Begriff und Bedeutung der Vergabefremden Aspekte
Vergabefremde Aspekte sind Kriterien, Anforderungen oder Bedingungen, die in Vergabeverfahren öffentlicher Aufträge keine unmittelbare Verbindung zum Auftragsgegenstand oder zur Leistungserbringung aufweisen und deshalb bei der Zuschlagsentscheidung oder während des gesamten Vergabeprozesses grundsätzlich keine Berücksichtigung finden dürfen. Sie bilden einen zentralen Aspekt des Vergaberechts und dienen dem Schutz der Grundsätze des Wettbewerbs, der Gleichbehandlung und der Transparenz.
Rechtsgrundlagen zu vergabefremden Aspekten
Europarechtliche Vorgaben
Das europäische Vergaberecht, insbesondere durch die Richtlinien 2014/24/EU (klassische Vergaberichtlinie) und 2014/25/EU (Sektorenrichtlinie) sowie die Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), setzt verbindliche Rahmenbedingungen für die Zulässigkeit von Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Nur solche Anforderungen, die mit dem Auftragsgegenstand in unmittelbarem Zusammenhang stehen und für dessen Ausführung relevant oder erforderlich sind, finden im Vergabeverfahren rechtliche Anerkennung.
Nationale Umsetzungen
Im deutschen Vergaberecht wird die Thematik insbesondere in § 97 Absatz 2 und 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) sowie in den Vergabeverordnungen, etwa der Vergabeverordnung (VgV), konkretisiert. Diese Vorschriften betonen, dass nur auftragsbezogene und objektiv überprüfbare Kriterien für die Auswahl und Zuschlagserteilung zulässig sind. Ein Bezug zum Auftragsgegenstand („leistungsbezogene Kriterien“) ist zwingende Voraussetzung.
Abgrenzung vergabefremder von vergaberelevanten Aspekten
Vergabefremde Kriterien: Beispiele
Zu den vergabefremden Kriterien zählen zum Beispiel:
- Regional- oder lokalbezogene Bevorzugungen (z.B. Sitz der Firma in einer bestimmten Stadt)
- Anforderungen, die auf die wirtschaftliche Situation eines Bieters außerhalb der Leistungsfähigkeit für den konkreten Auftrag abzielen
- Politische, religiöse, weltanschauliche oder Gemeinwohl-bezogene Ziele, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen
- Beschäftigung bestimmter Personengruppen ohne Bezug zum Auftrag
Vergaberelevante Kriterien: Abgrenzung
Demgegenüber sind insbesondere folgende Kriterien als vergaberelevant zulässig:
- Qualitätsanforderungen an die zu erbringende Leistung
- Umweltbezogene oder soziale Anforderungen, soweit sie in einem objektiv nachvollziehbaren sachlichen Bezug zum Auftrag stehen (§ 34 VgV, § 97 Abs. 3 GWB)
- Wirtschaftliche Kriterien wie Preis, Folgekosten, Innovation und Funktionalität
Die Abgrenzung erfolgt stets einzelfallbezogen und unter Berücksichtigung der neusten Rechtsprechung sowie unter Beachtung des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots.
Rechtsprechung zu vergabefremden Aspekten
Mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sowie innerstaatlicher Gerichte haben die Zulässigkeit beziehungsweise Unzulässigkeit bestimmter Kriterien in Vergabeverfahren konkretisiert. Herausragend sind beispielsweise:
- EuGH, Urteil vom 17.09.2002 – C-513/99 (Concordia Bus Finland): Soziale und umweltbezogene Anforderungen können vergaberelevant sein, wenn ein sachlicher Bezug zum Auftragsgegenstand vorliegt.
- EuGH, Urteil vom 21.03.2019 – C-216/17 (Fondul Proprietatea): Die Bedingung einer bestimmten regionalen Ansässigkeit der Bieter verstößt gegen das EU-Vergaberecht und stellt ein vergabefremdes Kriterium dar.
In der nationalen Rechtsprechung wird regelmäßig betont, dass Kriterien wie etwa die Spende an eine örtliche Institution bei der Bewertung von Angeboten genauso wenig berücksichtigt werden dürfen wie etwaiger politischer Einfluss.
Folgen der Berücksichtigung vergabefremder Aspekte
Rechtliche Konsequenzen
Die Einbeziehung vergabefremder Aspekte kann schwerwiegende rechtliche Folgen nach sich ziehen:
- Anfechtbarkeit der Vergabe: Betroffene Unternehmen können Nachprüfungsanträge stellen und die Vergabeentscheidung vor den Vergabekammern angreifen.
- Nichtigkeit des Vertrags: Im Falle eines schwerwiegenden Verstoßes gegen Vergabevorschriften kann dies die Nichtigkeit des abgeschlossenen Vertrags zur Folge haben (§ 134 BGB in Verbindung mit vergaberechtlichen Vorschriften).
- Schadensersatzansprüche: Nachteilige Bieter können unter bestimmten Voraussetzungen Schadensersatz beanspruchen.
Praktische Auswirkungen
Vergabefremde Kriterien führen zu Wettbewerbsverzerrungen sowie zu einer Einschränkung des Kreises potentieller Bieter. Sie gefährden die Transparenz des Vergabeverfahrens und unterminieren das Vertrauen in das öffentliche Auftragswesen.
Ausnahmen und Entwicklungen
Zulässige Berücksichtigung sozialer und umweltbezogener Aspekte
Durch die europäischen und nationalen Gesetzgebungen wurde der Begriff des „vergabefremden Aspekts“ in jüngerer Zeit modifiziert. Soziale, ökologische und innovative Anforderungen dürfen – sofern sie einen hinreichenden Bezug zum Auftragsgegenstand aufweisen – in das Vergabeverfahren einbezogen werden. Dies betrifft insbesondere:
- Umweltfreundliche Produktanforderungen (z.B. Energieeffizienz)
- Soziale Vorgaben wie die Förderung der Chancengleichheit oder die Einhaltung von Tariflöhnen, soweit im Zusammenhang mit der Leistungserbringung
Neue Entwicklungen durch Rechtsprechung und Gesetzgebung
Die fortschreitende Rechtsprechung und die regelmäßige Reform des nationalen und europäischen Vergaberechts führen zu einer sukzessiven Präzisierung der Abgrenzungsmerkmale zwischen vergabefremden und zulässigen Kriterien. Insbesondere die Zielsetzung, öffentliche Einkäufe als Hebel für nachhaltige Entwicklung oder den sozialen Zusammenhalt zu nutzen, gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Zusammenfassung
Vergabefremde Aspekte bilden eine zentrale Grenze im Vergaberecht, deren Missachtung zu gravierenden rechtlichen Konsequenzen führen kann. Die genaue Abgrenzung ist regelmäßig Gegenstand der Rechtsprechung und wird im Lichte aktueller rechtlicher Entwicklungen ständig präzisiert. Eine sorgfältige Prüfung der Vergabekriterien ist daher unerlässlich, um die Grundprinzipien von Wettbewerb, Transparenz und Gleichbehandlung im öffentlichen Auftragswesen zu sichern.
Häufig gestellte Fragen
Müssen vergabefremde Aspekte in den Vergabeunterlagen berücksichtigt werden?
Vergabefremde Aspekte dürfen grundsätzlich nicht Bestandteil der Vergabeunterlagen sein, sofern sie keinen unmittelbaren Bezug zum Auftragsgegenstand und den vergaberechtlich zulässigen Wertungskriterien aufweisen. Das europäische und nationale Vergaberecht unterscheidet klar zwischen vergaberelevanten und vergabefremden Anforderungen. Anforderungen, die nicht unmittelbar der Qualität, Wirtschaftlichkeit oder Eignung des Angebots dienen, gelten als vergabefremd. Ausnahmen gelten nur dann, wenn gesetzliche Regelungen explizit die Berücksichtigung beispielsweise sozialer, ökologischer oder innovativer Kriterien vorsehen und diese transparent und diskriminierungsfrei in die Vergabeunterlagen aufgenommen werden. Eine nicht sachbezogene Berücksichtigung vergabefremder Aspekte kann zur Vergaberechtswidrigkeit und gegebenenfalls zur Anfechtbarkeit der Vergabe führen.
Dürfen öffentliche Auftraggeber soziale oder ökologische Ziele im Vergabeverfahren verfolgen, ohne gegen das Vergaberecht zu verstoßen?
Ja, öffentliche Auftraggeber dürfen unter bestimmten Voraussetzungen soziale oder ökologische Ziele im Vergabeverfahren verfolgen, jedoch nur soweit diese innerhalb des rechtlich zulässigen Rahmens erfolgen. Hierbei sind insbesondere die §§ 97 Abs. 3 GWB sowie das Prinzip der produktneutralen Ausschreibung zu beachten. So ist es beispielsweise nach § 34 Abs. 1 VgV zulässig, umweltbezogene oder sozialpolitische Kriterien als Zuschlagskriterien oder Ausführungsbedingungen zu formulieren, sofern sie einen sachlichen Bezug zum Auftragsgegenstand haben und nicht zu einer unzulässigen Diskriminierung führen. Die Anforderungen müssen transparent, klar und für alle Bieter vorhersehbar mitgeteilt werden. Eine rein symbolische Berücksichtigung ohne Bezug zum Auftragsgegenstand bleibt weiterhin vergabefremd und ist nicht statthaft.
Welche Rechtsfolgen drohen bei der Beachtung vergabefremder Aspekte im Vergabeverfahren?
Werden vergabefremde Aspekte bei der Wertung von Angeboten oder der Festlegung von Eignungskriterien berücksichtigt, drohen erhebliche rechtliche Konsequenzen. Das Angebot kann als mangelhaft oder nicht wertbar angesehen werden. Im schlimmsten Fall besteht das Risiko der Nachprüfung durch Vergabekammern oder das Oberlandesgericht, die im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens gemäß §§ 155 ff. GWB Fehler im Vergabeverfahren feststellen und Sanktionen verhängen können, die von der Korrektur einzelner Vergabeschritte bis hin zur kompletten Aufhebung der Ausschreibung reichen. Darüber hinaus besteht Schadensersatzpotenzial zugunsten benachteiligter Bieter, die durch eine unzulässige Einbeziehung vergabefremder Erwägungen von der Vergabe ausgeschlossen wurden.
Wie wird in Rechtsprechung und Literatur der Begriff „vergabefremd“ rechtlich abgegrenzt?
In Rechtsprechung und vergaberechtlicher Literatur wird „vergabefremd“ als Anforderungen oder Bedingungen definiert, die keinen unmittelbaren Bezug zum ausgeschriebenen Leistungsgegenstand oder zu den gesetzlich zulässigen Zuschlagskriterien aufweisen. Die Abgrenzung erfolgt somit über die Prüfung, ob eine Anforderung sachlich und objektiv mit dem öffentlichen Auftragsziel verbunden ist. Das OLG Düsseldorf und der EuGH legen hierbei strenge Maßstäbe an und betonen, dass selbst gut gemeinte, aber nicht sachbezogene oder nicht ausreichend begründete Vorgaben unzulässig sind. Die vergaberechtliche Verpflichtung zur sachlich-funktionalen Ausrichtung des Vergabeverfahrens gebietet, dass jede Anforderung auf ihre Erforderlichkeit und Rechtmäßigkeit geprüft wird.
Können vergabefremde Aspekte als Nachforderung im laufenden Vergabeverfahren verlangt werden?
Nein, vergabefremde Aspekte dürfen zu keinem Zeitpunkt im Vergabeverfahren nachgefordert oder nachträglich eingeführt werden. Die Nachforderungspflicht oder das Nachforderungsrecht aus § 56 VgV beziehen sich ausschließlich auf vergaberelevante Erklärungen, Unterlagen und Nachweise. Eine spätere Ergänzung um vergabefremde Anforderungen wäre ebenso wie deren erstmalige Berücksichtigung im laufenden Verfahren vergaberechtswidrig und kann zur Aufhebung oder Beanstandung des Verfahrens führen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Aspekte vermeintlich im öffentlichen Interesse liegen.
Wie unterscheidet sich die Behandlung vergabefremder Aspekte auf EU-Ebene von der deutschen Rechtslage?
Auf EU-Ebene, insbesondere in der Richtlinie 2014/24/EU, sind die Grundsätze Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung ebenso wie im deutschen Recht maßgeblich. Beide Rechtsordnungen erlauben unter bestimmten engen Voraussetzungen die Berücksichtigung sogenannter „Qualitätskriterien“ oder „zuschlagsfremder“ Aspekte, sofern diese konkret mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Die Richtlinie schreibt keine grundsätzliche Öffnung für sachfremde Aspekte vor, sondern verlangt vielmehr eine strikte Bindung an den Leistungsgegenstand – analog zur restriktiven deutschen Rechtsprechung. Nationale Interpretationen dürfen die Vorgaben der EU nicht unterlaufen; vielmehr greift im Streitfall das europäische Recht als verbindlicher Maßstab.