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Tarifkollision


Begriff und Grundlagen der Tarifkollision

Die Tarifkollision bezeichnet im Arbeitsrecht den Sachverhalt, dass für ein und denselben Arbeitsverhältnis mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Parteien mit inhaltlich widersprüchlichen oder sich überschneidenden Regelungen zur Anwendung gelangen. Dies führt zu der Frage, welcher Tarifvertrag im konkreten Fall Priorität genießt und auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden ist. Die Problematik gewinnt insbesondere dann an Bedeutung, wenn innerhalb eines Betriebes oder Unternehmens konkurrierende Gewerkschaften existieren, die jeweils eigenständige Tarifverträge mit dem Arbeitgeber abgeschlossen haben.

Rechtsquellen und gesetzlicher Rahmen

Das deutsche Arbeitsrecht kennt keine ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Lösung einer Tarifkollision. Vielmehr wurde deren Bewältigung über Jahrzehnte hinweg durch die Rechtsprechung entwickelt. Wesentliche Rechtsgrundlagen ergeben sich aus dem Tarifvertragsgesetz (TVG), insbesondere den Vorschriften zur Tarifgebundenheit nach § 3 TVG und zur Wirkung von Tarifverträgen gemäß § 4 TVG. Relevante zivilrechtliche Rahmenbedingungen bieten zudem das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und, unter bestimmten Voraussetzungen, das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).

Erscheinungsformen der Tarifkollision

Kollektive Tarifkollision (Betriebsebene)

Die häufigste Variante stellt die kollektive Tarifkollision dar, bei der innerhalb eines Betriebes aufgrund konkurrierender Gewerkschaften nebeneinander unterschiedliche, sich überschneidende Tarifverträge existieren. Dies tritt vor allem in Unternehmen auf, in denen mehrere Gewerkschaften für unterschiedliche Berufsgruppen, Tarifbereiche oder Betriebsstrukturen zuständig sind. Das klassische Beispiel hierfür ist der öffentliche Dienst, insbesondere bei Verkehrsbetrieben, Flughäfen oder Kliniken.

Individuelle Tarifkollision (Personalebene)

Eine individuelle Tarifkollision liegt vor, wenn auf eine Arbeitskraft persönlich mehrere Tarifverträge Anwendung finden könnten, beispielsweise, wenn sie Mehrmitglied einer Gewerkschaft ist oder Angehöriger mehrerer Berufsgruppen mit eigenen Tarifverträgen. Hierbei stellt sich das Problem, welcher Tarifvertrag mit Vorrang gilt.

Theoretische Lösungsmodelle der Tarifkollision

Zentrale Fragestellung bei der Tarifkollision ist die Ermittlung, welcher Tarifvertrag im Konfliktfall maßgeblich ist. Im Rahmen der Rechtsprechung und der arbeitsrechtlichen Literatur wurden hierzu verschiedene Lösungsansätze entwickelt:

Spezialitätsprinzip

Das Spezialitätsprinzip folgt dem Grundsatz, dass der speziellere Tarifvertrag dem allgemeineren vorgeht („lex specialis derogat legi generali“). Ein Tarifvertrag, der auf einen bestimmten Betrieb, eine Berufsgruppe oder auf spezifische Sachverhalte zugeschnitten ist, hat Vorrang vor einem allgemeinen Tarifvertrag.

Rangprinzip

Das Rangprinzip ordnet an, dass normative Normen höherrangiger Tarifverträge den Vorrang genießen. In der arbeitsrechtlichen Praxis ist dieses Prinzip jedoch von geringer Bedeutung, da Tarifverträge formal gleichrangig nebeneinander stehen.

Günstigkeitsprinzip

Das Günstigkeitsprinzip (auch „Günstigkeitsvergleich“ genannt) legt fest, dass bei kollidierenden Tarifverträgen jene Regelung anzuwenden ist, die für die betroffenen Beschäftigten günstiger ist. Diese Überlegung steht allerdings im Spannungsverhältnis zum Spezialitätsprinzip und ist nicht umfassend für sämtliche Tarifkollisionen anerkannt.

Tarifeinheit und Tarifspezifität

Tarifeinheitsgrundsatz

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelte über Jahrzehnte den Grundsatz der Tarifeinheit. Danach galt, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden kann – meist der Tarifvertrag, dem die Mehrzahl der Beschäftigten unterfällt. Dieser Grundsatz wurde jedoch 2010 durch das Bundesarbeitsgericht (BAG 23.06.2010 – 4 AZR 549/08) aufgegeben.

Tarifeinheitsgesetz

Im Jahr 2015 führte der Gesetzgeber das Tarifeinheitsgesetz ein (§ 4a TVG). Es regelt, dass im Kollisionsfall jener Tarifvertrag Anwendung findet, der von der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat (sog. Mehrheitsprinzip). Damit soll Tarifpluralität eingeschränkt und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gestärkt werden. Das Tarifeinheitsgesetz wurde 2017 vom Bundesverfassungsgericht mit gewissen Einschränkungen bestätigt, insbesondere im Hinblick auf den Minderheitenschutz kleinerer Gewerkschaften.

Praktische Bedeutung und Anwendungsfälle

Die Tarifkollision hat eine erhebliche praktische Relevanz. Sie betrifft nicht nur eine Vielzahl von Beschäftigten im öffentlichen Sektor, sondern in zunehmendem Maße auch private Unternehmen mit komplexen Betriebsstrukturen. Mit dem Erstarken von Spartengewerkschaften (z.B. Piloten, Lokführer, Pflegeberufe) steigt die Wahrscheinlichkeit konkurrierender Tarifverträge, was das Risiko widersprüchlicher Regelungen beim Mindestlohn, Arbeitszeiten, Urlaub, Kündigungsfristen und anderen Konditionen erhöht.

In der Praxis müssen Arbeitgeber sorgfältig prüfen, welcher Tarifvertrag mit welcher Gewerkschaft für welche Beschäftigtengruppe Gültigkeit besitzt. Dabei ist unter Umständen festzustellen, ob und inwieweit die Bedingungen verschiedener Tarifverträge gleichzeitig oder alternativ Anwendung finden.

Rechtsprechung zur Tarifkollision

In seiner Entscheidung aus dem Jahr 2010 (BAG 23.06.2010 – 4 AZR 549/08) hat das Bundesarbeitsgericht die formelle Tarifeinheit verworfen und anerkannt, dass mehrere Tarifverträge nebeneinander im selben Betrieb wirksam sein können. Seit Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes regelt nunmehr § 4a TVG die Lösung bei Kollisionen in einem Betrieb. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 11. Juli 2017 (1 BvR 1571/15 u.a.) die grundsätzliche Verfassungskonformität des Tarifeinheitsgesetzes bestätigt, den Gesetzgeber jedoch zu Nachbesserungen insbesondere im Bereich des Minderheitenschutzes verpflichtet.

Fazit

Die Tarifkollision ist eine zentrale Rechtsproblematik im kollektiven Arbeitsrecht und gewinnt mit zunehmender Tarifpluralität stetig an Bedeutung. Die Frage, welcher Tarifvertrag im Kollisionsfall anzuwenden ist, beantwortet sich nach einem abgestuften System aus Gesetz, Rechtsprechung und dogmatischen Prinzipien. Das Tarifeinheitsgesetz bietet eine gesetzliche Grundordnung, wobei individuelle Besonderheiten und aktuelle Entwicklungen der Rechtsprechung stets zu berücksichtigen sind. Arbeitgeber und Beschäftigte sollten sich fortlaufend über die aktuelle Rechtslage informieren, um Tarifkollisionen rechtssicher zu behandeln und tarifliche Ansprüche korrekt zu erfassen.

Häufig gestellte Fragen

Wie wird im Falle einer Tarifkollision entschieden, welcher Tarifvertrag Anwendung findet?

Im rechtlichen Kontext richtet sich die Lösung der Tarifkollision nach den speziellen Regeln des Arbeitsrechts. In Deutschland unterscheidet man grundsätzlich zwischen der sogenannten Tarifpluralität (mehrere Tarifverträge gelten für unterschiedliche Beschäftigtengruppen im selben Betrieb) und der Tarifkonkurrenz (zwei oder mehr Tarifverträge beanspruchen für denselben Arbeitnehmer bzw. dieselbe Arbeitnehmergruppe Geltung). Bei einer Tarifkonkurrenz wird häufig auf die Grundsätze des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG), des Spezialitätsprinzips und des Rangprinzips abgestellt. Das Günstigkeitsprinzip besagt, dass bei mehreren anwendbaren Tarifverträgen die für den Arbeitnehmer günstigere Regelung Anwendung findet, soweit keine Tarifabsprache zwischen den Gewerkschaften besteht, die eine eindeutige Regelung vorgibt. Das Spezialitätsprinzip legt nahe, dass speziellere Tarifverträge allgemeinen Regelungen vorgehen. Durch das Tarifeinheitsgesetz kommt zudem im Falle einer Tarifpluralität im Betrieb mittlerweile § 4a TVG zur Anwendung: Demnach gilt im Fall kollidierender Tarifverträge grundsätzlich nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat („Mehrheitsgewerkschaft“). Diese Regelungen sollen für Rechtssicherheit und klare Abgrenzungen sorgen, wobei die genaue Anwendung stets vom Einzelfall und der gerichtlichen Überprüfung abhängt.

In welchen Situationen kann es zu einer Tarifkollision kommen?

Tarifkollisionen entstehen insbesondere dann, wenn für denselben Betrieb oder dieselben Arbeitnehmergruppen mehrere unterschiedliche Tarifverträge zur Anwendung kommen könnten. Typische Konstellationen sind zum Beispiel, wenn Arbeitnehmer unterschiedlichen Gewerkschaften angehören und jeweils durch ihre Gewerkschaft einer anderen Tarifbindung unterliegen. Auch kann eine Tarifkollision auftreten, wenn ein Arbeitgeber parallel in mehreren Arbeitgeberverbänden organisiert ist oder eigene Haustarifverträge aushandelt, während gleichzeitig Flächentarifverträge bestehen. Ein weiteres klassisches Beispiel ergibt sich durch Betriebsübergänge nach § 613a BGB, wenn durch die Übernahme unterschiedliche Tarifverträge auf einen Betrieb einwirken. Die Tarifkollision kann sich ebenso aus einer Kombination von Branchen- und Spartentarifverträgen im selben Unternehmen ergeben, beispielsweise bei Funktionsgewerkschaften wie der GDL im Bahnwesen oder im Gesundheitswesen bei unterschiedlichen Berufsgruppen.

Welche Rolle spielt das Günstigkeitsprinzip bei der Lösung von Tarifkollisionen?

Das Günstigkeitsprinzip ist ein zentrales Lösungsinstrument im Rahmen der Tarifkonkurrenz. Es ist gesetzlich in § 4 Abs. 3 TVG verankert und bestimmt, dass bei mehreren normativ anwendbaren Tarifverträgen diejenige Regelung für den Arbeitnehmer gilt, die für ihn objektiv günstiger ist. Die Prüfung, was günstiger ist, erfolgt grundsätzlich regelungsbezogen und nicht im Gesamtvergleich des jeweiligen Tarifvertrags. Das heißt, jede einzelne kollidierende Regelung (z.B. zu Lohnhöhe, Urlaubsanspruch, Arbeitszeit) wird daraufhin verglichen, welche dem Arbeitnehmer vorteilhafter ist. Dieses Prinzip findet allerdings nur dann Anwendung, wenn nicht durch qualifizierte Mitgliedschaften oder anderweitige Kollisionsregeln (wie das Spezialitätsprinzip oder das Tarifeinheitsgesetz) eine klare Vorrangregelung getroffen wurde. Das Günstigkeitsprinzip ist daher subsidiär und kommt häufig erst zum Zuge, wenn andere Methoden der Konfliktlösung nicht greifen.

Was ist das Spezialitätsprinzip und wie wird es bei Tarifkollisionen angewendet?

Das Spezialitätsprinzip ist ein rechtliches Auslegungsprinzip, das zur Anwendung kommt, wenn zwei Tarifverträge auf denselben Arbeitnehmer anwendbar sind, aber unterschiedliche Sachverhalte oder Beschäftigungsgruppen regeln. Nach dem Spezialitätsprinzip hat der speziellere Tarifvertrag Vorrang vor dem allgemeineren. Das bedeutet, dass zum Beispiel ein Spartentarifvertrag – der für eine spezielle Berufsgruppe innerhalb eines Betriebs gilt – vor einem allgemeineren, für alle Beschäftigten geltenden Verbandstarifvertrag anzuwenden ist, sofern sich der spezielle Tarifvertrag ausdrücklich und abschließend auf die betreffende Personengruppe bezieht. Die Anwendung des Spezialitätsprinzips kann jedoch durch explizite Regelungen in den Tarifverträgen selbst oder durch gesetzliche Vorschriften wie das Tarifeinheitsgesetz modifiziert oder ausgeschlossen werden. Die genaue Abgrenzung, wann ein Tarifvertrag als „spezieller“ gilt, ist häufig Auslegungsfrage und wird im Streitfall durch die Arbeitsgerichte entschieden.

Welche Auswirkung hat das Tarifeinheitsgesetz auf die Lösung von Tarifkollisionen?

Das Tarifeinheitsgesetz, das durch die Ergänzung des § 4a TVG zum 10. Juli 2015 in Kraft trat, verfolgt das Ziel, bei Tarifpluralität im Betrieb die Einheitlichkeit der Tarifvertragsanwendung sicherzustellen. Nach diesem Gesetz gilt im Kollisionsfall grundsätzlich nur noch der Tarifvertrag jener Gewerkschaft, die in dem jeweiligen Betrieb die meisten Mitglieder hat (sog. Mehrheitsgewerkschaft). Der Tarifvertrag „unterlegener“ Gewerkschaften verliert insoweit seine Wirkung im Betrieb, es sei denn, für bestimmte Arbeitnehmergruppen besteht eine eigene, nicht durch den Mehrheitstarifvertrag erfasste Tarifzuständigkeit. Dieses gesetzliche Vorrangprinzip wurde eingeführt, um widersprüchliche Tarifregelungen zu vermeiden und die Handhabbarkeit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erhöhen. Die Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes ist allerdings nicht unumstritten und unterliegt weiterhin der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, insbesondere hinsichtlich der Wahrung der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG).

Welche Bedeutung hat die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in einer Gewerkschaft bei einer Tarifkollision?

Die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in einer bestimmten Gewerkschaft ist für die Tarifbindung und damit auch für die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags von zentraler Bedeutung (§ 3 Abs. 1 TVG). Im Fall konkurrierender Tarifverträge kommt grundsätzlich der Tarifvertrag jener Gewerkschaft zur Anwendung, der der Arbeitnehmer angehört, sofern der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Ist der Arbeitgeber mehreren Tarifverträgen unterworfen (z.B. durch Mitgliedschaft in mehreren Arbeitgeberverbänden oder Verhandlungen), kann dies zu einer Kollision führen, die dann nach den dargestellten Prinzipien (Tarifeinheitsgesetz, Spezialitätsprinzip, Günstigkeitsprinzip) aufgelöst wird. Die individuelle Tarifbindung des Arbeitnehmers ist daher ein maßgebliches Kriterium für die Frage, welcher Tarifvertrag letztlich anzuwenden ist. Eine „Tarifflucht“ durch Wechsel der Gewerkschaft oder durch den Abschluss von Haustarifverträgen ist jedoch gesetzlich eingeschränkt, um den Schutzzweck der Tarifbindung zu gewährleisten.

Welche Rolle spielen Arbeitsgerichte bei der Klärung von Tarifkollisionen?

Arbeitsgerichte haben eine wesentliche Rolle bei der Klärung von Tarifkollisionen, da viele Fragen zur Anwendung und Auslegung von Tarifverträgen erst im Streitfall gerichtlich geklärt werden. Dies betrifft sowohl die Beurteilung, welche Tarifverträge auf einen konkreten Sachverhalt anwendbar sind, als auch die Auslegung und Abstufung von Vorrangprinzipien wie Spezialitätsprinzip oder Günstigkeitsprinzip. Insbesondere unklare oder widersprüchliche Tarifinhalte müssen durch die Gerichte ausgelegt und im Einzelfall entschieden werden. Auch die Überprüfung gesetzlicher Regelungen wie dem Tarifeinheitsgesetz auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht erfolgt durch die Arbeitsgerichte, bis hin zum Bundesarbeitsgericht und dem Bundesverfassungsgericht. Damit sichern die Gerichte die Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Tarifvertragsanwendung in Deutschland.