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Tarifkonkurrenz


Tarifkonkurrenz: Begriff, rechtliche Grundlagen und praktische Bedeutung

Die Tarifkonkurrenz ist ein zentrales Thema des kollektiven Arbeitsrechts in Deutschland und bezeichnet den Umstand, dass auf ein Arbeitsverhältnis mehrere tarifliche Regelungen Anwendung finden könnten, weil verschiedene Tarifverträge zeitgleich und für denselben Sachverhalt in Betracht kommen. Dieses Phänomen ist vor allem im Zusammenhang mit der Tarifpluralität zu betrachten und zieht weitreichende Rechtsfolgen für Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber nach sich.

Grundstruktur des deutschen Tarifsystems

Tarifverträge und deren Geltungsbereich

Tarifverträge sind rechtsverbindliche Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Arbeitgebern, die Arbeitsbedingungen wie Lohn, Arbeitszeit, Urlaub oder Kündigungsfristen festlegen. Sie binden grundsätzlich nur die tarifgebundenen Parteien und deren Mitglieder, können aber durch Allgemeinverbindlicherklärung auch für alle Arbeitnehmer eines bestimmten Wirtschaftszweiges gelten.

Tarifpluralität vs. Tarifkonkurrenz

Während bei der Tarifpluralität verschiedene Tarifverträge für unterschiedliche Arbeitnehmergruppen im selben Betrieb zur Anwendung kommen, beschreibt die Tarifkonkurrenz den Fall, dass verschiedene Tarifverträge denselben Sachverhalt für dieselbe Arbeitnehmergruppe gleichzeitig regeln wollen.

Rechtsquellen und gesetzliche Bestimmungen

Relevante Gesetze

Die rechtliche Behandlung der Tarifkonkurrenz ergibt sich aus verschiedenen gesetzlichen Grundlagen, insbesondere:

  • Tarifvertragsgesetz (TVG)
  • Grundgesetz (GG), insbesondere Art. 9 Abs. 3 GG (Koalitionsfreiheit)
  • Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
  • Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz – TEiG)

Bedeutung des Tarifeinheitsgesetzes

Das am 10. Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz normiert in § 4a TVG das Prinzip der Tarifeinheit für den Fall widerstreitender Tarifverträge, wodurch die Rechtslage der Tarifkonkurrenz erheblich beeinflusst wird. Nach diesem Gesetz soll bei kollidierenden Tarifverträgen für denselben Betrieb und denselben Regelungsbereich grundsätzlich nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft Anwendung finden, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat.

Formen der Tarifkonkurrenz

Es werden mehrere Formen der Tarifkonkurrenz unterschieden, die im Rechtsalltag relevant sind:

Gleichartige Tarifkonkurrenz

Hier regeln mehrere Tarifverträge denselben Sachverhalt (z. B. dieselben Lohnbedingungen) für denselben Arbeitnehmer auf identische Weise.

Ungleichartige Tarifkonkurrenz

Im Fall ungleichartiger Tarifkonkurrenz möchten verschiedene Tarifverträge denselben Sachverhalt unterschiedlich regeln. Beispiel: Zwei Tarifverträge sehen unterschiedliche Entgelthöhen für dieselbe Arbeitsleistung vor.

Spezialitätskonkurrenz

Diese Form liegt vor, wenn ein spezieller Tarifvertrag eine Regelung für einen bestimmten Bereich vorsieht (z. B. ein Manteltarifvertrag für eine Berufsgruppe), während ein allgemeinerer Tarifvertrag für denselben Bereich gilt. Die Frage ist, welcher Tarifvertrag Anwendung findet.

Lösungsmechanismen bei Tarifkonkurrenz

Die Rechtsordnung bietet unterschiedliche Lösungsansätze für das Problem der Tarifkonkurrenz:

Grundsatz: Günstigkeitsprinzip

Das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG besagt, dass im Kollisionsfall die für den Arbeitnehmer günstigste Regelung anzuwenden ist. Dabei wird jedoch nicht zwingend auf einzelne Regelungen, sondern oftmals auf das Gesamtpaket der betreffenden Tarifverträge abgestellt.

Spezialitätsprinzip

Nach dem Spezialitätsprinzip findet der speziellere Tarifvertrag Anwendung, wenn ein allgemeiner und ein spezieller Tarifvertrag kollidieren. Damit wird der spezielleren Regelung Vorrang eingeräumt.

Rang- und Zeitprinzip

  • Rangprinzip: Tarifvertragliche Regelungen gehen betrieblichen oder einzelvertraglichen Vereinbarungen grundsätzlich vor.
  • Zeitprinzip (Lex posterior): Der jüngere Tarifvertrag verdrängt den älteren, sofern beide für denselben Regelungsbereich gelten und eine echte Kollision besteht.

Tarifeinheit gemäß § 4a TVG

Das Tarifeinheitsgesetz bestimmt, dass bei Tarifkonkurrenz der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft Anwendung findet, sofern sich die betrieblichen Geltungsbereiche der Tarifverträge überschneiden.

Praxisrelevanz und Auswirkungen

Auswirkungen auf Arbeitsverträge

Bei Tarifkonkurrenz wird die tarifvertragliche Regelung durch ausdrückliche Bezugnahme im Arbeitsvertrag Bestandteil des Arbeitsverhältnisses. Problematisch kann dies werden, wenn verschiedene Tarifverträge durch Verweisungen oder Doppelbindungen zur Anwendung kommen sollen.

Auswirkungen auf Betriebsratsarbeit

Auch Betriebsräte sind mit der Frage der Tarifkonkurrenz konfrontiert, wenn sie bei Aufstellung oder Auslegung von Betriebsvereinbarungen tarifliche Vorgaben einhalten müssen.

Bedeutung für die betriebliche Praxis

In Unternehmen mit mehreren konkurrierenden Gewerkschaften besteht eine erhöhte Komplexität bei der Anwendung tariflicher Regelungen. Das Tarifeinheitsgesetz zielt darauf ab, die im Betriebsablauf entstehenden Unsicherheiten durch eine klare Zuordnung zu minimieren.

Aktuelle Entwicklungen und Rechtsprechung

Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mehrfach klargestellt, dass bei Tarifkonkurrenz die günstigste Regelung für den Arbeitnehmer maßgeblich ist, sofern keine gesetzliche Spezialregelung wie § 4a TVG eingreift.

Verfassungsrechtliche Aspekte

Das Tarifeinheitsgesetz war Gegenstand mehrerer verfassungsgerichtlicher Prüfungen, insbesondere im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit und Gleichbehandlung der Gewerkschaften. Das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz im Wesentlichen für verfassungsgemäß erklärt, jedoch einzelne Anwendungsvoraussetzungen präzisiert.

Zusammenfassung

Die Tarifkonkurrenz befasst sich mit der Kollision mehrerer Tarifverträge im Arbeitsrecht und erfordert eine differenzierte Betrachtung verschiedener rechtlicher Prinzipien und Gesetze. Die praktische und rechtliche Bewältigung dieses Phänomens erfolgt durch eine Reihe von Grundsätzen, die von der Rechtsprechung fortentwickelt und durch das Tarifeinheitsgesetz teilweise neu geordnet wurden. Die aktuelle Rechtslage stellt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Koalitionsfreiheit, Interesse an klaren Regelungen und betrieblicher Funktionsfähigkeit her. Unternehmen und Arbeitnehmer sind gehalten, die geltenden Regelungen im Einzelfall sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls auszulegen.

Häufig gestellte Fragen

Wann liegt aus rechtlicher Sicht eine Tarifkonkurrenz vor und wie wird damit in der Rechtsprechung umgegangen?

Tarifkonkurrenz tritt auf, wenn auf ein Arbeitsverhältnis mehrere unterschiedliche Tarifverträge Anwendung beanspruchen. Aus rechtlicher Sicht ergibt sich diese Konstellation insbesondere dann, wenn verschiedene Tarifverträge personell, räumlich, betrieblich oder fachlich auf dasselbe Arbeitsverhältnis bezogen sind. Die Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre verschiedene Lösungsansätze entwickelt, um Interessenkonflikte zwischen konkurrierenden Tarifverträgen zu entschärfen. Zu den wichtigsten Grundsätzen zählt hierbei das Spezialitätsprinzip, nach dem ein spezieller Tarifvertrag dem allgemeineren vorgeht („lex specialis derogat legi generali“). Daneben kommen das Rangprinzip und das Günstigkeitsprinzip zum Einsatz: Der höherrangige oder günstigere Tarifvertrag kann Vorrang erhalten. Die Gerichte – allen voran das Bundesarbeitsgericht – prüfen jede Konstellation jedoch individuell und analysieren, ob und in welchem Umfang Mehrfachanwendbarkeit besteht, etwa wenn sich die Tarifverträge auf verschiedene Arbeitsbedingungen beziehen oder ausdrücklich nur ergänzend gelten sollen. Maßgeblich sind dabei stets die Bindungswirkung nach dem Tarifvertragsgesetz (TVG) sowie eventuelle Regelungen aus dem Arbeitsvertrag.

Welche Rolle spielt die Tarifgebundenheit der Vertragsparteien im Fall der Tarifkonkurrenz?

Im rechtlichen Rahmen ist entscheidend, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils tarifgebunden im Sinne des Tarifvertragsgesetzes (§ 3 TVG) sind. Tarifgebundenheit bedeutet, dass die Parteien Mitglied der tarifschließenden Organisation (z.B. Gewerkschaft, Arbeitgeberverband) sind oder ausdrücklich den Tarifvertrag in den Arbeitsvertrag einbeziehen. Liegt Tarifgebundenheit bei beiden Parteien bezüglich mehrerer Tarifverträge vor, ist zu klären, welcher Tarifvertrag Vorrang genießt. Das geschieht insbesondere nach den oben beschriebenen Konkurrenzprinzipien (Spezialität, Rangfolge, Günstigkeit). Bei fehlender Tarifgebundenheit können Tarifverträge nur über Bezugnahmeklauseln wirksam werden, sodass die rechtliche Bewertung der Tarifkonkurrenz im Einzelfall verschieden ausfallen kann.

Was sind die wichtigsten rechtlichen Prinzipien zur Lösung von Tarifkonkurrenzfällen?

Die wichtigsten Prinzipien umfassen das Spezialitätsprinzip (lex specialis), das Günstigkeitsprinzip (lex favorabilior) sowie das Rangprinzip. Das Spezialitätsprinzip besagt, dass ein spezieller Tarifvertrag Vorrang vor einem allgemeinen Vertrag hat. Das Günstigkeitsprinzip wird herangezogen, wenn Überschneidungen bestehen; es gilt dann der Tarifvertrag, der für den Arbeitnehmer günstigere Regelungen vorsieht. Das Rangprinzip greift, wenn sich beispielsweise ein Verbandstarifvertrag und ein Firmentarifvertrag gegenüberstehen – Firmentarifverträge können Verbandstarifverträgen vorgehen (§ 4 Abs. 3 TVG). Daneben können zwingende gesetzliche Vorschriften eine Rolle spielen, die ebenfalls vorrangig sind.

Wie wirkt sich eine Betriebsübergangskonstellation auf die Anwendung konkurrierender Tarifverträge aus?

Im Kontext von § 613a BGB beim Betriebsübergang entsteht nicht selten Tarifkonkurrenz, wenn der Erwerber einem anderen Tarifvertrag unterliegt als der Veräußerer. Nach Rechtsprechung und Gesetz gilt grundsätzlich, dass die beim Veräußerer anwendbaren Tarifverträge weiterhin Inhalt des Arbeitsvertrags bleiben, bis sie durch neue Tarifverträge oder eine Änderung des Arbeitsvertrags abgelöst werden. Kommen beim Erwerber weitere Tarifverträge zur Anwendung, ergibt sich eine Tarifkonkurrenz, die anhand der Konkurrenzregeln aufzulösen ist. Im Zweifel kann eine dynamische Bezugnahme auf bestimmte Tarifverträge durch sogenanntes „Tarifwechselrecht“ durchbrochen werden, wenn beispielsweise der Erwerber tarifgebunden ist, eine Gewerkschaftsmitgliedschaft der Arbeitnehmer besteht oder neue Tarifregelungen im Betrieb eingeführt werden.

Wie positioniert sich das Bundesarbeitsgericht zur Tarifkonkurrenz, insbesondere bei Tarifpluralität?

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat zur Problematik der Tarifpluralität – also der gleichzeitigen Anwendbarkeit mehrerer Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften im selben Betrieb – die sog. Einheitstheorie zugunsten des Grundsatzes der Tarifeinheit aufgegeben (siehe BAG, Urteil vom 7. Juli 2010 – 4 AZR 549/08). Dies bedeutet, dass grundsätzlich mehrere Tarifverträge parallel im Unternehmen Geltung beanspruchen können. Die Auflösung der Tarifkonkurrenz erfolgt dann jedoch nicht nach dem „Prinzip der Tarifeinheit“, sondern nach den vertraglichen Bindungen, dem Tarifvertragsgesetz und den genannten Konkurrenzprinzipien. Durch das Tarifeinheitsgesetz von 2015 (§ 4a TVG) wurde jedoch normiert, dass im Kollisionsfall der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb zur Anwendung gelangt.

Welche Bedeutung hat das Günstigkeitsprinzip in Fällen der Tarifkonkurrenz?

Das Günstigkeitsprinzip bedeutet, dass im Falle widersprechender Tarifregelungen grundsätzlich die jeweils günstigere Regelung für den Arbeitnehmer zur Anwendung kommt (§ 4 Abs. 3 TVG analog). Hierbei wird allerdings nicht der gesamte Tarifvertrag, sondern die einzelnen Regelungen (z. B. zu Lohn, Urlaub, Arbeitszeit) verglichen. Eine umfassende „Rosinenpickerei“ zugunsten des Arbeitnehmers ist jedoch ausgeschlossen. Das abwägende „Regel-Ausnahme-Prinzip“ wird angewendet, sodass nur im unmittelbaren kollidierenden Bereich das Günstigkeitsprinzip greift, während ansonsten – etwa bei unterschiedlichen Geltungsbereichen – die jeweiligen Spezialregelungen des einschlägigen Tarifvertrags zur Anwendung kommen.

Welche Folgen ergeben sich, wenn ein Tarifvertrag abgelaufen ist und ein anderer Tarifvertrag konkurriert?

Endet die Laufzeit eines Tarifvertrags, so wirkt dieser nach § 4 Abs. 5 TVG nach. Kommt es in dieser Phase zur Tarifkonkurrenz – beispielsweise durch Abschluss eines neuen Tarifvertrags oder durch gesetzliche Bezugnahme -, entstehen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer Unsicherheiten hinsichtlich des anwendbaren Rechts. In der Regel gilt: Die nachwirkenden Bestimmungen des abgelaufenen Tarifvertrags werden erst dann von einem neuen, auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag verdrängt, wenn dieser entweder kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit oder aufgrund einer Bezugnahmeklausel Gültigkeit für das Arbeitsverhältnis erlangt. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt die Nachwirkung bestehen, sodass parallele Regelungen konkurrieren können, die wiederum nach den Konkurrenzregeln aufgelöst werden müssen.