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Überhangmandat


Begriff und rechtliche Grundlagen des Überhangmandats

Das Überhangmandat ist ein zentraler Begriff im deutschen Wahlrecht, insbesondere im Zusammenhang mit Bundestags- und Landtagswahlen. Es bezeichnet ein Mandat, das einer Partei in einem Bundesland zusteht, wenn sie mehr Direktmandate durch Erststimmen in den Wahlkreisen gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis und dem proportionalen Sitzverteilungsverfahren zustehen würden. Das Überhangmandat ist daher eine systematische Folge des sogenannten personalisierten Verhältniswahlrechts. Die rechtlichen Regelungen und Auswirkungen der Überhangmandate haben wiederholt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschäftigt und waren Gegenstand umfangreicher Reformen des Wahlgesetzes in Deutschland.

Rechtsgrundlagen und gesetzliche Regelung

Bundestagswahlen und das Bundeswahlgesetz

Die rechtliche Grundlage der Überhangmandate bildet das Bundeswahlgesetz (BWahlG). Relevant sind insbesondere die §§ 6 und 7 BWahlG, die die Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag regeln. Nach dem Prinzip der personalisierten Verhältniswahl werden die Sitze im Bundestag einerseits durch die in den 299 Wahlkreisen mit relativer Mehrheit direkt gewählten Abgeordneten (Erststimme) und andererseits durch die Verhältniswahl nach den Zweitstimmen vergeben.

Kern des Problems und Rechtsgrund für Überhangmandate ist, dass die durch Direktkandidaten errungenen Mandate (Direktmandate) auf den Gesamtanspruch einer Partei angerechnet werden. Gewinnt eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen würden, entstehen Überhangmandate.

Bedeutung der Zweitstimme

Die Zweitstimme entscheidet maßgeblich über die Sitzverteilung im Bundestag. Die Parteien erhalten vorbehaltlich der 5-Prozent-Hürde eine ihrem Stimmenanteil entsprechende Zahl an Sitzen. Diese Sitze werden zunächst mit den Direktkandidaten der Partei aufgefüllt. Überschreitungen führen zu Überhangmandaten, die über die reguläre Sitzzahl des Parlaments hinausgehen.

Landeslisten und Sitzzuteilung

Die Sitze werden nach Landeslisten parteiintern vergeben (§ 6 Abs. 2 BWahlG). Überschreiten die Direktmandate einer Partei in einem Bundesland die nach Proporz zustehende Anzahl an Sitzen, schreibt das Gesetz vor, dass die Direktmandate erhalten bleiben. Die Gesamtzahl der Abgeordneten im Bundestag erhöht sich dann um die Anzahl der Überhangmandate.

Verfassungsrechtliche Bewertung und Reformdiskussion

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten befasst, da sie potenziell die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien beeinträchtigen können. In seinen Beschlüssen (beispielsweise BVerfG, 25. Juli 2012, Az. 2 BvF 3/11 u.a.) stellte das Gericht fest, dass erhebliche Überhangmandate den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (§ 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verletzen können. Das Gericht forderte Korrekturen, um ungerechtfertigte Verzerrungen des Wahlergebnisses zu vermeiden.

Ausgleichsmandate

Im Zuge der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen wurde das Bundeswahlgesetz überarbeitet. Seit der Reform von 2013 führen Überhangmandate zu einer proportionalen Aufstockung des Parlaments durch sogenannte Ausgleichsmandate. Diese Sitze werden anderen Parteien zugeteilt, um das Verhältnis der Mandate im Bundestag wieder der Parteienproporz entsprechend herzustellen (§ 6 Abs. 5 BWahlG). Dadurch bleibt der Grundsatz der Verhältniswahl gewahrt, obwohl die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag ansteigt.

Praktische Auswirkungen und Bedeutung im Wahlsystem

Konsequenzen für die Größe des Bundestags

Überhangmandate, und die damit verbundenen Ausgleichsmandate, haben dazu geführt, dass die ursprüngliche Sollgröße des Bundestags von 598 Sitzen regelmäßig überschritten wird. In der Legislaturperiode 2021-2025 zählt der Bundestag beispielsweise 736 Mitglieder, was größtenteils auf Überhang- und Ausgleichsmandate zurückzuführen ist.

Politische Relevanz und Kritik

Das System der Überhangmandate wird unterschiedlich bewertet. Befürworter betonen, dass es die regionale Bindung der Abgeordneten durch die Direktwahl stärkt. Kritiker sehen darin eine Ursache für die Aufblähung des Parlaments und für eine mögliche Verzerrung des Wahlergebnisses, wenn keine wirksame Kompensation durch Ausgleichsmandate erfolgt.

Reformbestrebungen

Im politischen Diskurs werden regelmäßig Vorschläge gemacht, die Zahl der Überhangmandate zu begrenzen oder das Wahlsystem grundlegend zu reformieren, um eine dauerhafte Verkleinerung des Parlaments zu erreichen. Zuletzt hat der Gesetzgeber im Jahr 2023 mit dem „Bundeswahlgesetz 2023″ eine weitere Reform beschlossen, um die Sitzverteilung und den Anfall von Überhangmandaten zu steuern.

Überhangmandate bei Landtagswahlen

Auch in den meisten Bundesländern existiert das System der Überhangmandate mit teils abweichender gesetzlicher Ausgestaltung. Die Einzelheiten richten sich nach den jeweiligen Landeswahlgesetzen. Viele Länder haben Ausgleichsmechanismen eingeführt, um die proportionalen Grundsätze bei der Sitzverteilung zu wahren.

Zusammenfassung

Überhangmandate sind ein wesentliches Merkmal des personalisierten Verhältniswahlrechts in Deutschland. Sie entstehen, wenn der Erfolg einer Partei bei Direktmandaten nicht exakt mit ihrem Zweitstimmenergebnis (Parteiproportionalität) korrespondiert. Rechtliche Regelungen sehen vor, diese Ungleichgewichte durch Ausgleichsmandate zu beheben. Der Umgang mit Überhangmandaten ist eine der zentralen Herausforderungen des deutschen Wahlrechts und Gegenstand intensiver politischer und rechtlicher Debatte.

Weiterführende rechtliche Vorschriften

  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 38 GG)
  • Bundeswahlgesetz (BWahlG), insbesondere § 6 und § 7 BWahlG
  • Landeswahlgesetze der Bundesländer

Literatur und Rechtsprechung

  • Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 25. Juli 2012, Az. 2 BvF 3/11 u.a.
  • Bundeswahlgesetz in der jeweils geltenden Fassung
  • Kommentarliteratur zum Bundeswahlgesetz und Wahlrecht in Deutschland

Dieser Artikel bietet eine umfassende, sachliche und detaillierte Darstellung des Begriffs Überhangmandat, seiner rechtlichen Grundlagen, Entwicklung und Bedeutung im deutschen Wahlsystem.

Häufig gestellte Fragen

Wie ist das Überhangmandat verfassungsrechtlich einzuordnen?

Das Überhangmandat hat eine besondere verfassungsrechtliche Relevanz, da es den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG (Grundgesetz) berührt. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach festgestellt, dass die Entstehung von Überhangmandaten im Rahmen des personalisierten Verhältniswahlrechts nicht per se verfassungswidrig ist, solange die Auswirkungen auf das Stimmverhältnis im Bundestag nicht dazu führen, dass die Grundsätze der Wahlgleichheit und Chancengleichheit verletzt werden. Insbesondere wurde mit Urteil vom 25. Juli 2012 (BVerfGE 131, 316) klargestellt, dass Überhangmandate zulässig sind, solange ein Ausgleichsmechanismus besteht, der eine angemessene Annäherung an das Verhältniswahlrecht sicherstellt. Dies wurde durch die Einführung von Ausgleichsmandaten im Bundeswahlgesetz umgesetzt.

Welche gesetzlichen Regelungen sind für Überhangmandate maßgeblich?

Die relevanten gesetzlichen Bestimmungen für Überhangmandate finden sich im Bundeswahlgesetz (BWahlG), allen voran in den §§ 6 und 6a BWahlG. Diese Vorschriften regeln, dass ein Bundesland so viele Bundestagsabgeordnete direkt entsendet, wie Wahlkreise die Partei dort direkt gewonnen hat – auch wenn diese Zahl über dem aus den Zweitstimmen resultierenden Mandatsanspruch liegt (Überhang). Ferner regelt das BWahlG, dass durch die Vergabe von Ausgleichsmandaten nach § 6a BWahlG das Gesamtverhältnis im Bundestag der vom Wähler gewählten Zweitstimmenverteilung entspricht. Diese gesetzlichen Vorgaben wurden wiederholt angepasst, um den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen.

Gibt es Obergrenzen für die Zahl der Überhangmandate?

Das Bundeswahlgesetz sieht ausdrücklich keine feste Obergrenze für Überhangmandate vor. Allerdings ist durch die Erfordernisse des Verhältniswahlrechts und die verfassungsgerichtlichen Vorgaben eine faktische Begrenzung gegeben, da Überhangmandate durch Ausgleichsmandate für andere Parteien kompensiert werden müssen. Die seit 2023 geltenden Änderungen des Wahlrechts sehen zudem Regelungen vor, die Anzahl der insgesamt im Bundestag vertretenen Abgeordneten zu begrenzen, was wiederum eine Begrenzung auch der Überhangmandate zur Folge hat. In Extremfällen führt der Ausgleichsmechanismus dazu, dass der Bundestag sich erheblich vergrößert, was regelmäßig Anlass zu Reformdiskussionen gibt.

Wie werden Überhangmandate im Wahlergebnis offiziell festgestellt?

Die Feststellung der Überhangmandate erfolgt im Rahmen der amtlichen Endauszählung durch den Bundeswahlausschuss gemäß § 42 BWahlG. Zunächst wird ermittelt, wie viele Direktmandate eine Partei durch die Erststimme errungen hat. Diese Zahl wird sodann ins Verhältnis zur Zahl der durch Zweitstimmen insgesamt zustehenden Mandate gesetzt. Übersteigt die Anzahl der direkt gewonnenen Wahlkreismandate (Erststimme) einer Partei in einem Land die ihr gemäß Zweitstimmenergebnis zustehenden Mandate, entstehen Überhangmandate. Diese werden transparent dokumentiert und im amtlichen Ergebnis veröffentlicht. Im Anschluss erfolgt die Zuteilung der notwendigen Ausgleichsmandate.

Welche Auswirkungen haben Überhangmandate auf die Mandatsverteilung im Bundestag?

Überhangmandate wirken sich unmittelbar auf die Größe des Bundestages aus, da sie zu zusätzlichen Sitzen führen, die über die reguläre Mandatsverteilung hinaus vergeben werden. Dies hat zur Folge, dass das Verhältnis zwischen den Fraktionen im Bundestag verschoben werden könnte, wenn keine Ausgleichsmandate vergeben würden. Seit der Reform des Wahlrechts sind Ausgleichsmandate zwingend vorgeschrieben, sodass die im Bundestag letztlich vertretenen Parteien in ihrer Mandatszahl proportional ihrem Zweitstimmenergebnis entsprechen. Somit bleibt das Verhältniswahlrecht gewahrt, auch wenn es faktisch zu einer erheblichen Erweiterung der Gesamtzahl der Abgeordneten führen kann.

Welche juristischen Streitfragen sind mit Überhangmandaten verbunden?

In der Rechtswissenschaft sind Überhangmandate ein wiederkehrendes Thema, insbesondere hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 GG). Ein Streitpunkt war, inwieweit eine Partei durch Überhangmandate bessergestellt wird, als dies ihr Zweitstimmenergebnis rechtfertigt, was zu einer Verzerrung des Wählerwillens führen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung mehrfach klargestellt, dass dauerhafte und erhebliche Überhänge mit einem Fehlen von Ausgleichsmandaten nicht hinnehmbar sind. Zudem bestehen Diskussionen über die Praktikabilität und Effizienz der gesetzlichen Mechanismen zur Kompensation der Überhänge. Auch die Auswirkungen auf die Größe des Bundestages sowie daraus resultierende Kosten werden regelmäßig rechtlich und politisch erörtert.

Können Überhangmandate bei Landtagswahlen ebenfalls entstehen?

Ja, Überhangmandate sind nicht ausschließlich ein Phänomen der Bundestagswahl. Viele Bundesländer wenden ebenfalls ein personalisiertes Verhältniswahlsystem an, bei dem Überhangmandate entstehen können, beispielsweise in Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen. Die jeweiligen Landeswahlgesetze regeln diese Mandate eigenständig und sehen teils auch Ausgleichsmechanismen vor. Auch hier greifen die verfassungsrechtlichen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts analog, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze und der Chancengleichheit. Unterschiede in der Ausgestaltung und Ausgleichsmodalitäten sind aber durch die Gesetzgebungskompetenz der Länder möglich.