Definition und rechtliche Einordnung von Tendenzbetrieben
Tendenzbetriebe sind Einrichtungen, Unternehmen oder Organisationen, die neben dem wirtschaftlichen Zweck wesentlich ideelle, geistige, religiöse, politische oder weltanschauliche Zielsetzungen verfolgen. Die rechtliche Besonderheit dieser Betriebe liegt darin, dass für sie in bestimmten Bereichen Abweichungen von arbeitsrechtlichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen vorgesehen sind. Die gesetzliche Grundlage für Tendenzbetriebe findet sich insbesondere im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und im Kündigungsschutzgesetz (KSchG).
Gesetzliche Grundlagen
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
Der Begriff des Tendenzbetriebs wird im § 118 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) definiert. Einrichtungen, die unmittelbar und überwiegend politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen dienen sowie Presseunternehmen, Nachrichtenagenturen, Rundfunk und Fernsehen fallen darunter. Für diese Unternehmen gelten Sonderregeln hinsichtlich der Mitbestimmung durch den Betriebsrat. Beispielsweise können betriebsverfassungsrechtliche Beteiligungsrechte in geringerem Maße Anwendung finden, sofern der Tendenzschutz greift.
Weitere relevante Gesetze
Auch im Kündigungsschutzgesetz (§ 23 Abs. 2 KSchG) sowie in tarifrechtlichen Bestimmungen werden spezifische Ausnahmen für Tendenzbetriebe genannt. Im Tarifvertragsgesetz und im Mitbestimmungsgesetz gibt es weitere relevante Vorgaben, die im Zusammenhang mit Tendenzbetrieben und deren besonderen Charakter stehen.
Charakteristische Merkmale von Tendenzbetrieben
Haupttätigkeitsfeld und ideelle Zielsetzung
Ein wesentliches Merkmal von Tendenzbetrieben ist das Vorliegen einer ideellen Zielsetzung, die unmittelbar und überwiegend verfolgt wird. Der wirtschaftliche Zweck steht dabei nicht im Vordergrund oder ist zumindest mit den ideellen Zielen eng verbunden. Typische Beispiele sind Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Zeitungsverlage, Rundfunkanstalten, Theater, Museen, Universitäten, Forschungseinrichtungen sowie karitative Organisationen.
Tendenzträger
Als „Tendenzträger“ werden jene Unternehmen oder Teile von Unternehmen bezeichnet, bei denen die Leitung und Verwirklichung der ideellen Zielsetzung im Mittelpunkt der Betriebstätigkeit stehen. Die Angehörigen dieser Unternehmen sollen in der Regel die Ideale, Weltanschauungen oder Zielsetzungen mittragen oder zumindest respektieren.
Arbeitsrechtliche Besonderheiten im Tendenzbetrieb
Eingeschränkte Beteiligungsrechte des Betriebsrats
In Tendenzbetrieben ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zum Schutz der ideellen Ausrichtung der Einrichtung beschränkt. Die Grundidee besteht darin, dass die spezifischen Tendenzinteressen, wie zum Beispiel politische, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, nicht durch allgemeine betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsrechte beeinträchtigt werden sollen.
Beschränkungen nach § 118 BetrVG
Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 BetrVG finden die Vorschriften über die Beteiligung des Betriebsrats keine Anwendung, soweit Maßnahmen oder Angelegenheiten die spezifische Tendenz des Unternehmens unmittelbar betreffen. Dies betrifft insbesondere Bereiche, die für die Verwirklichung des ideellen Unternehmenszwecks wesentlich sind.
Kündigungsschutz und besondere Loyalitätspflichten
Im Rahmen des Kündigungsschutzes gibt es spezifische Regelungen, die für Tendenzbetriebe Anwendung finden. Beispielsweise kann die Verletzung von Loyalitätspflichten, insbesondere bei kirchlichen Arbeitgebern oder politischen Parteien, einen Kündigungsgrund bieten, sofern das Verhalten des Beschäftigten den ideellen Zweck des Arbeitgebers erheblich beeinträchtigt.
Anwendungsbereiche und Beispiele von Tendenzbetrieben
Kirchen und Religionsgemeinschaften
Religiöse Einrichtungen wie Kirchen, Religionsgemeinschaften sowie deren karitative und soziale Einrichtungen gelten als Tendenzbetriebe. Für diese Einrichtungen gelten Ausnahmeregelungen, insbesondere bei der Auswahl und Beschäftigung der Arbeitnehmer. Die Einhaltung religiöser Vorgaben kann arbeitsrechtlich eingefordert werden.
Medienunternehmen
Press, Rundfunkunternehmen und Verlage sind explizit als Tendenzbetriebe im Betriebsverfassungsgesetz aufgeführt. Ihr besonderer Schutz soll eine ungehinderte journalistische und publizistische Tätigkeit sicherstellen. Insbesondere die redaktionelle Freiheit ist maßgeblich und darf nicht durch Mitbestimmungsrechte kompromittiert werden.
Parteien, Verbände, Gewerkschaften
Politische Parteien, Koalitionen, Gewerkschaften und sonstige Vereinigungen, die politische Arbeit oder Interessenvertretung leisten, sind typische Tendenzbetriebe. Das Recht, bestimmte ideelle Grundsätze durchzusetzen und den eigenen Zweck zu verfolgen, ist hier besonders geschützt.
Tendenzbetriebe im Spannungsfeld der Grundrechte
Schutz der Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Weltanschauung
Die privilegierten Regelungen für Tendenzbetriebe stehen im engen Zusammenhang mit den Grundrechten, insbesondere der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG) sowie der Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG). Die besondere Rechtsstellung soll gewährleisten, dass die ideellen Zwecke ohne staatliche oder betriebliche Einflussnahme verfolgt werden können.
Abgrenzung zu sonstigen Betrieben
Die rechtliche Abgrenzung zu gewöhnlichen Unternehmen liegt vorrangig in der Zielsetzung. Während bei gewöhnlichen Unternehmen der wirtschaftliche Erfolg die bedeutende Rolle spielt, stehen bei Tendenzbetrieben die ideellen, geistigen, religiösen oder politischen Zwecke im Vordergrund. Die gerichtliche Überprüfung im Einzelfall richtet sich nach der tatsächlichen und überwiegenden Zielsetzung und Organisation des jeweiligen Betriebes.
Aktuelle Entwicklungen und Rechtsprechung
Bedeutung in der arbeitsgerichtlichen Praxis
Die Einordnung eines Unternehmens als Tendenzbetrieb und die Reichweite des Tendenzschutzes sind regelmäßig Gegenstand arbeitsgerichtlicher Entscheidungen. Insbesondere spielt dies bei Streitigkeiten über Mitbestimmungsrechte, Loyalitätspflichten und Kündigungen eine zentrale Rolle.
Europäische Perspektive
Gerade im europäischen Kontext wird die Reichweite des Tendenzschutzes insbesondere im Hinblick auf Diskriminierungsverbote, arbeitsrechtliche Gleichbehandlung und Grundrechte immer wieder diskutiert. Die Vereinbarkeit nationaler Privilegien für Tendenzbetriebe mit unionsrechtlichen Vorgaben ist regelmäßig Gegenstand gerichtlicher Überprüfung.
Zusammenfassung
Tendenzbetriebe nehmen aufgrund ihrer ideellen Zielsetzungen, die im Vordergrund ihrer Tätigkeit stehen, eine besondere rechtliche Stellung ein. Die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften sehen für diese Unternehmen spezifische Privilegien und Ausnahmen gegenüber den allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungen vor. Die Einordnung und rechtliche Behandlung von Tendenzbetrieben ist sowohl aus arbeitsrechtlicher als auch aus grundrechtlicher Perspektive von erheblicher Bedeutung und bleibt Gegenstand fortlaufender rechtlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Auswirkungen hat der Status als Tendenzbetrieb auf das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats?
Der Status als Tendenzbetrieb führt gemäß § 118 Abs. 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) zu erheblichen Einschränkungen der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass bei Tendenzbetrieben, wie beispielsweise Zeitungsredaktionen, Rundfunkanstalten, konfessionellen Einrichtungen oder Parteien, die Anwendung betriebsverfassungsrechtlicher Vorschriften ganz oder teilweise ausgeschlossen ist, soweit deren Anwendung der Verwirklichung der Tendenz des Betriebs oder des Vereins entgegenstehen würde. Insbesondere betrifft dies das Mitbestimmungsrecht in sozialen Angelegenheiten, beispielsweise bei Einstellungen, Versetzungen, Ein- und Umgruppierungen sowie bei Maßnahmen zur Verhinderung von Benachteiligungen. Der Betriebsrat kann sein Mitbestimmungsrecht nur insoweit ausüben, als die unternehmerische oder ideelle Zielsetzung, also die Tendenz, dadurch nicht beeinträchtigt wird. Bei Konflikten entscheidet letztlich die Arbeitsgerichtsbarkeit darüber, ob und in welchem Umfang Mitbestimmung ausgeschlossen ist.
Welche Bedeutung hat das Merkmal der „Tendenz“ für den arbeitsrechtlichen Schutz von Beschäftigten?
Das Vorliegen einer Tendenz im Sinne des § 118 BetrVG begrenzt den arbeitsrechtlichen Schutz der Arbeitnehmer:innen insofern, als Kollektivrechte im Betrieb nicht oder nur eingeschränkt Anwendung finden. Insbesondere dann, wenn mitbestimmungsrechtliche Maßnahmen des Betriebsrats im Widerspruch zur Tendenzverwirklichung stehen, werden diese unterbunden. Zwar bleiben Individualrechte, wie etwa der Kündigungsschutz nach dem KSchG oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), unberührt; jedoch werden kollektive Schutzmechanismen zugunsten der freien Tendenzverfolgung eingeschränkt. Beschäftigte in Tendenzbetrieben sind hauptsächlich auf den individuellen Rechtsschutz angewiesen, da institutionalisierte Mitbestimmungsmöglichkeiten durch den Betriebsrat nur bedingt zur Verfügung stehen.
Unterliegt die Teilnahme an Tarifverhandlungen in Tendenzbetrieben besonderen rechtlichen Einschränkungen?
Im Bereich der Tarifpolitik bestehen grundsätzlich keine gesonderten Beschränkungen für Tendenzbetriebe. Die Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG erlaubt es sowohl Tendenzbetrieben als auch ihren Arbeitnehmer:innen, Tarifverträge zu schließen oder ihnen beizutreten. Die typischen Mitbestimmungs-Restriktionen des Betriebsverfassungsrechts gelten nur im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat innerhalb des Betriebs, nicht im tariflichen Kontext. Gleichwohl kann der Abschluss bestimmter Tarifverträge, die unmittelbar die Tendenz betreffen, zu Konflikten führen. Solche Fälle werden jedoch ebenfalls einer gerichtlichen Einzelfallprüfung unterzogen, ob die tariflichen Forderungen „tendenzneutral“ sind oder die Tendenz berühren.
Wer trägt die Beweislast, wenn die Einschränkung von Mitbestimmungsrechten aufgrund des Tendenzschutzes geltend gemacht wird?
Besteht Streit über die Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 118 BetrVG, also darüber, ob die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats tatsächlich eingeschränkt sind, liegt die Beweislast beim Arbeitgeber. Das Unternehmen muss im Streitfall konkret darlegen und im Arbeitsgerichtsprozess nachweisen, dass die Maßnahme oder Mitbestimmung des Betriebsrats tatsächlich der ideellen Zielsetzung beziehungsweise der Tendenz entgegensteht. Hierzu ist eine substantiierte Darstellung erforderlich; bloße Behauptungen über abstrakte Gefährdungen der Tendenz genügen der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung nicht. Das Gericht prüft im Einzelfall genau, inwieweit eine Beeinträchtigung der Tendenz tatsächlich droht.
In welchen Fragen besteht ausdrücklich kein Ausschluss oder keine Einschränkung von Mitbestimmungsrechten in Tendenzbetrieben?
Nicht alle Mitbestimmungsrechte sind in Tendenzbetrieben eingeschränkt. Die Ausnahme nach § 118 BetrVG gilt ausdrücklich nur „soweit“ die Tendenzverwirklichung betroffen ist. Maßnahmen und Entscheidungen, die keinen Bezug zur ideellen Zielsetzung des Betriebs haben – beispielsweise rein technische, organisatorische oder wirtschaftliche Regelungen, die nicht mit der Tendenz kollidieren – unterliegen weiterhin der vollen Mitbestimmungspflicht. Außerdem bleiben die allgemeinen Schutzvorschriften des Arbeitsrechts, etwa zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, bestehen. Ebenso wirken die Rechte auf Information und Anhörung des Betriebsrats weiterhin, soweit sie die Tendenz nicht berühren.
Kann ein Tendenzbetrieb seinen Status verlieren, und wie wäre dies rechtlich zu prüfen?
Der Status als Tendenzbetrieb ist an die tatsächliche betriebliche Zwecksetzung geknüpft und nicht an eine Selbsteinschätzung oder bloße Behauptung des Arbeitgebers. Sollte sich im Laufe der Zeit der Zweck des Betriebs ändern – etwa wenn ein ehemals kirchlicher Betrieb seine religiös-ideelle Ausrichtung vollständig aufgibt – wäre der Tendenzstatus rechtlich neu zu bewerten. Über das Vorliegen oder den Fortbestand der Voraussetzungen entscheidet letztlich das Arbeitsgericht, wobei die tatsächlichen betrieblichen Verhältnisse und die organisatorische Ausrichtung maßgeblich sind. Unternehmen sind daher gut beraten, ihre betriebliche Struktur und Zielsetzung bei Streitigkeiten über den Tendenzstatus offen darzulegen und Nachweise zu führen.
Welche Besonderheiten gelten für den Betriebsrat in Tendenzbetrieben bei personellen Einzelmaßnahmen?
Bei personellen Einzelmaßnahmen, wie Einstellungen, Versetzungen oder Kündigungen, gilt auch in Tendenzbetrieben grundsätzlich das Beteiligungsrecht des Betriebsrats nach den einschlägigen Vorschriften des BetrVG. Allerdings entfällt dieses, soweit die Beteiligung des Betriebsrats eine Beeinträchtigung der Tendenz zur Folge hätte. Beispielsweise kann die Auswahl von Redakteur:innen in einem Presseunternehmen oder die Besetzung seelsorgerischer Tätigkeiten in kirchlichen Einrichtungen als tendenzrelevant angesehen werden, wodurch das Widerspruchsrecht des Betriebsrats eingeschränkt oder ausgeschlossen sein kann. In allen nicht tendenzrelevanten Fällen verbleibt jedoch das volle Beteiligungsrecht. Bei Unklarheiten über die Reichweite dieser Ausnahme ist eine Klärung durch das Arbeitsgericht möglich.
Gibt es Unterschiede bei der Anwendung des Tendenzschutzes zwischen privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Organisationen?
Der Tendenzschutz nach § 118 BetrVG gilt unabhängig von der Rechtsform und der Gewinnorientierung des Betriebs oder Unternehmens. Maßgeblich ist allein die Verfolgung einer Tendenz im Sinne der genannten Vorschrift, also das ideelle Ziel (z.B. kulturell, politisch, religiös, karitativ). Auch gemeinnützige Organisationen sowie eingetragene Vereine können daher Tendenzbetriebe im arbeitsrechtlichen Sinne sein, sofern sie eine entsprechende ideelle Ausrichtung und Tendenzverfolgung aufweisen. Die Rechtsfolgen in Bezug auf die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats sind in beiden Fällen identisch. Auch hier ist stets eine konkrete Einzelfallprüfung erforderlich, ob und inwieweit die Tätigkeit tatsächlich von der Tendenz geprägt ist.