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Versicherungs-GVO


Begriff und Grundlagen der Versicherungs-GVO

Die Versicherungs-GVO (Gruppenfreistellungsverordnung für den Versicherungssektor) ist eine Verordnung der Europäischen Union, welche bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Abstimmungen im Bereich der Versicherung von dem grundsätzlichen Kartellverbot des Artikels 101 Absatz 1 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) ausnimmt. Sie stellt eine Ausnahme vom Kartellverbot dar und regelt Bedingungen, unter denen die Zusammenarbeit von Versicherungsunternehmen mit dem europäischen Wettbewerbsrecht vereinbar ist.

Die aktuelle Rechtsgrundlage bildet die Verordnung (EU) Nr. 267/2010 der Kommission vom 24. März 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 AEUV auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor (kurz: Versicherungs-GVO). Diese Verordnung löste die Vorgängerverordnung (EU) Nr. 358/2003 ab. Sie gewährt bestimmten Arten der Zusammenarbeit von Versicherungsunternehmen einen sogenannten „Gruppenausnahme“-Status.


Rechtlicher Hintergrund der Versicherungs-GVO

Zielsetzung und Funktionsweise

Die Versicherungs-GVO verfolgt das Ziel, die Zusammenarbeit von Versicherungsunternehmen innerhalb der Europäischen Union unter bestimmten Voraussetzungen zu erleichtern. Dies gilt insbesondere für Kooperationen, bei denen gemeinsame Kalkulationen oder Statistiken zwecks Risikobewertung erstellt werden, sowie für gemeinsame Versicherungsbedingungen und Pools. Regulär wären derartige Abspracheformen nach dem europäischen Kartellrecht unzulässig, sofern sie den Wettbewerb erheblich behindern könnten.

Europäischer Rechtsrahmen

Artikel 101 AEUV

Artikel 101 Absatz 1 AEUV untersagt alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und den Wettbewerb verhindern, einschränken oder verfälschen können. Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV können jedoch bestimmte Wettbewerbsbeschränkungen unter definierten Bedingungen freigestellt werden, wenn sie beispielsweise zu einer verbesserten Warenerzeugung oder -verteilung beitragen oder den technischen Fortschritt fördern.

Gruppenfreistellungsverordnung

Die Versicherungs-GVO stellt eine sogenannte Gruppenfreistellung dar. Sie bewirkt, dass bestimmte Kooperationsformen, die in einem definierten Umfang bleiben, automatisch als mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar gelten, sofern sie die Bedingungen der Verordnung erfüllen. Die Geltungsdauer der aktuellen Gruppenfreistellungsverordnung wurde zuletzt bis 31. März 2026 verlängert.


Anwendungsbereich der Versicherungs-GVO

Erfasste Vereinbarungen

Die Versicherungs-GVO bezieht sich insbesondere auf folgende Arten von Vereinbarungen zwischen Versicherungsunternehmen:

  • Gemeinschaftliche Erstellung von Versicherungsbedingungen: Die Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung von Standardbedingungen für Versicherungsverträge.
  • Kooperation bei Risikostatistiken und Tarifen: Gemeinsame Sammlung, Austausch und Bewertung von Daten zu den versicherungsrelevanten Risiken.
  • Versicherungspools: Bildung gemeinsamer Einrichtungen zur Deckung spezieller Risiken, die von einzelnen Unternehmen nicht wirtschaftlich versicherbar wären.

Ausnahmen und Abgrenzungen

Nicht von der Gruppenfreistellung erfasst sind Vereinbarungen, welche in ihrer Wirkung eine erhebliche Beschränkung des Wettbewerbs darstellen oder außerhalb der in der GVO definierten Grenzen stehen. Vor allem Zusammenschlüsse, die zu einer marktbeherrschenden Stellung führen, sowie Preisabsprachen und Boykottabreden unterfallen nicht der Freistellung.


Zulässigkeitsvoraussetzungen und Voraussetzungen der Freistellung

Damit eine Vereinbarung unter die Versicherungs-GVO fällt, gelten mehrere Voraussetzungen:

  1. Transparenz und Offenlegung: Informationen zu kooperativen Vereinbarungen müssen transparenter gestaltet werden, um auch anderen Marktteilnehmern Zugang zu gewähren.
  2. Keine unmittelbare Beschränkung des Wettbewerbs: Vereinbarungen dürfen keine Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die nicht zur Erreichung der legitimen Ziele der GVO notwendig sind.
  3. Begrenzter Marktanteil: Der Marktanteil der kooperierenden Unternehmen darf bestimmte Schwellenwerte (häufig 20% bis 25%) nicht überschreiten, um die Marktmacht der beteiligten Unternehmen zu beschränken.
  4. Vermeidung von Informationsübermittlung: Sensible Daten, insbesondere über zukünftige Preise, dürfen nicht ausgetauscht werden, sofern dies nicht zur Zielerreichung der Kooperation unabdingbar ist.

Regulatorische Kontrolle und Aufsicht

Rolle der Europäischen Kommission

Die Europäische Kommission überwacht die Einhaltung der Versicherungs-GVO und kann im Einzelfall prüfen, ob eine Vereinbarung tatsächlich unter die Gruppenfreistellung fällt oder ob eine Einzelfallentscheidung notwendig wird. Bei Verstößen gegen die Bestimmungen kann die Kommission die Freistellung widerrufen.

Nationale Aufsicht

Die Kartellbehörden der Mitgliedstaaten, etwa das Bundeskartellamt in Deutschland, sind befugt, die Anwendung der GVO auf dem jeweiligen nationalen Versicherungsmarkt zu überprüfen und durchzusetzen. Sie können Verfahren gegen Unternehmen einleiten, die gegen die Vorschriften der Gruppenfreistellungsverordnung oder das allgemeine Kartellrecht verstoßen.


Praktische Bedeutung und Auswirkungen der Versicherungs-GVO

Vorteile für Versicherungsunternehmen

Durch die Versicherungs-GVO wird die Zusammenarbeit in Bereichen wie der Risikoermittlung, der Standardisierung von Vertragsbedingungen und der Bildung von Versicherungs-Pools ermöglicht. Dies kann insbesondere bei neuen oder schwer kalkulierbaren Risiken die Versicherung überhaupt erst marktgängig machen.

Auswirkungen auf den Wettbewerb

Mit der Gruppenfreistellungsverordnung wird verhindert, dass branchenweit effizienzsteigernde Kooperationen pauschal als wettbewerbswidrig eingestuft werden. Gleichwohl stellt die GVO sicher, dass Kooperationen nicht zur Verfestigung oder dem Ausbau von Marktmacht zum Nachteil von Wettbewerb und Verbrauchern führen.


Reformdiskussion und zukünftige Entwicklungen

Die Versicherungs-GVO wird regelmäßig von der Europäischen Kommission evaluiert, um ihre Wirksamkeit und die Kartellrechtskonformität zu überprüfen. Mit der nahenden Auslaufzeit (aktuell 2026) werden Stimmen laut, die angesichts der Digitalisierung, „Big Data“ und neuen Marktteilnehmern im Versicherungsbereich eine Anpassung der GVO an neue Gegebenheiten fordern.


Literatur und weiterführende Quellen

  • Text der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 der Kommission vom 24. März 2010 (Amtsblatt der EU)
  • Leitlinien der Europäischen Kommission zur Anwendung von Artikel 101 AEUV
  • Veröffentlichungen des Bundeskartellamts und der BaFin zu kartellrechtlichen Fragestellungen im Versicherungssektor
  • Berichte und Evaluationen der Europäischen Kommission zum Versicherungs-GVO

Fazit

Die Versicherungs-GVO bildet eine zentrale Ausnahme im europäischen Wettbewerbsrecht für den Versicherungssektor. Sie schafft einen klaren Rechtsrahmen für Kooperationen, die zur Schadenskalkulation, zu gemeinsamen Bedingungen und zu Versicherungs-Pools erforderlich sind, und sorgt zugleich dafür, dass diese Kooperationen den Wettbewerb nicht ungebührlich beschränken. Die ständige Neubewertung und Optimierung der Gruppenfreistellungsverordnung garantiert ihre Aktualität gegenüber den Herausforderungen des sich wandelnden Versicherungsmarktes.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Pflichten treffen Vermittler im Rahmen der Versicherungs-GVO?

Vermittler sind im Rahmen der Versicherungs-Gruppenfreistellungsverordnung (Versicherungs-GVO) rechtlich verpflichtet, die Vorgaben der Verordnung im Hinblick auf Kooperationsvereinbarungen mit anderen Marktteilnehmern einzuhalten. Konkret bedeutet dies unter anderem, dass Vermittler keine wettbewerbswidrigen Absprachen hinsichtlich Prämien, Provisionen oder der Aufteilung von Kunden treffen dürfen. Insbesondere bei der Zusammenarbeit mit Versicherern und anderen Vermittlern sind jegliche Vereinbarungen zu vermeiden, die zu einer Marktabschottung oder zur Benachteiligung von Endkunden führen könnten. Vermittler müssen sämtliche im Rahmen der Versicherungs-GVO erlaubten und untersagten Kooperationspraktiken kennen und deren Einhaltung dokumentieren. Bei Zuwiderhandlungen drohen nicht nur zivilrechtliche, sondern auch ordnungs- und strafrechtliche Konsequenzen, darunter Bußgelder der Kartellbehörden und mögliche Berufsausübungsverbote.

Wie beurteilt die Versicherungs-GVO den Austausch von sensiblen Informationen zwischen Versicherungsunternehmen?

Der Austausch sensitiver Informationen – wie beispielsweise künftige Tarifgestaltungen, Rückversicherungsbedingungen oder Geschäftszahlen – ist nach den rechtlichen Maßgaben der Versicherungs-GVO nur in sehr beschränktem Umfang zulässig. Die Verordnung gestattet den Informationsaustausch ausschließlich, sofern dieser für die Kooperation, etwa im Rahmen der Versicherungsartenpools oder Risikogemeinschaften, zwingend erforderlich ist und keine Wettbewerbsbeschränkungen entstehen. Ein Austausch, der über das zur Vertragsdurchführung Notwendige hinausgeht, kann als wettbewerbswidrige Absprache gewertet werden. Die beteiligten Unternehmen sind dazu angehalten, genaue Protokollierungen aller relevanten Gespräche und Vereinbarungen vorzunehmen, um im Streitfall Nachweise über die Einhaltung der GVO führen zu können. Zweckwidrige oder exzessive Weitergaben von vertraulichen Unternehmensdaten sind explizit untersagt und können als Kartellverstoß geahndet werden.

Inwieweit findet die Versicherungs-GVO auf Maklerpools und Vergleichsplattformen Anwendung?

Die Versicherungs-GVO erstreckt sich auch auf Maklerpools und Vergleichsplattformen, sofern diese als Kooperationsformen zwischen Versicherungsunternehmen und Vermittlern agieren. Insbesondere sind rechtlich alle Kooperationsmodelle umfasst, die auf kollektiver Risikotragung, gemeinsamen Produkten oder der gebündelten Abwicklung von Versicherungsverträgen beruhen. Maklerpools haben demnach sicherzustellen, dass keine wettbewerbseinschränkenden Vereinbarungen über Vertrieb, Preise oder Marktaufteilungen getroffen werden. Vergleichsplattformen unterliegen einer besonderen regulatorischen Prüfung, da sie oftmals Preis- und Leistungsvergleiche ermöglichen, die die Transparenz am Markt erhöhen sollen, jedoch nicht zur Koordination oder Verfestigung von Preisen missbraucht werden dürfen. Jegliche Kollektivvereinbarungen über die Aufnahme oder den Ausschluss bestimmter Anbieter sind rechtlich unzulässig.

Welche rechtlichen Folgen drohen bei einem Verstoß gegen die Versicherungs-GVO?

Verstöße gegen die Versicherungs-GVO ziehen weitreichende rechtliche Konsequenzen nach sich. In erster Linie drohen den beteiligten Unternehmen und natürlichen Personen empfindliche Bußgelder durch die zuständigen Kartellbehörden. Darüber hinaus können abgeschlossene Verträge, die auf wettbewerbswidrigen Vereinbarungen beruhen, für nichtig erklärt werden. Betroffene Wettbewerber und Verbraucher haben die Möglichkeit, Schadensersatzansprüche gerichtlich durchzusetzen. Bei besonders schweren oder wiederholten Verstößen kann sogar der Entzug der Gewerbeerlaubnis als Versicherungsvermittler oder Versicherungsunternehmen drohen. Zudem ist mit einem erheblichen Reputationsverlust zu rechnen, was mittel- und langfristig erhebliche wirtschaftliche Schäden nach sich ziehen kann.

Gibt es rechtlich zulässige Kooperationsformen unter der Versicherungs-GVO?

Ja, die Versicherungs-GVO lässt explizit bestimmte Kooperationsformen zu, soweit sie den Wettbewerb nicht spürbar beschränken. Erlaubt sind beispielsweise gemeinschaftliche Deckungskonzepte, bei denen mehrere Versicherer das Risiko gemeinsam tragen, sofern die Zusammenarbeit für die Entwicklung oder das Angebot eines bestimmten Versicherungsprodukts objektiv erforderlich ist. Auch Rück- und Mitversicherungsvereinbarungen werden unter strengen Voraussetzungen als zulässig angesehen. Voraussetzung bleibt stets, dass keine Marktaufteilungsabreden bestehen, keine Preisabsprachen getroffen werden und Marktteilnehmern der freie Zugang zu den Kooperationsprojekten nicht verwehrt wird. Umfangreiche schriftliche Dokumentationen und einzelfallbezogene Legalitätsprüfungen sind zur Absicherung der Rechtmäßigkeit empfohlen.

Wie muss die Dokumentation der Kooperationen rechtlich erfolgen?

Die rechtliche Dokumentationspflicht nach der Versicherungs-GVO verlangt eine vollständige, nachvollziehbare und zeitnahe Niederschrift aller relevanten Vereinbarungen und Abstimmungsprozesse. Jedes Meeting, jede Absprache und jede Kooperationshandlung muss schriftlich festgehalten werden. Die Dokumentation hat insbesondere Angaben zum Zweck, Inhalt und Teilnehmerkreis der jeweiligen Kooperation zu enthalten und muss für mindestens fünf Jahre revisionssicher aufbewahrt werden. Vorschriften zur Vertraulichkeit und zu datenschutzrechtlichen Standards sind ebenfalls zwingend einzuhalten. Die Dokumentationspflicht dient im Streitfall als entscheidender Nachweis für das rechtskonforme Handeln und als Beweismittel gegenüber den Wettbewerbs- und Kartellbehörden.

Welche gesetzlichen Prüf- und Meldepflichten bestehen nach der Versicherungs-GVO?

Versicherungsunternehmen und Vermittler sind nach der Versicherungs-GVO verpflichtet, regelmäßige Prüfungen ihrer Kooperationspraktiken vorzunehmen und zu dokumentieren. Bei Verdacht auf Unzulässigkeit oder bei tatsächlichen Verstößen besteht eine rechtliche Meldepflicht gegenüber den zuständigen Aufsichts- und Kartellbehörden. Unternehmen müssen interne Kontrollsysteme und Compliance-Verfahren implementieren, um Verstöße frühzeitig zu erkennen und zu melden. Verstöße gegen die Meldepflicht selbst stellen ihrerseits einen Rechtsbruch dar und können mit Bußgeldern geahndet werden. Ferner sind Unternehmen verpflichtet, im Fall behördlicher Nachfragen oder Prüfungen uneingeschränkte Auskunft zu allen relevanten Sachverhalten zu geben.