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Urabstimmung


Begriff und Rechtsnatur der Urabstimmung

Die Urabstimmung ist ein rechtlich geregeltes Instrument der kollektiven Willensbildung innerhalb von Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen im deutschen Arbeitsrecht. Sie stellt ein direktdemokratisches Verfahren dar, mittels dessen die Mitglieder einer Gewerkschaft über wesentliche Angelegenheiten-insbesondere über Arbeitskampfmaßnahmen wie Streik oder Annahme von Verhandlungsergebnissen-entscheidend befragt werden. Die Urabstimmung besitzt eine verbindliche Wirkung für die handelnden Organe und hat weitreichende rechtliche Konsequenzen sowohl für die Gewerkschaftsmitglieder als auch für die beteiligten Arbeitgeber.

Rechtsgrundlagen der Urabstimmung

Gesetzliche Basis

Das Verfahren der Urabstimmung ist in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich nicht im Detail geregelt. Die rechtlichen Grundlagen ergeben sich jedoch aus dem Tarifvertragsgesetz (TVG), dem Grundgesetz (Artikel 9 Abs. 3 GG-Koalitionsfreiheit) sowie aus gewerkschaftsinternen Satzungen und Geschäftsordnungen. Insbesondere die politische und rechtliche Bedeutung der Urabstimmung ergibt sich aus der Autonomie der Tarifparteien und der Sicherung ihrer internen Demokratie.

Gewerkschaftssatzungen

Die konkrete Ausgestaltung und Durchführung der Urabstimmung ist regelmäßig in den Satzungen der jeweiligen Gewerkschaften normiert. Dabei enthalten die Satzungen u.a. Bestimmungen zu:

  • Anlass und Zulässigkeit der Urabstimmung
  • Einleitung und Durchführung des Verfahrens
  • Stimmrechtsberechtigung
  • Form und Frist der Stimmabgabe
  • Erforderliche Mehrheiten

Anwendungsbereiche der Urabstimmung

Arbeitskampfmaßnahmen

Die häufigste Anwendung findet die Urabstimmung vor der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen, vor allem beim Streik. Nach den Regeln der größten deutschen Gewerkschaften, etwa der IG Metall oder ver.di, wird ein Streik grundsätzlich erst dann durchgeführt, wenn eine Urabstimmung unter den betroffenen Mitgliedern erfolgt ist und eine qualifizierte Mehrheit-häufig mindestens 75 % der abgegebenen Stimmen-für den Arbeitskampf stimmt.

Annahme von Verhandlungsergebnissen

Auch nach Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden kann eine Urabstimmung zur Annahme oder Ablehnung eines erzielten Tarifabschlusses durchgeführt werden. Damit wird sichergestellt, dass die betroffenen Mitglieder an den Ergebnissen direkt beteiligt sind.

Weitere Fälle direkter Mitbestimmung

Neben den genannten Hauptanwendungsfällen kann die Urabstimmung in manchen Gewerkschaften bei weiteren bedeutenden organisatorischen oder politischen Entscheidungen durchgeführt werden, sofern die jeweilige Satzung dies vorsieht.

Rechtliche Bedeutung und Wirkung der Urabstimmung

Bindungswirkung

Das Ergebnis einer ordnungsgemäß durchgeführten Urabstimmung bindet die Organe der Gewerkschaft und verpflichtet diese, entsprechend dem Mitgliederwillen zu handeln. Damit ist gewährleistet, dass weitreichende Maßnahmen und Entscheidungen nicht ohne die Zustimmung der Basis getroffen werden.

Verhältnis zum individuellen Arbeitsvertrag

Für die einzelnen Mitglieder ergibt sich aus der Teilnahme an der Urabstimmung und ggf. einer darauffolgenden Arbeitskampfmaßnahme eine besondere Rechtsposition. Beschäftigte, die sich auf Basis einer gewerkschaftlich organisierten Urabstimmung an einem Streik beteiligen, handeln in der Regel rechtmäßig (§ 2 Abs. 2 TVG). Dies umfasst den Schutz vor arbeitsrechtlichen Sanktionen wie Abmahnung oder Kündigung wegen Streikteilnahme, sofern der Arbeitskampf selbst rechtmäßig war.

Verhältnis zu Dritten

Auch für Arbeitgeber hat das Ergebnis einer Urabstimmung rechtliche Bedeutung, da es die Zulässigkeit und Legitimation eines nachfolgenden Arbeitskampfes beeinflusst. Ein Streik ohne vorangegangene Urabstimmung kann im Einzelfall als rechtswidrig beurteilt werden, wenn die Satzung der Gewerkschaft oder die einschlägigen tariflichen Bestimmungen eine solche Abstimmung zwingend vorsehen.

Verfahren der Urabstimmung

Einleitung

Das Verfahren zur Urabstimmung beginnt mit dem Beschluss des zuständigen Gremiums der Gewerkschaft, in der Regel der Tarifkommission oder eines Vorstandes. Dies geschieht typischerweise dann, wenn die Verhandlungen mit den Arbeitgebern gescheitert sind oder ein wesentlicher Beschluss von besonderer Tragweite ansteht.

Durchführung

Die Durchführung erfolgt im Rahmen einer geheimen Abstimmung unter allen stimmberechtigten Mitgliedern, die vom Regelungsgegenstand maßgeblich betroffen sind. Die Organisation und Überwachung obliegt den satzungsgemäßen Gremien der Gewerkschaft.

Erforderliche Mehrheit

Regelmäßig verlangen die Satzungen eine qualifizierte Mehrheit. Für Streikbeschlüsse wird typischerweise die Zustimmung von mindestens 75 % der abgegebenen Stimmen verlangt, während für die Annahme von Verhandlungsergebnissen meist einfache Mehrheiten genügen.

Bekanntgabe des Ergebnisses

Das Ergebnis der Urabstimmung wird den Mitgliedern zeitnah und transparent mitgeteilt. Die Umsetzung obliegt wiederum den verantwortlichen Organen der Gewerkschaft.

Rechtsschutz und Anfechtung der Urabstimmung

Interne Kontrollmechanismen

Die satzungsmäßigen Vorschriften enthalten regelmäßig Kontroll- und Beschwerdemechanismen, um mögliche Verstöße gegen die Formalien oder Manipulationen zu verhindern. Bei Verstößen gegen das satzungsgemäße Verfahren kann die Wirksamkeit einer Urabstimmung innerhalb der Gewerkschaft angefochten werden.

Externer Rechtsschutz

Die Rechtmäßigkeit einer Urabstimmung und der daraufhin ergriffenen Maßnahmen kann Gegenstand arbeitsgerichtlicher Überprüfung sein. Vor allem Arbeitgeber haben die Möglichkeit, die Rechte aus einer Urabstimmung vor den Arbeitsgerichten überprüfen zu lassen, insbesondere wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abstimmung oder der darauf beruhenden Arbeitskampfmaßnahme bestehen.

Abgrenzung zur betrieblichen Abstimmung

Die Urabstimmung ist abzugrenzen von betrieblichen Abstimmungen, wie sie beispielsweise im Rahmen von Betriebsratswahlen oder Sozialplanabstimmungen stattfinden. Während Urabstimmungen gewerkschaftsintern und satzungsmäßig geregelt sind, erfolgen betriebliche Abstimmungen auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) und unterliegen anderen gesetzlichen Voraussetzungen.

Zusammenfassung

Die Urabstimmung ist ein zentrales rechtsstaatliches Instrument im deutschen Arbeitskampfrecht und in der Tarifautonomie. Ihre Durchführung stellt die demokratische Legitimation gewerkschaftlicher Entscheidungen sicher und verleiht insbesondere Arbeitskampfmaßnahmen eine hohe Akzeptanz und Rechtssicherheit. Die rechtliche Bindungswirkung, die qualifizierten Mehrheiten und die ausführlichen Satzungsregelungen heben die Urabstimmung als bedeutenden Mechanismus der unmittelbaren Willensbildung und Rechtsausübung innerhalb der Arbeitnehmerschaft hervor.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist zur Teilnahme an einer Urabstimmung berechtigt?

Zur Teilnahme an einer Urabstimmung sind grundsätzlich alle Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft oder Organisation berechtigt, die von dem Inhalt der Urabstimmung betroffen sind. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen demokratischen Grundsatz der innergewerkschaftlichen Willensbildung sowie aus den jeweiligen Satzungen der Gewerkschaften, die das Verfahren näher regeln. Juristisch ist zu beachten, dass Nichtmitglieder kein Stimmrecht besitzen, es sei denn, dies wird ausdrücklich durch die Satzung bestimmt. Die Stimmberechtigung beginnt grundsätzlich mit dem Eintritt in die Gewerkschaft und ist weder an eine Mindesmitgliedsdauer noch an die Zahlung eines bestimmten Beitrags gekoppelt, sofern die Satzung keine abweichenden Regelungen vorsieht. Der Kreis der Stimmberechtigten muss vor Durchführung der Urabstimmung eindeutig bestimmt sein, um die Rechtmäßigkeit des Abstimmungsergebnisses sicherzustellen und potenziellen Anfechtungen vorzubeugen.

Müssen die Formalien einer Urabstimmung schriftlich festgelegt werden?

Ja, die Formalien einer Urabstimmung sind sowohl aus rechtlichen als auch aus organisatorischen Gründen schriftlich festzulegen. Die maßgeblichen Regelungen finden sich vorrangig in der jeweiligen Satzung oder Geschäftsordnung der Organisation. Dort werden insbesondere Form, Ablauf, Fristen, notwendige Mehrheiten und das Verfahren zur Auszählung bestimmt. Eine fehlende oder unklare Festlegung kann zur Anfechtbarkeit der Urabstimmung führen. Die schriftliche Fixierung dient der Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Rechtsicherheit, da sie im Streitfall als Beweismittel herangezogen werden kann. Darüber hinaus schreiben manche Landesgesetze oder tarifvertragliche Regelungen konkrete Verfahrensanforderungen vor, die in jedem Fall einzuhalten sind.

Welche Mehrheit ist für das Zustandekommen einer Urabstimmungsentscheidung erforderlich?

Die für das Zustandekommen einer Entscheidung bei einer Urabstimmung erforderliche Mehrheit richtet sich nach den jeweiligen satzungsgemäßen Regelungen der Gewerkschaft oder Organisation. Im Arbeitskampfrecht gilt nach § 2 Abs. 2 der Satzung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) beispielsweise häufig das sogenannte Quorum von mindestens 75 % der abgegebenen gültigen Stimmen für einen Streikbeschluss. Andere Urabstimmungen, etwa zu Organisationsfragen, können hingegen mit einfacher Mehrheit, qualifizierter oder absoluter Mehrheit beschlossen werden. Es ist rechtlich zwingend erforderlich, die jeweilige Mehrheit im Vorfeld eindeutig festzulegen, da eine Unklarheit auch nach Rechtsgrundsätzen der Satzungsauslegung (vgl. § 133, 157 BGB analog) zur Nichtigkeit des Abstimmungsergebnisses führen kann.

In welcher Form muss das Ergebnis einer Urabstimmung dokumentiert werden?

Das Ergebnis einer Urabstimmung ist nach geltendem Recht und dem Grundsatz ordnungsgemäßer Geschäftsführung nachweisbar und nachvollziehbar zu dokumentieren. In der Regel erfolgt dies durch ein schriftliches Protokoll, das den Abstimmungsgegenstand, das Abstimmungsdatum, die Zahl der anwesenden Stimmberechtigten, die konkrete Stimmenverteilung (dafür/dagegen/Enthaltungen) sowie das Endergebnis enthält. Das Protokoll muss von den hierfür vorgesehenen Personen (z. B. Wahlvorstand, Vorstand, oder eine andere satzungsmäßige Instanz) unterzeichnet werden und sollte allen Mitgliedern zugänglich gemacht werden. Fehlende oder fehlerhafte Protokollierung kann den Bestand des Urabstimmungsergebnisses gefährden und bietet Angriffsfläche für eventuelle Rechtsstreitigkeiten im Rahmen einer Anfechtung.

Können Urabstimmungen rechtlich angefochten werden?

Ja, Urabstimmungen können rechtlich angefochten werden, wenn formale Fehler oder Verstöße gegen die maßgebliche Satzung oder geltende Rechtsvorschriften vorliegen. Die Anfechtung erfolgt typischerweise durch betroffene Mitglieder auf Grundlage der allgemeinen Anfechtungsregeln des Vereinsrechts (§ 32 BGB analog) beziehungsweise entsprechender Satzungsbestimmungen. Gründe für eine Anfechtung können unter anderem die fehlerhafte Bestimmung des stimmberechtigten Personenkreises, Unregelmäßigkeiten im Abstimmungsverfahren, mangelnde Information der Mitglieder, Unklarheiten im Abstimmungsgegenstand oder Verstöße gegen bestehende Mehrheitsanforderungen sein. Die Frist zur Anfechtung und das einzuhaltende Verfahren richten sich nach den Bestimmungen der jeweiligen Organisation. Kommt es zu einer erfolgreichen Anfechtung, ist das Abstimmungsergebnis rechtsunwirksam und die Urabstimmung muss im Regelfall wiederholt werden.

Welche rechtlichen Konsequenzen hat das Ergebnis einer Urabstimmung?

Das Ergebnis einer ordnungsgemäß durchgeführten Urabstimmung ist für die Organisation, ihre Mitglieder und z. T. auch für außenstehende Dritte verbindlich, sofern satzungsgemäße und rechtliche Vorgaben eingehalten wurden. Im Arbeitskampf bedeutet dies etwa, dass ein mit qualifizierter Mehrheit gefasster Streikbeschluss die Legitimationsgrundlage für Arbeitskampfmaßnahmen darstellt, die rechtlichen Schutz gegen arbeitsrechtliche Konsequenzen verschaffen. Weiterhin entfaltet das Ergebnis Bindungswirkung im Innenverhältnis, sodass Vorstand und Mitglieder an die Entscheidung gebunden sind; eine Missachtung kann zu satzungsmäßigen Sanktionen führen. Für außenstehende Arbeitgeber oder Tarifpartner kann das Ergebnis Auswirkungen in Bezug auf Eskalation oder Verhandlungspflichten haben. Im Fall fehlerhafter Urabstimmungen drohen Nichtigkeit, Schadensersatzpflichten oder satzungsrechtliche Sanktionen.

Welche Fristen sind bei der Durchführung einer Urabstimmung zu beachten?

Die maßgeblichen Fristen im Zusammenhang mit der Durchführung einer Urabstimmung sind primär satzungsrechtlich oder durch tarifvertragliche sowie (seltener) gesetzliche Regelungen bestimmt. Typische Fristen betreffen die Einberufung der Urabstimmung, die Bekanntgabe des Abstimmungsthemas, die Information der Mitglieder, die Dauer der Abstimmung und die mögliche Anfechtungsfrist nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Werden diese Fristen nicht eingehalten, drohen Anfechtungen und damit eine mögliche Ungültigkeit der gesamten Urabstimmung. In arbeitsrechtlichen Zusammenhängen (z.B. Streik-Urabstimmung) ist zusätzlich sicherzustellen, dass der Ablauf der Urabstimmung mit den bestehenden Schlichtungsregelungen und Friedenspflichten vereinbar ist, um unzulässige Arbeitskampfmaßnahmen zu verhindern.