Unechtes Versäumnisurteil
Das unechte Versäumnisurteil ist ein Begriff aus dem deutschen Zivilprozessrecht und bezeichnet eine besondere Konstellation im Rahmen des Versäumnisurteils nach der Zivilprozessordnung (ZPO). Anders als beim klassischen Versäumnisurteil liegt beim unechten Versäumnisurteil kein tatsächliches Säumnisverhalten einer Partei vor, sondern es wird insbesondere prozessual so behandelt, als hätte eine Säumnis vorgelegen. Wesentlicher Anwendungsbereich ist das sogenannte unechte zweites Versäumnisurteil gemäß § 331 Abs. 2 ZPO.
Grundlagen des Versäumnisurteils
Die zentrale Norm für das Versäumnisurteil ist § 331 ZPO. Ein Versäumnisurteil wird grundsätzlich dann erlassen, wenn eine Partei im Termin zur mündlichen Verhandlung entweder nicht erscheint oder nicht ordnungsgemäß zur Sache verhandelt. Es handelt sich um ein prozessuales Mittel, um gerichtlichen Verfahren zügig abzuschließen und unnötige Verzögerungen durch das Ausbleiben einer Partei zu verhindern.
Begriffserklärung: Unechtes Versäumnisurteil
Definition
Ein unechtes Versäumnisurteil liegt dann vor, wenn ein Versäumnisurteil nach den gesetzlichen Vorschriften ergeht, obwohl eine tatsächliche Säumnis der Partei nicht gegeben ist, sondern sie formell oder fiktiv als säumig gilt. Die ZPO konstruiert in bestimmten Situationen ein solches Säumnisverhalten, obwohl die Partei an sich „anwesend“ oder vertreten ist.
Abgrenzung zum echten Versäumnisurteil
- Echtes Versäumnisurteil: Die Partei ist tatsächlich säumig; sie erscheint nicht oder verhandelt nicht zur Sache.
- Unechtes Versäumnisurteil: Der Partei wird durch das Gesetz formal die Säumnis zugerechnet, auch wenn sie faktisch nicht säumig ist.
Anwendungsbereiche und Schwerpunkt: § 331 Abs. 2 ZPO
Der wichtigste Anwendungsfall ist das unechte zweite Versäumnisurteil nach § 331 Abs. 2 ZPO:
- Nimmt eine Partei gegen das erste Versäumnisurteil Einspruch ein und bleibt im nachfolgenden Termin zur mündlichen Verhandlung wieder aus, wird sie „als säumig behandelt“, ohne dass geprüft wird, ob eine wirkliche Säumnis vorliegt. Das Gericht erlässt in diesem Fall auf Antrag des Gegners ein unechtes zweites Versäumnisurteil gegen die Partei.
- Die Entscheidung ergeht allein aufgrund der Prozesssituation, unabhängig davon, ob im zweiten Termin tatsächlich ein Versäumnis vorlag, beispielsweise weil die Partei sich durch Schriftsatz eingelassen hat, aber persönlich nicht anwesend ist.
Prozessuale Behandlung
Erlass eines unechten Versäumnisurteils
Der Erlass erfolgt wie folgt:
- Das Gericht prüft den Sachvortrag und die Zulässigkeit des Antrages.
- Eine inhaltliche Prüfung der Klageforderung findet im Gegensatz zum echten Versäumnisurteil nicht statt.
- Das Gericht ist in der Entscheidung an den Vortrag der klagenden Partei gebunden, eine Sachprüfung wie im Urteil nach streitiger Verhandlung findet nicht statt.
Rechtsmittel
Das unechte Versäumnisurteil unterliegt denselben Rechtsbehelfen wie das echte Versäumnisurteil. Das maßgebliche Rechtsmittel ist der Einspruch nach § 338 ZPO. Die Einspruchsfrist beträgt zwei Wochen ab Zustellung des unechten Versäumnisurteils.
Wird gegen das unechte zweite Versäumnisurteil erneut Einspruch eingelegt, verbleibt es bei dem Termin zur erneuten mündlichen Verhandlung, bei dem die Partei zur Sache verhandeln muss. Bei erneuter Säumnis kann kein weiteres (drittes) Versäumnisurteil mehr ergehen.
Besonderheiten bei den Kosten
Die Kostenauferlegung folgt ebenso den Grundsätzen der §§ 91 ff. ZPO; die unterlegene Partei trägt grundsätzlich die Kosten des Verfahrens, sofern sie mit dem unechten Versäumnisurteil zur Zahlung verurteilt wird.
Rechtsschutz und Besonderheiten im Verfahren
Recht auf rechtliches Gehör
Auch im Rahmen des unechten Versäumnisurteils bleibt das verfassungsrechtlich verankerte rechtliche Gehör gewahrt. Die Partei behält die Möglichkeit, durch den Einspruch das Verfahren „zurückzudrehen“ und die Sache erneut verhandeln zu lassen.
Bindungswirkung im weiteren Verfahren
Das unechte Versäumnisurteil entfaltet keine materiell-rechtliche Bindungswirkung über das Verfahren hinaus. Durch einen fristgerechten Einspruch wird der Rechtsstreit in die Lage vor der Versäumnis zurückversetzt; der Streitgegenstand bleibt vollumfänglich offen.
Historische Entwicklung und Gesetzeszweck
Die Regelungen zum unechten Versäumnisurteil dienen hauptsächlich der Verfahrensbeschleunigung und der Sanktionierung missbräuchlicher Prozessführung, beispielsweise ein taktisches Verhalten, das allein auf Verzögerung gerichtet ist. Die Form des unechten Versäumnisurteils ermöglicht gleichzeitig den Erhalt prozessualer Schutzmechanismen und das rechtliche Gehör im Zivilprozess.
Beispiel aus der Praxis
Beispiel:
Kläger erhebt vor dem Landgericht Klage. Der Beklagte bleibt im ersten Termin aus – das Gericht erlässt ein Versäumnisurteil. Der Beklagte legt Einspruch ein. Im Einspruchstermin erscheint der Beklagte erneut nicht. Nun erlässt das Gericht ein unechtes zweites Versäumnisurteil. Der Beklagte kann wiederum Einspruch einlegen; erscheint er dann, wird zur Sache verhandelt und ein streitiges Urteil erlassen.
Literatur und Rechtsprechung
In der rechtswissenschaftlichen Literatur findet das unechte Versäumnisurteil regelmäßig Beachtung, etwa in Kommentaren zur ZPO unter § 331 ZPO (beispielsweise Zöller, Musielak/Voit). Die gerichtliche Praxis orientiert sich dabei konsequent an den gesetzlichen Vorgaben, wobei das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, dass das Recht auf rechtliches Gehör hierbei ausgeglichen gewahrt bleibt.
Zusammenfassung
Das unechte Versäumnisurteil stellt eine prozessuale Besonderheit im deutschen Zivilprozessrecht dar, die sicherstellt, dass Parteien das Verfahren nicht durch taktisches Verhalten verzögern, dabei aber weiterhin der Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt bleibt. Es tritt vor allem im Einspruchsverfahren nach einem ersten Versäumnisurteil auf und ist durch seine rein formale Konstruktion als „Säumnis“ gekennzeichnet. Die Möglichkeiten des rechtlichen Schutzes und der Kontrolle durch Rechtsmittel bleiben umfassend erhalten.
Weiterführende Normen
- §§ 330 f., 338 ZPO
- Rechtsprechung: BVerfG, Beschluss vom 16.6.2015 – 1 BvR 607/14
- Kommentare: Zöller, ZPO, § 331; Musielak/Voit, ZPO, § 331
Siehe auch:
Versäumnisurteil | Zivilprozessordnung | Säumnis im Zivilprozess | Einspruch ZPO
Häufig gestellte Fragen
Welche Rechtsmittel stehen gegen ein unechtes Versäumnisurteil zur Verfügung?
Gegen ein unechtes Versäumnisurteil ist kein Einspruch wie gegen ein echtes Versäumnisurteil zulässig, da hier eine Partei im Termin zur mündlichen Verhandlung anwesend war und sich auf den Streit eingelassen hat. Daher stehen grundsätzlich die normalen Rechtsmittel des Zivilprozesses offen, insbesondere Berufung oder, je nach Instanz, Revision. Die Fristen und Voraussetzungen für das jeweilige Rechtsmittel richten sich nach den allgemeinen zivilprozessualen Vorschriften (§§ 511 ff. ZPO für die Berufung). Ein Wiedereinsetzungsantrag ist nur dann erfolgversprechend, wenn eine schuldlose Fristversäumnis vorliegt. Eine nochmalige mündliche Verhandlung findet gegen das unechte Versäumnisurteil nicht allein auf Antrag statt, sondern nur im Rahmen des jeweiligen Rechtsmittels.
Welche Wirkungen entfaltet ein unechtes Versäumnisurteil?
Das unechte Versäumnisurteil entfaltet im Unterschied zum echten Versäumnisurteil unmittelbare Rechtskraftwirkungen (§ 705 ZPO), da die im Termin erschienene Partei als „verhandlungsbereit“ galt und der Prozess somit als kontradiktorisch geführt wurde. Es entsteht Bindungswirkung für die Parteien hinsichtlich der entschiedenen Ansprüche, die wie ein kontradiktorisches Urteil vollstreckbar ist. Das Urteil stellt keine Vorentscheidung dar, sondern beendet das erstinstanzliche Verfahren – außer das Urteil wird durch ein zulässiges Rechtsmittel angefochten.
Wer trägt die Kosten im Fall eines unechten Versäumnisurteils?
Die Kostenpflicht im Falle eines unechten Versäumnisurteils richtet sich nach den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen (§ 91 ZPO). Demnach trägt grundsätzlich die unterlegene Partei die Kosten des Verfahrens. Wurde das Urteil aufgrund von Säumnis einer Partei im Termin erlassen und diese Partei unterliegt, so hat sie die Verfahrenskosten zu tragen, sofern keine abweichende Entscheidung getroffen wurde. Die Kostenentscheidung erscheint am Ende des Urteils und wird mit dem Urteilsspruch vollstreckbar.
Was unterscheidet die Zustellung eines unechten Versäumnisurteils von einem echten Versäumnisurteil?
Ein unechtes Versäumnisurteil wird beiden Parteien zugestellt, auch weil die Wirkung der Urteilsverkündung über die im Termin anwesende Partei hinaus auch die abwesende Partei betrifft. Bei der Zustellung gelten die Vorschriften der ZPO über die Zustellung von Urteilen. Im Gegensatz dazu wird das echte Versäumnisurteil vor allem der säumigen Partei zustellt, da gegen dieses der Einspruch das maßgebliche Rechtsmittel ist. Die Zustellung löst bei einem unechten Versäumnisurteil die Fristen für die zulässigen Rechtsmittel – insbesondere für die Berufung – aus.
Kann gegen ein unechtes Versäumnisurteil Berufung eingelegt werden?
Ja, gegen ein unechtes Versäumnisurteil steht – sofern die Berufungssumme erreicht wird und keine anderen Zugangshindernisse bestehen – das ordentliche Rechtsmittel der Berufung offen (§§ 511 ff. ZPO). Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des Urteils. In der Berufungsinstanz wird der Sachverhalt erneut überprüft; dabei können neue Tatsachen und Beweismittel nur eingeschränkt vorgebracht werden. Der Berufungskläger muss auch im Rahmen der Berufung begründen, warum die angefochtene Entscheidung unrichtig sein soll.
Welche Anforderungen stellt die Zivilprozessordnung an die Begründung eines unechten Versäumnisurteils?
Ein unechtes Versäumnisurteil muss die nach der ZPO (§ 313 ZPO) erforderlichen Inhalte eines Urteils aufweisen, insbesondere Tatbestand, Entscheidungsgründe sowie die konkrete Entscheidung. Anders als bei einem echten Versäumnisurteil, bei dem auf die Begründung zum Teil verzichtet wird (§ 313b Abs. 1 S. 2 ZPO), ist beim unechten Versäumnisurteil die ausführliche Darlegung der Entscheidungsgründe notwendig. Dies ist erforderlich, weil das Urteil einer Berufung zugänglich und somit einer inhaltlichen Überprüfung unterliegt.
Welche praktischen Folgen hat die Säumnis einer Partei bei Ergehen eines unechten Versäumnisurteils?
Die Säumnis einer Partei, die zwar anwaltlich vertreten oder persönlich im Termin erschienen ist, führt dazu, dass das Urteil gegen sie aufgrund ihres prozessualen Verhaltens – wie etwa der Nichtabgabe eines Sachvortrags trotz Anwesenheit – ergeht und nicht, weil die Partei gar nicht erschienen wäre. Die Folgen sind deshalb gravierender als beim echten Versäumnisurteil, da die Partei mit ihrem gesamten bisherigen Vorbringen gebunden bleibt und nicht mittels Einspruch eine weitere Tatsachenprüfung erreichen kann. Die Möglichkeiten der Verteidigung beschränken sich fortan auf die Rechtsmittelinstanzen.