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Verlassen in hilfloser Lage


Begriff und Bedeutung: Verlassen in hilfloser Lage

Das Verlassen in hilfloser Lage ist ein zentraler Tatbestand im deutschen Strafrecht und beschreibt das Verhalten, durch das eine Person eine andere in einer konkreten und akuten Not- oder Gefahrensituation ohne notwendige Hilfe sich selbst überlässt. Wesentlich ist dabei, dass das Opfer infolge mangelnder Eigenhilfe oder aufgrund besonderer Umstände auf Unterstützung angewiesen ist und durch das Verlassen oder das Unterlassen einer erforderlichen Fürsorge in eine Gefahr für Leib oder Leben gerät.

Diese Rechtsfigur dient dem Schutz besonders hilfsbedürftiger Personen und sichert im besonderen Maße das soziale Fürsorgeprinzip des Strafrechts ab.

Gesetzliche Regelung

Strafgesetzbuch § 221 StGB

Das Verlassen in hilfloser Lage ist im § 221 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt. Der Wortlaut der Vorschrift lautet:

§ 221 StGB – Aussetzung

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(1) Wer einen Menschen in eine hilflose Lage versetzt und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

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(2) Ebenso wird bestraft, wer einen Menschen, der sich in einer hilflosen Lage befindet, im Stich lässt, obwohl er ihn zu betreuen hat oder ihn selbst in diese Lage gebracht hat.

Die Norm schützt das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Personen, die in ihrer aktuellen Situation auf die Hilfe Dritter angewiesen sind.

Tatbestandsvoraussetzungen

Hilflose Lage

Eine hilflose Lage liegt vor, wenn das Opfer sich aus eigenen Kräften nicht ausreichend gegen Gefahren für Leib oder Leben schützen kann und auf fremde Hilfe angewiesen ist. Dies ist beispielsweise bei Bewusstlosigkeit, starker Krankheit, geistigen oder körperlichen Einschränkungen, Kleinkindern oder im Falle schwerer Verletzungen gegeben.

Zugehörigkeit des Täters

Es wird unterschieden zwischen Tätern, die:

  • Betreuungsverpflichtete sind, also Personen, die aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses oder tatsächlicher Übernahme zur Fürsorge verpflichtet sind (z. B. Eltern gegenüber Kindern, Aufsichtspflichtige gegenüber Schutzbefohlenen)
  • Eine hilflose Lage herbeigeführt haben, indem sie das Opfer durch ihr Verhalten in eine entsprechende Notlage brachten

In beiden Fällen kann das Verlassen der hilflosen Person strafbar sein.

Handlung und Unterlassen

Der Tatbestand kann sowohl durch aktives Tun (zum Beispiel Weggehen von der hilflosen Person) als auch durch Unterlassen begangen werden, wenn der Täter rechtlich zur Hilfe verpflichtet ist und diese nicht erbringt (echtes Unterlassungsdelikt).

Gefahr für Leib oder Leben

Es muss durch das Verlassen eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bestehen. Eine bloße abstrakte oder entfernte Gefahr reicht nicht aus.

Abgrenzungen und Zusammenspiel mit anderen Normen

Das Verlassen in hilfloser Lage nach § 221 StGB grenzt sich ab von anderen Delikten wie etwa unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB), die bereits bei unterbliebener Hilfeleistung gegenüber jedermann strafbar ist, unabhängig von einer konkreten Verantwortlichkeit. § 221 StGB erfordert aber eine besondere Garantenstellung (Betreuungsverhältnis oder Verursachung der hilflosen Lage).

Eine überschneidende Strafbarkeit kann beispielsweise vorliegen, wenn das Verlassen in Kombination mit anderen Straftatbeständen wie Körperverletzung, Fahrlässigkeit oder Tötungsdelikten auftritt.

Selbstständige und unselbstständige Begehung

Der Tatbestand kann sowohl durch eigenständiges Verhalten (das absichtliche Verlassen zum Zwecke des Aussetzens) als auch durch fehlende Handlung (Pflichtverletzung eines Betreuers) erfüllt werden. Es reicht jedoch nicht aus, dass die hilflose Person sich selbst in diese Situation gebracht hat – der Täter muss eine relevante Verantwortlichkeit tragen.

Versuch, Fahrlässigkeit und Strafzumessung

Versuch

Der Versuch des Verlassens in hilfloser Lage ist strafbar (§ 23 StGB in Verbindung mit § 12 Abs. 1 StGB), da es sich um ein Verbrechen im Sinne des Strafrechts handelt (Mindeststrafe ein Jahr Freiheitsstrafe).

Fahrlässigkeit

Eine fahrlässige Begehungsweise ist nicht von § 221 StGB erfasst; jedoch können im Einzelfall andere Vorschriften, insbesondere bei Eintritt eines Schadens, einschlägig sein (z. B. fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung).

Strafrahmen

§ 221 Abs. 1 StGB sieht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. In besonders schweren Fällen – etwa wenn das Opfer infolge der Tat verstirbt oder sich schwere Gesundheitsschäden einstellen – ist die Strafe entsprechend erhöht (bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe). Die konkreten Strafzumessungsregeln richten sich nach den eingetretenen Folgen und individuellen Tatmerkmalen.

Subjektiver Tatbestand und Schuld

Für eine Strafbarkeit ist Vorsatz erforderlich; der Täter muss also die Umstände der hilflosen Lage erkennen und das Verlassen oder Unterlassen wünschen oder zumindest billigend in Kauf nehmen. Grobe Fahrlässigkeit genügt nicht.

Beispiele und Rechtsprechung

Typische Fallgestaltungen

  • Eltern oder Erziehungsberechtigte: lassen ein Kleinkind unüberwacht bei großer Hitze im Auto zurück
  • Pflegepersonal: unterlässt es, einen hilflosen Patienten adäquat zu betreuen und verlässt diesen entgegen der Betreuungspflicht
  • Freunde: lassen einen betrunkenen, orientierungslosen Bekannten im Winter im Freien zurück

Rechtsprechung

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte konkretisiert regelmäßig die Voraussetzungen und Abgrenzungsfragen, insbesondere im Hinblick auf die Garantenstellung, das Maß der Eigengefährdung des Opfers und die Reichweite der Betreuungspflicht.

Praxisrelevanz und Bedeutung

Die Vorschrift hat sowohl im Bereich des familiären Zusammenlebens als auch im Pflege- und Betreuungsbereich erhebliche praktische Bedeutung. Immer dann, wenn eine Person durch ein besonderes Rechtsverhältnis zur Schutzgewährung verpflichtet ist und diese Pflicht grob missachtet, droht eine erhebliche strafrechtliche Sanktion.

Abgrenzung zur unterlassenen Hilfeleistung

Während bei der unterlassenen Hilfeleistung jedermann verpflichtet ist, einem anderen in einer akuten Notlage zu helfen (sofern kein erhöhtes Eigenrisiko besteht), setzt das Verlassen in hilfloser Lage ein besonderes Näheverhältnis oder eine Mitverursachung der Notlage voraus.

Literatur und weiterführende Quellen

  • BeckOK StGB, § 221
  • Fischer, Strafgesetzbuch, Kommentar, § 221 StGB
  • LK-StGB § 221

Der Artikel bietet eine strukturierte und umfassende Darstellung des Rechtsbegriffs Verlassen in hilfloser Lage, beleuchtet alle wesentlichen strafrechtlichen Aspekte des Tatbestandes und stellt eine wertvolle Orientierung für das Rechtslexikon dar.

Häufig gestellte Fragen

Was sind die strafrechtlichen Konsequenzen bei Verlassen in hilfloser Lage?

Das Verlassen einer Person in einer hilflosen Lage ist in Deutschland gemäß § 221 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar. Strafrechtlich verfolgt werden nicht nur Personen, die aktiv eine andere Person in eine hilflose Situation bringen und sie dann zurücklassen, sondern auch diejenigen, die eine bereits hilflose Person – etwa durch Unfall, Krankheit oder andere Umstände – im Stich lassen, obwohl ihnen eine besondere Obhutspflicht gegenüber dieser Person obliegt. Die Konsequenzen reichen von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe in minder schweren Fällen. Kommt es durch das Verlassen zu einer schwerwiegenden Folge, wie einem Tod oder einer schweren Gesundheitsschädigung, erhöhen sich die Strafandrohungen entsprechend bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Neben der strafrechtlichen Ahndung drohen zusätzliche Konsequenzen wie der Entzug von Fahrerlaubnissen, Berufsverboten oder Schadensersatzansprüchen im Zivilrecht.

Wann liegt eine hilflose Lage im Sinne des Strafgesetzbuches vor?

Eine hilflose Lage ist juristisch dann gegeben, wenn die betroffene Person aufgrund von Minderjährigkeit, Krankheit, Alter, Gebrechlichkeit, Bewusstlosigkeit oder sonstigen Umständen nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu helfen oder sich vor Gefahren zu schützen. Die Entscheidung, wann eine solche Lage vorliegt, hängt maßgeblich von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und wird anhand objektiver Kriterien geprüft. Juristische Relevanz bekommt das Vorliegen der hilflosen Lage insbesondere dann, wenn die zu schützende Person auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und sich aus eigenen Kräften nicht retten kann. Das Gericht must stets prüfen, ob tatsächlich eine Schutzlosigkeit ohne fremde Unterstützung vorlag.

Gibt es unterschiedliche Formen der Tatbegehung beim Verlassen in hilfloser Lage?

Ja, das Gesetz unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Formen: Erstens, das aktive Herbeiführen der hilflosen Lage und anschließendes Verlassen (sog. „aktives Tun“), zweitens das bloße Zurücklassen einer schon hilflosen Person durch eine Person, die eine Garantenstellung innehat („Unterlassen“). Die Garantenpflicht ergibt sich beispielsweise bei Angehörigen, bei Aufsichtspersonen oder anderen aufgrund von Gesetz, Vertrag oder vorangegangenem gefährdendem Verhalten verpflichteten Personen. Entsprechend wird die Verletzung der Fürsorgepflicht genauso hart bestraft wie die bewusste Schaffung und Ausnutzung einer hilflosen Lage.

Müssen auch unbeabsichtigte Handlungen strafrechtlich verfolgt werden?

Nein, grundsätzlich setzt die Strafbarkeit nach § 221 StGB Vorsatz voraus. Das bedeutet, der Täter muss zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben, also es zumindest billigend in Kauf genommen haben, dass die zurückgelassene Person der Gefahr einer erheblichen Gesundheitsschädigung oder des Todes ausgesetzt wird. Unachtsamkeit, Fahrlässigkeit oder unbeabsichtigtes Handeln reicht nicht aus, um den Tatbestand des Verlassens in hilfloser Lage zu erfüllen. In solchen Fällen können aber andere Straftatbestände, wie fahrlässige Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen, einschlägig sein.

Welche Rolle spielt das Alter oder die Krankheit der hilflosen Person für die Strafbarkeit?

Das Alter oder die Vorerkrankung der verlassenen Person ist deshalb entscheidend, weil die Notwendigkeit besonderer Fürsorge und die objektive Hilflosigkeit maßgeblich auf diesen Faktoren beruhen kann. Besonders schutzbedürftig sind Kleinkinder, Senior*innen oder Schwerstkranke, deren Selbsthilfemöglichkeiten erheblich eingeschränkt sind. Wer solche Personen zurücklässt, handelt regelmäßig besonders verwerflich und muss mit einer konsequenteren strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Das Gericht berücksichtigt im Einzelfall, ob und inwiefern die Person tatsächlich hilflos war und ob der Täter dies erkannt hat oder erkennen musste.

Wie unterscheiden sich das Verlassen in hilfloser Lage und unterlassene Hilfeleistung?

Beide Straftatbestände überschneiden sich teilweise, unterscheiden sich aber in wesentlichen Punkten: Während das Verlassen in hilfloser Lage eine spezifische persönliche Nähe zwischen Täter und Opfer (z.B. Garantenpflicht) voraussetzt oder der Täter das Opfer selbst in die hilflose Lage gebracht hat, ist die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) ein sogenanntes Allgemeindelikt, das jedermann betrifft, der Hilfe in einer Notlage unterlässt, obwohl sie zumutbar gewesen wäre. Die Strafandrohung ist beim Verlassen in hilfloser Lage deutlich höher, die Voraussetzungen sind jedoch enger gefasst.

Können auch Organisationen oder juristische Personen belangt werden?

Juristische Personen, wie beispielsweise Pflegeeinrichtungen oder Kitas, können selbst nicht strafrechtlich belangt werden, da das Strafrecht in Deutschland grundsätzlich an natürliche Personen anknüpft. Allerdings können einzelne Verantwortliche, wie Heimleiter oder Aufsichtspersonen, zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie ihre Aufsichtspflichten verletzen und eine betreute Person in hilfloser Lage zurücklassen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann aber auch gegen die juristische Person ein Ordnungswidrigkeitenverfahren nach dem OWiG eingeleitet werden, was zu erheblichen Bußgeldern führen kann.