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, andere Mitgliedstaaten wegen Vertragsverletzungen zu verklagen, wobei diese Variante selten genutzt wird. Alle Verfahrensabschnitte sind durch bestimmte Fristen und kommunikativen Austausch zwischen den Beteiligten geprägt, um der betroffenen Partei die Möglichkeit zur Stellungnahme und Abhilfe zu geben, bevor eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt wird.

Welche Phasen durchläuft das Vertragsverletzungsverfahren?

Das Vertragsverletzungsverfahren gliedert sich in mehrere klar definierte Phasen. In der ersten Phase, dem sogenannten Vorverfahren, informiert die Kommission den Mitgliedstaat in Form eines Aufforderungsschreibens über den vermuteten Vertragsverstoß und fordert zur Stellungnahme sowie gegebenenfalls zur Abhilfe auf. Bleiben diese Maßnahmen aus, folgt die zweite Phase, in der die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgibt, die eine letzte Frist zur Erfüllung setzt. Kommt der Mitgliedstaat dieser Aufforderung erneut nicht nach, leitet die Kommission die dritte Phase ein und erhebt Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Der Gerichtshof prüft dann den Fall und fällt ein Urteil, das für den betroffenen Staat bindend ist. Im Falle der ausbleibenden Umsetzung des Urteils kann eine weitere Klage auf Verhängung finanzieller Sanktionen folgen.

Welche Rechte und Pflichten haben die betroffenen Mitgliedstaaten im Verfahren?

Die von einem Vertragsverletzungsverfahren betroffenen Mitgliedstaaten besitzen sowohl umfassende Mitwirkungsrechte als auch Pflichten. Ihnen steht das Recht zu, zu allen Vorwürfen und Maßnahmen schriftliche und, bei Bedarf, mündliche Erklärungen abzugeben. Sie können in allen Verfahrensabschnitten ihre Sicht darlegen, Beweise vorlegen und auf Vorschläge der Kommission reagieren. Pflichtseitig ist der Mitgliedstaat verpflichtet, der Kommission alle erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, aktiv an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken und gegebenenfalls den rechtswidrigen Zustand zeitnah zu beheben. Kommt der Staat einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichtshofs nicht nach, sind ebenso die im Urteil oder in einem weiteren Verfahren verhängten Sanktionen umzusetzen.

Welche Sanktionen können im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens verhängt werden?

Sollte der Europäische Gerichtshof einen Vertragsverstoß feststellen und der betroffene Mitgliedstaat diesen nicht binnen der festgesetzten Frist beheben, kann auf Antrag der Kommission eine erneute Prüfung inkl. finanzieller Sanktionen erfolgen. Diese Sanktionen können in Form von Pauschalbeträgen (Lump Sum) oder Zwangsgeldern (Penalty Payment) ausgesprochen werden, deren Höhe anhand der Schwere und der Dauer des Verstoßes sowie der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Mitgliedstaats bestimmt wird. Diese Zahlungen dienen dazu, die Wirksamkeit des Unionsrechts zu sichern und abschreckend auf andere Staaten zu wirken. Die Verpflichtung zur Zahlung endet, sobald der rechtswidrige Zustand beseitigt wurde.

Welche Folgen hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für nationale Gerichte und das nationale Recht?

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens ist für den jeweiligen Mitgliedstaat verbindlich. Es verpflichtet nicht nur die Regierung, sondern auch alle Behörden und Gerichte des Landes, die festgestellte Rechtsverletzung zu beheben und zukünftige Verstöße zu unterlassen. Nationale Gerichte sind gehalten, das Unionsrecht auf der Grundlage der Auslegung des Gerichtshofs anzuwenden und im Einklang mit dessen Entscheidung zu entscheiden. Sollte nationales Recht dem Unionsrecht weiterhin widersprechen, sind die nationalen Gerichte dazu angehalten, das nationale Recht unangewendet zu lassen beziehungsweise für eine rechtskonforme Anwendung zu sorgen.

Ist gegen ein Urteil im Vertragsverletzungsverfahren ein Rechtsmittel möglich?

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren sind grundsätzlich endgültig und nicht mit ordentlichen Rechtsmitteln angreifbar. Allerdings kann in bestimmten Fällen ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt werden, wenn nach Verkündung des Urteils neue, entscheidungserhebliche Tatsachen bekannt werden, die bei früherer Kenntnis möglicherweise zu einem anderen Urteil geführt hätten. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine solche Wiederaufnahme sind jedoch streng und sehr eng auszulegen. Ein reguläres Berufungsverfahren ist im Vertragsverletzungsverfahren nicht vorgesehen.

Welche besonderen Fristen gelten im Vertragsverletzungsverfahren?

Das Verfahren ist von mehreren teils strengen Fristen bestimmt, welche die Verfahrensdauer und den Ablauf maßgeblich strukturieren. Nach Erhalt des Aufforderungsschreibens der Kommission hat der Mitgliedstaat in der Regel zwei Monate Zeit zur Stellungnahme. Nach einer gegebenenfalls folgenden mit Gründen versehenen Stellungnahme kann eine weitere Frist gesetzt werden, die ebenfalls in der Regel zwei Monate beträgt. Nach Erhebung der Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gelten die allgemeinen Fristen der Prozessordnung des EuGH für die Einreichung von Schriftsätzen und sonstigen Verfahrenshandlungen. Die Einhaltung dieser Fristen ist für die Vermeidung von Verzögerungen und die effektive Umsetzung des Unionsrechts essenziell.