Begriff und rechtliche Einordnung des Urkundenprozesses
Der Urkundenprozess ist ein besonderes Verfahrensrecht im deutschen Zivilprozess, das im Wesentlichen durch die §§ 592 bis 605 der Zivilprozessordnung (ZPO) geregelt wird. Kennzeichnend für diese Prozessart ist, dass der Kläger seinen Anspruch ausschließlich auf Urkunden oder öffentliche Register stützen kann. Das Verfahren dient der schnellen Durchsetzung von Ansprüchen, deren Bestehen und Umfang sich eindeutig aus schriftlichen Dokumenten ergeben.
Historische Entwicklung
Die historischen Wurzeln des Urkundenprozesses liegen im deutschen Zivilprozessrecht des 19. Jahrhunderts. Die Verfahrensvorschriften wurden geschaffen, um Prozesse zu beschleunigen und die Justiz im Massengeschäft entlasten. Mit der Reichszivilprozessordnung von 1877 erfuhr der Urkundenprozess seine erste systematische Kodifizierung, die bis heute – nach mehreren Reformen – im Wesentlichen erhalten geblieben ist.
Zulässigkeit und Anwendungsbereich des Urkundenprozesses
Grundvoraussetzungen
Für die Zulässigkeit eines Urkundenprozesses nach § 592 ZPO müssen folgende Voraussetzungen vorliegen:
- Streitfall ist eine Zahlung von Geld, Lieferung von vertretbaren Sachen oder Wertpapieren.
- Der geltend gemachte Anspruch lässt sich durch Urkunden oder öffentliche Register belegen.
Nicht zulässig ist der Urkundenprozess für Ansprüche auf unbewegliche Sachen (Immobilien) oder nicht vertretbare Sachen.
Bedeutung der Urkunde
Eine Urkunde im Sinne des Urkundenprozesses ist jede Verkörperung einer Gedankenerklärung in einer zur dauerhaften Wahrnehmung geeigneten Form. Dazu zählen
- Privaturkunden (z.B. Verträge, Quittungen),
- öffentliche Urkunden (z.B. notarielle Urkunden, Grundbuchauszüge),
- schriftliche Anerkenntnisse und Auszüge aus öffentlichen Registern.
Die Urkunde muss den Streitgegenstand nach Inhalt und Umfang vollständig abdecken. Ausnahmen bestehen, wenn ein Rest durch eine eidesstattliche Versicherung (§ 294 ZPO analog) belegt wird.
Ablauf des Urkundenprozesses
Klageerhebung und Schriftsatz
Bei Erhebung der Klage (§ 592 ZPO) muss der Kläger ausdrücklich kenntlich machen, dass das Verfahren als Urkundenprozess durchgeführt werden soll. Sämtliche den Anspruch begründenden Urkunden sind der Klageschrift beizufügen.
Verteidigungsmöglichkeiten des Beklagten
Der Beklagte kann im Urkundenprozess Einreden oder Einwendungen vorbringen, soweit diese ebenfalls urkundlich belegt oder unstreitig sind. Weitere Beweismittel sind im Kernverfahren nicht zulässig; Kontradiktorische Beweisaufnahme (insbesondere Zeugenbeweis) findet in der ersten Instanz nicht statt.
Urteil und weitere Verfahrensschritte
Wird die Klage durch die Urkundenvorlage schlüssig begründet, spricht das Gericht ein Urteil im Urkundenprozess (§ 595 ZPO). Dieses Urteil ist jedoch grundsätzlich nicht vollstreckbar, es sei denn, der Beklagte verzichtet auf das Nachverfahren (§ 599 Abs. 1 ZPO).
Will der Beklagte weiterhin gegen den Anspruch vorgehen, kann er binnen zwei Wochen nach Zustellung des Urteils das sogenannte Nachverfahren (ordentliches Verfahren) beantragen (§ 599 Abs. 2 ZPO), in dem dann alle Beweismittel zugelassen und sämtliche Einwendungen geltend gemacht werden können.
Besonderheiten und praktische Bedeutung
Vorteil und Zweck des Urkundenprozesses
Der Urkundenprozess bietet eine erhebliche Beschleunigung für den Kläger, wenn der Sachverhalt eindeutig durch Schriftstücke nachweisbar ist. Die Justiz wird entlastet, aufwändige Beweisaufnahmen entfallen im ersten Verfahrensschritt. Das Risiko einer abschließenden Entscheidung ohne umfassende Beweisaufnahme besteht hingegen für beide Parteien nicht, da im Nachverfahren sämtliche Verteidigungsrechte gewahrt bleiben.
Nachteile und Beschränkungen
Nicht geeignet ist der Urkundenprozess bei unvollständiger oder fehlender Dokumentation des Anspruchs oder bei Ansprüchen aus Rechtsverhältnissen, die regelmäßig individuellen Beweis erfordern (etwa Werklohnforderungen ohne schriftliche Abnahme).
Eine Verschleppung der Rechtskraft kann erfolgen, wenn regelmäßig ein Nachverfahren beantragt wird. Tatsächlich wird ein Großteil der Urkundenprozesse daher nicht mit sofortiger Rechtskraft abgeschlossen.
Abgrenzungen zu anderen Verfahren
Unterschied zum Mahnverfahren
Im Gegensatz zum Mahnverfahren nach §§ 688 ff. ZPO verlangt der Urkundenprozess von Beginn an substantielle Urkundenvorlage und gibt dem Beklagten die Möglichkeit einer inhaltlichen Verteidigung.
Verhältnis zu anderen Beweisverfahren
Der Urkundenprozess ist nicht mit dem Urkundsbeweis (§ 415 ZPO) zu verwechseln. Er ist vielmehr ein Sonderfall der Klageerhebung, in der ausschließlich der Urkundsbeweis als zulässiges Beweismittel zur Verfügung steht.
Gerichtliche Kosten, Rechtsschutz und Rechtsmittel
Gerichtskosten
Die Kostenregelung richtet sich, wie im normalen Zivilprozess, nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) und dem Gerichtskostengesetz (GKG). Endet der Urkundenprozess mit einem Urteil, so lösen sich die Instanzkosten vollständig aus. Im Nachverfahren fallen zusätzliche gerichtliche Kosten an.
Rechtsmittel
Gegen das Urteil im Urkundenprozess ist wie in gewöhnlichen Verfahren die Berufung zulässig, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind. Im Nachverfahren sind ebenfalls die üblichen Rechtsmittel möglich.
Literatur und Quellen zum Urkundenprozess
- ZPO §§ 592-605: Texte und Kommentare
- Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, aktuelle Auflage
- Musielak/Voit, Zivilprozessordnung, aktuelle Auflage
- Reichold, Der Urkundenprozess – Entwicklung und Gegenwart, NJW Archiv
Hinweis: Der Urkundenprozess ist ein komplexes Instrument des deutschen Zivilprozessrechts. Die Einschätzung, ob diese Verfahrensart im Einzelfall sinnvoll oder zulässig ist, erfordert stets eine sorgfältige Prüfung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen sowie der konkreten Anspruchsgrundlage.
Häufig gestellte Fragen
Welche Arten von Urkunden gelten im Urkundenprozess als beweistauglich?
Im Urkundenprozess können nur solche Urkunden als Grundlage des Anspruchs dienen, die den strengen Anforderungen der Zivilprozessordnung entsprechen. Hierzu zählen insbesondere öffentliche und private Urkunden, aus denen sich der geltend gemachte Anspruch unmittelbar ergibt (§ 592 ZPO). Öffentliche Urkunden, wie sie z. B. von Notaren, Behörden oder Gerichten ausgestellt werden, genießen einen erhöhten Beweiswert hinsichtlich der Beurkundung von Tatsachen. Private Urkunden, wie Verträge, Schuldscheine oder Quittungen, entfalten ihren Beweiswert vor allem durch die Unterschrift des Ausstellers. Nicht anerkannt werden reine Parteibehauptungen, eidesstattliche Versicherungen, Kopien ohne Vorlage des Originals oder elektronische Dokumente ohne qualifizierte elektronische Signatur. Weiterhin ausgeschlossen sind Augenscheinsobjekte, Sachverständigengutachten oder Zeugenbeweise, weshalb der Urkundenprozess vornehmlich bei klar geregelten und dokumentierten Forderungen genutzt wird.
Welche Besonderheiten bestehen hinsichtlich der Klageerhebung im Urkundenprozess?
Bereits bei der Erhebung der Klage sind besondere, formale Voraussetzungen zu beachten, damit das Gericht das Verfahren als Urkundenprozess zulässt (§ 592 f. ZPO). Der Kläger muss ausdrücklich angeben, dass der Rechtsstreit im Urkundenprozess geführt werden soll, und sämtliche beweisführende Urkunden als Anlagen beifügen oder zumindest konkret bezeichnen. Fehlt dieser ausdrückliche Antrag oder werden unzulässige Beweismittel angeboten, behandelt das Gericht die Sache als regulären Zivilprozess weiter. Wichtig ist ferner, dass der Klageantrag auf eine Leistung gerichtet sein muss, nicht jedoch auf Feststellung oder Gestaltung. Ergänzend prüft das Gericht bereits bei Klageerhebung, ob der geltend gemachte Anspruch überhaupt „urkundsbeweislich“ geführt werden kann, andernfalls erfolgt eine Umstellung ins normale Verfahren.
Welche Möglichkeiten hat der Beklagte, sich im Urkundenprozess zu verteidigen?
Der Beklagte ist im Urkundenprozess hinsichtlich seiner Verteidigungsmöglichkeiten stark limitiert. Er kann lediglich mit solchen Einwendungen gehört werden, die er ihrerseits urkundlich belegen kann oder die rein rechtlicher Natur sind (§ 595 Abs. 2 ZPO). Materielle Einwendungen, wie z.B. die Bestreitung der Echtheit einer Urkunde, können im Hauptsacheverfahren vorgebracht werden, führen jedoch nicht zur sofortigen Abweisung im Urkundenprozess. Gründe wie Stundung, Erlass oder Erfüllung müssen urkundlich nachgewiesen werden, ansonsten werden sie in diesem Verfahrensstadium nicht berücksichtigt. Eine Berufung auf mündliche Absprachen ohne Beweis durch Urkunde bleibt ebenfalls unbeachtlich, was den Urkundenprozess gerade für Ansprüche attraktiv macht, die auf klarer Dokumentenlage beruhen.
Was passiert nach dem Schlussurteil im Urkundenprozess?
Nach Erlass des Urkundenprozesses ergeht auf Antrag des Klägers ein Vorbehaltsurteil (§ 599 ZPO). Das bedeutet, das Urteil erklärt sich für vorläufig vollstreckbar, enthält aber einen Vorbehalt zugunsten des Beklagten, der es ihm ermöglicht, im Nachverfahren (dem sogenannten Nachverfahren oder ordentlichen Verfahren) Einwendungen vorzubringen, die im Urkundenprozess ausgeschlossen waren. Das Nachverfahren ist keine Fortsetzung im engeren Sinne, sondern eröffnet dem Beklagten eine neue Verteidigungsmöglichkeit, insbesondere durch Zeugenbeweise oder Sachverständigengutachten. Im Nachverfahren entscheidet das Gericht erneut über den Anspruch und kann das Vorbehaltsurteil ganz oder teilweise aufheben.
Wie ist die Rechtsmittelmöglichkeit im Urkundenprozess geregelt?
Gegen das Vorbehaltsurteil eines Urkundenprozesses steht den Parteien das Rechtsmittel der Berufung offen, sofern die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind (§ 511 ZPO). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Berufungsbegründung im Rahmen des Urkundenprozesses wiederum auf urkundliche Beweismittel beschränkt bleibt. Neue Beweismittel wie Zeugen oder Sachverständigenbeweis können erst im Nachverfahren eingebracht werden. Ein weiteres Rechtsmittel besteht darin, dass sich der unterlegene Beklagte durch das Nachverfahren gegen das Vorbehaltsurteil verteidigt. Dort sind dann sämtliche Einwendungen und Beweismittel zulässig, die im Urkundenverfahren ausgeschlossen waren.
Welche Kostenrisiken birgt der Urkundenprozess für die Parteien?
Das Kostenrisiko im Urkundenprozess entspricht weitgehend dem eines gewöhnlichen Zivilprozesses: Die unterliegende Partei hat die Prozesskosten zu tragen, einschließlich der Gerichts- und Anwaltsgebühren (§ 91 ZPO). Kommt es zum Nachverfahren, so handelt es sich rechtlich zwar um einen Fortgang des Rechtsstreits, gebührenrechtlich wird dieses aber in der Regel als eine neue Instanz angesehen, was zu zusätzlichen Gebühren führen kann. Wird der ursprünglich obsiegende Kläger im Nachverfahren unterlegen, sind die Kosten des Verfahrens neu zu verteilen. Parteien sollten daher abwägen, ob die Beschränkung auf Urkundenbeweise tatsächlich zu einer zügigeren, kostengünstigeren Erledigung führt oder ob das Nachverfahren mit umfangreichen Kostenfolgen notwendig wird.
In welchen Fällen ist der Urkundenprozess besonders empfehlenswert?
Der Urkundenprozess ist insbesondere dann empfehlenswert, wenn der Kläger im Besitz aller für die Anspruchsbegründung notwendigen Urkunden ist und damit eine schnelle, gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs angestrebt wird. Typische Fallgestaltungen sind die Geltendmachung von Ansprüchen aus Schuldscheinen, Schecks, Wechseln, Quittungen sowie notariellen Schuldanerkenntnissen. Auch Ansprüche aus Miet-, Pacht- oder Leasingverträgen bieten sich an, sofern die Vertragsunterlagen alle maßgeblichen Abreden enthalten. Ist jedoch absehbar, dass komplexe oder strittige Sachverhalte, die einer Beweisaufnahme durch Zeugen oder Sachverständige bedürfen, entscheidungserheblich sind, sollte vom Urkundenprozess Abstand genommen werden.