Unschuldig erlittene Untersuchungs- oder Strafhaft: Begriff, rechtliche Grundlagen und Ansprüche
Unschuldig erlittene Untersuchungs- oder Strafhaft bezeichnet die Situation, in der eine Person im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens festgehalten wird, obwohl sich im Nachhinein ergibt, dass keine Straftat begangen wurde oder keine rechtskräftige Verurteilung erfolgen durfte. Die Anerkennung und der finanzielle Ausgleich für unschuldig erlittene Freiheitsentziehung sind wesentliche Elemente des deutschen Strafrechtssystems. Nachfolgend werden die wichtigsten rechtlichen Aspekte, Voraussetzungen, Anspruchsgrundlagen und Verfahren im Zusammenhang mit der Thematik ausführlich erläutert.
Begriffserklärung und Abgrenzung
Die Begriffe „Untersuchungshaft“ und „Strafhaft“ unterscheiden sich in ihrer Funktion:
- Untersuchungshaft: Vorläufige Inhaftierung einer Person während des Ermittlungs- und Strafverfahrens, um z. B. Flucht- oder Verdunkelungsgefahr abzuwenden.
- Strafhaft: Vollzug einer gerichtlich verhängten Freiheitsstrafe nach rechtskräftigem Urteil.
Von „unschuldig erlittener“ Haft spricht man, wenn der Haftgrund nachträglich wegfällt oder die betreffenden Maßnahmen im Nachhinein als unrechtmäßig erkannt werden.
Rechtliche Grundlagen
Gesetzliche Regelungen
Die wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen zum Ausgleich unschuldig erlittenen Freiheitsentzugs finden sich im Strafrechtsentschädigungsgesetz (StrEG). Das StrEG normiert, unter welchen Bedingungen ein Anspruch auf Entschädigung wegen Strafverfolgungsmaßnahmen besteht.
Umfang der Entschädigungspflicht
Gemäß § 1 Abs. 1 StrEG wird eine Entschädigung gewährt, wenn jemand durch eine strafprozessuale Maßnahme einen Vermögensnachteil oder einen sonstigen Schaden erleidet und das Verfahren zugunsten der betroffenen Person endet, ohne dass eine Strafbarkeit festgestellt wird. Die Entschädigung umfasst sowohl Untersuchungshaft als auch den Vollzug einer Freiheitsstrafe.
Voraussetzungen für Ansprüche
Allgemeine Voraussetzungen
Anspruch auf Entschädigung haben Personen, die
- durch richterliche Anordnung, im Rahmen eines rechtskräftigen Urteils, oder durch einen richterlichen Haftbefehl inhaftiert waren und
- in einem nachfolgenden Verfahren (z. B. durch Freispruch, Einstellung, Aufhebung des Urteils) feststellen lassen können, dass die Inhaftierung unberechtigt war.
Einschränkungen und Ausschlüsse
Ein Anspruch auf Entschädigung entfällt insbesondere dann, wenn
- die betroffene Person schuldhaft zur Anordnung oder Vollstreckung der Maßnahme beigetragen hat (§ 5 StrEG),
- ein Freispruch mangels ausreichenden Tatnachweises ergeht, das Verfahren jedoch aus tatsächlichen Gründen eingestellt wird (§ 2 StrEG),
- oder in bestimmten Fällen der Erstattungsanspruch gegenüber anderen Dritten vorrangig ist (§ 7 StrEG).
Arten und Höhe der Entschädigung
Entschädigung für erlittene Freiheitsentziehung
Die Entschädigung wird in Geldleistungen gewährt. Die Höhe regelt § 7 Abs. 3 StrEG. Sie beträgt derzeit 75 Euro pro Tag der Freiheitsentziehung (seit 1. Juli 2023, zuvor 25 Euro pro Tag). Hinzu können Ersatz für nachweislich entstandene Vermögensschäden sowie immaterielle Schäden kommen.
Ersatz sonstiger Schäden
Neben der Pauschale für den entgangenen Tag der Freiheit sind weitere Schadenspositionen möglich, insbesondere
- Verdienstausfall,
- Kosten für Rechtsverteidigung,
- Mehraufwand,
- Erschwernisentschädigung bei besonderen Umständen.
Alle Ansprüche für Vermögensschäden sind durch Belege zu dokumentieren (§ 7 StrEG).
Verfahren zur Geltendmachung
Antragsstellung
Der Entschädigungsantrag ist gemäß § 16 StrEG innerhalb eines Monats nach Rechtskraft der Einstellung, des Freispruchs oder der Aufhebung des Urteils schriftlich zu stellen. Zuständig ist in der Regel das Gericht, das über die Einstellung oder Aufhebung der Haft entschieden hat.
Entscheidungsverfahren
Das Gericht prüft im sog. Entschädigungsfestsetzungsverfahren die Voraussetzungen, trifft Feststellungen zu Dauer, Umfang sowie Gründen der Freiheitsentziehung und entscheidet durch Beschluss über die Höhe der Entschädigung.
Es besteht die Möglichkeit, gegen die Entscheidung Beschwerde einzulegen, um eine gerichtliche Überprüfung zu erreichen.
Rechtsfolgen und Auswirkungen
Rückwirkung auf sonstige Ansprüche
Wurde eine Entschädigung für unschuldig erlittene Haft bewilligt, kann dies Auswirkungen auf Sozialleistungen, Arbeitsverhältnisse oder Pensionsansprüche haben. Die Rehabilitation kann zudem Konsequenzen für das öffentliche Ansehen und die Wiederherstellung der persönlichen Integrität mit sich bringen.
Steuerliche Behandlung
Die Entschädigung für immaterielle Schäden unterliegt i. d. R. nicht der Einkommensteuer. Entschädigungen für materielle Schäden sind auf mögliche Ersatzansprüche Dritter oder andere Sozialleistungen anzurechnen.
Unschuldig erlittene Haft: Bedeutung im Rechtsstaat
Das Institut der Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft oder Strafhaft ist ein grundlegendes Element des Rechtsstaatsprinzips. Es dient dem Schutz des Einzelnen vor staatlicher Inhaftierung ohne ausreichende rechtliche Grundlage und soll das Vertrauen in die Strafrechtspflege stärken. Die gerechte Kompensation und das Untersuchungsverfahren tragen zur Wahrung der Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte bei.
Internationale und europäische Aspekte
Deutschland erfüllt mit dem StrEG seine Verpflichtungen aus internationalen Abkommen, insbesondere aus Artikel 5 Absatz 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welche einen Rechtsanspruch auf Entschädigung bei unrechtmäßiger Freiheitsentziehung vorsieht. Auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) enthält vergleichbare Vorschriften. Die Rechtslage in anderen europäischen Staaten ist in weiten Teilen angeglichen.
Zusammenfassung
Die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungs- oder Strafhaft ist im deutschen Recht umfassend geregelt. Die Anspruchsvoraussetzungen, Verfahrensweisen sowie der Umfang der Entschädigung sind durch das StrEG exakt bestimmt. Betroffene erhalten eine pauschale Entschädigung für die Dauer ihrer Haft sowie Ersatz für weitere materielle und immaterielle Schäden, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind. Die Entschädigungsregelungen dienen als wichtiger Bestandteil rechtsstaatlicher Prinzipien dem Schutz vor rechtswidriger Inhaftierung.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Ansprüche bestehen nach unschuldig erlittenen Untersuchungshaft oder Strafhaft?
Personen, die unschuldig eine Untersuchungshaft oder Strafhaft verbüßt haben, steht gemäß § 7 Abs. 1 des Strafrechtsentschädigungsgesetzes (StrEG) ein Anspruch auf Entschädigung zu. Sie können sowohl den Ersatz des Vermögensschadens als auch eine Entschädigung für immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) verlangen. Voraussetzung ist, dass das Strafverfahren gegen sie durch Freispruch, Einstellung oder auf sonstige Weise endet, ohne dass eine Verurteilung erfolgt, und die Inhaftierung sich im Nachhinein als rechtswidrig herausstellt. Die Ansprüche entstehen allerdings nur, wenn die inhaftierte Person die Haft weder vorsätzlich noch grob fahrlässig selbst verursacht hat, etwa durch falsche Angaben oder Beweisvereitelung. Die Entschädigung umfasst zum einen eine pauschale Entschädigung für den Freiheitsentzug (derzeit 75 Euro pro Hafttag nach der StrEG-Novellierung ab dem 1. Juli 2023), zum anderen den Ersatz konkret nachgewiesener Vermögensschäden, wie etwa durch Verdienstausfall, Verlust des Arbeitsplatzes oder sonstige finanzielle Einbußen. Zudem können Rechtsanwaltskosten ersetzt verlangt werden, soweit sie in Zusammenhang mit dem Freiheitsentzug stehen.
Welche Voraussetzungen müssen für einen Entschädigungsanspruch nach Strafrechtsentschädigungsgesetz erfüllt sein?
Die wesentlichen Voraussetzungen sind, dass der Betroffene rechtskräftig freigesprochen wird, das Verfahren eingestellt wurde oder ein rechtskräftig aufgehobenes Urteil keine Strafbarkeit feststellt und sich die Haftmaßnahme als nicht gerechtfertigt erweist. Zusätzlich darf die unschuldig inhaftierte Person die Strafverfolgungsmaßnahme weder vorsätzlich noch grob fahrlässig selbst herbeigeführt haben. Im exakten Wortlaut des StrEG genügt es, wenn kein Haftgrund (mehr) vorlag und kein sonstiger Ausschlussgrund besteht. Wenn der Betroffene beispielsweise durch falsche Angaben oder das Verschweigen wesentlicher Tatsachen die Haft maßgeblich mitveranlasst hat, ist ein Entschädigungsanspruch ausgeschlossen. Der Antrag auf Entschädigung ist beim zuständigen Gericht (in der Regel das Gericht, das die Freiheitsentziehung angeordnet oder zuletzt über sie entschieden hat) zu stellen.
Welche Fristen müssen für eine Entschädigung beachtet werden?
Grundsätzlich muss der Antrag auf Entschädigung innerhalb von drei Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung, durch die das Strafverfahren beendet worden ist, gestellt werden (§ 18 StrEG). Diese Ausschlussfrist beginnt ab dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht den Betroffenen über das Bestehen etwaiger Entschädigungsansprüche belehrt hat. Bei Versäumnis der Frist ist der Anspruch regelmäßig ausgeschlossen. Wird die Frist jedoch unverschuldet versäumt, besteht unter engen Voraussetzungen die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Für die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche (z.B. bei Amtspflichtverletzungen) können jedoch abweichende, ggf. längere Verjährungsfristen gelten.
Wird bei der Bemessung der Entschädigung zwischen Untersuchungshaft und Strafhaft unterschieden?
Das Strafrechtsentschädigungsgesetz macht bei der pauschalen Tagessatzberechnung grundsätzlich keinen Unterschied zwischen einer unschuldigen Untersuchungshaft und einer unschuldig erlittenen Strafhaft. Für beide Arten des Freiheitsentzugs wird derselbe Tagessatz angesetzt (seit 2023: 75 Euro pro Tag). Allerdings können sich Unterschiede beim konkreten Vermögensschaden ergeben, insbesondere mit Blick auf die Rechtsfolgen etwa einer vorzeitigen Haftentlassung, die bei der Strafhaft relevant sein kann. Auch der Umfang und die Art der durch die Haft verursachten Schäden (beispielsweise beim Verlust des Arbeitsplatzes oder größerer Reputationsschäden) können unterschiedlich ausfallen und individuell geltend gemacht werden.
Können auch immaterielle Schäden wie Schmerzensgeld oder Reputationsverlust ersetzt werden?
Ja, das StrEG sieht neben dem Ersatz materieller auch immaterielle Schäden vor. Über die pauschale Haftentschädigung hinaus kann in Ausnahmefällen ein zusätzlicher Ausgleich für schwerwiegende immaterielle Schäden verlangt werden, wenn die üblichen Kompensationsmöglichkeiten nicht ausreichen. Dies kann etwa bei außergewöhnlich gravierenden Beeinträchtigungen, wie schweren psychischen Folgen oder einem irreparablen Reputationsverlust, der Fall sein. Allerdings liegt die Hürde für weitergehende Ansprüche, die über die gesetzliche Pauschale hinausgehen, in der Praxis sehr hoch und erfordert regelmäßig einen individuellen Nachweis sowie die Darlegung besonderer Umstände.
Welche Rolle spielt ein Mitverschulden des Inhaftierten beim Entschädigungsanspruch?
Der Entschädigungsanspruch ist ausgeschlossen, wenn der Betroffene die Untersuchungshaft oder Strafhaft vorsätzlich oder grob fahrlässig selbst verursacht hat (§ 5 Abs. 2 StrEG). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Beschuldigte Ermittlungsmaßnahmen erschwert, falsche Angaben macht, Beweismittel verfälscht oder eine Fluchtgefahr begründet hat. Entscheidend ist stets der konkrete Einzelfall und das Maß der Mitverursachung. Im Grenzfall einer nur leichten Fahrlässigkeit besteht weiterhin ein Entschädigungsanspruch, während bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz sämtliche Ansprüche entfallen.
Welche weiteren rechtlichen Schritte können neben der Entschädigung nach StrEG ergriffen werden?
Neben den Ansprüchen nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz können in besonderen Fällen auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Staat beziehungsweise das verantwortliche Bundesland wegen Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB in Betracht kommen, insbesondere bei groben Fehlern der Justizbehörden. Auch kann ein – allerdings nur in seltenen Ausnahmefällen erfolgreicher – strafrechtlicher Rehabilitationsanspruch bestehen, bei dem insbesondere ein Anspruch auf öffentliche Rehabilitation oder Korrektur von Justizirrtümern im Raum steht. Darüber hinaus können Betroffene sich mit einer Petition an die jeweiligen Petitionsausschüsse oder Ombudsstellen wenden, insbesondere wenn sie mit der Höhe oder der Durchführung der Entschädigung nicht einverstanden sind oder eine weitergehende Wiedergutmachung wünschen.