Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Arbeitsrecht»Tariffähigkeit

Tariffähigkeit


Begriff und rechtliche Einordnung der Tariffähigkeit

Die Tariffähigkeit bezeichnet im deutschen Arbeitsrecht die Fähigkeit von Vereinigungen, Tarifverträge mit Wirkung für ihre Mitglieder und die jeweiligen Tarifvertragsparteien abzuschließen. Sie stellt ein wesentliches Merkmal von Tarifvertragsparteien, insbesondere Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, dar und bildet die Grundlage des kollektiven Arbeitsrechts. Die Tariffähigkeit ist im Tarifvertragsgesetz (TVG) geregelt.

Definition der Tariffähigkeit

Die Tariffähigkeit ist das Recht einer Vereinigung, als Tarifvertragspartei Tarifverträge zu schließen (§ 2 Abs. 1 TVG). Im Arbeitsrecht stellt sie die grundlegende Voraussetzung dar, um verbindliche Regelungen für Arbeitsbedingungen und Entgelt in weiten Teilen der Wirtschaft verbindlich setzen zu können. Ohne Tariffähigkeit können Vereinigungen keine tariflichen Regelungen schaffen.

Rechtsgrundlagen

Die maßgeblichen gesetzlichen Grundlagen ergeben sich aus dem Tarifvertragsgesetz (TVG). Nach dessen Vorschriften stehen ausnahmslos nur Gewerkschaften, Spitzenorganisationen von Gewerkschaften sowie Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände als mögliche tarifvertragsfähige Parteien zur Verfügung (§ 2 TVG). Die Tariffähigkeit ist somit unmittelbar an die Organisationsform und besondere Eigenschaften der Partei gebunden.

Voraussetzungen der Tariffähigkeit

Damit eine Vereinigung tariffähig im Sinne des TVG ist, müssen bestimmte Anforderungen erfüllt werden. Die Rechtsprechung, speziell das Bundesarbeitsgericht (BAG), hat die gesetzlichen Vorgaben durch weitere inhaltliche Voraussetzungen konkretisiert.

1. Eigenschaft als Vereinigung

Tariffähig sind nur Vereinigungen von Arbeitnehmern (Gewerkschaften) oder von Arbeitgebern (Arbeitgeberverbände). Einzelpersonen, etwa einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, sind nicht tariffähig. Die Vereinigung muss einen gewissen organisatorischen Zusammenhalt aufweisen, rechtlich verselbständigt sein und dauerhaft existieren. Eine lose Gruppierung ist nicht ausreichend.

2. Unabhängigkeit

Ein wesentliches Kriterium für die Tariffähigkeit ist die Unabhängigkeit der Vereinigung. Dies bedeutet, dass sie in ihrer Willensbildung nicht von außenstehenden Dritten, wie zum Beispiel Arbeitgebern oder staatlichen Stellen, beeinflusst werden darf. Die Unabhängigkeit ist zentral, um eine wirksame Vertretung der Interessen der Mitglieder gewährleisten zu können.

3. Gegenmäßigkeit

Zwischen den Parteien des Tarifvertrages muss ein Gegenseitigkeitsverhältnis („Gegenmäßigkeit“) bestehen. Das Prinzip der Gegnerfreiheit verlangt, dass Arbeitnehmervereinigungen und Arbeitgebervereinigungen als eigenständige, konträre Parteien auftreten, um die kollektive Aushandlung von Tarifverträgen sicherzustellen.

4. Durchsetzungsfähigkeit (soziale Mächtigkeit)

Eine tariffähige Vereinigung muss nach ständiger Rechtsprechung des BAG „sozial mächtig“ sein, d. h. über eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber ihrem Tarifpartner verfügen. Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit, notfalls zum Arbeitskampf (Streik, Aussperrung) aufrufen zu können. Die Organisation muss ausreichend Mitglieder sowie eine nachhaltige organisatorische Struktur vorweisen.

5. Zweckgerichtetheit auf Tarifverträge

Die Vereinigung muss den Abschluss von Tarifverträgen als hauptsächlichen Zweck verfolgen. Sie muss in der Lage und willens sein, Arbeitsbedingungen geregelt aushandeln und verbindlich festlegen zu können. Vereinigungen, die lediglich beratende oder sonstige Aufgaben erfüllen, können keine Tariffähigkeit erlangen.

Prüfung und Feststellung der Tariffähigkeit

Antragstellung und Beteiligte

Die Tariffähigkeit wird nicht automatisch durch eine staatliche Stelle verliehen, vielmehr ist sie eine rechtliche Eigenschaft, die im Streitfall von Gerichten festgestellt werden kann. Die Klärung erfolgt grundsätzlich durch Feststellungsklage vor den Arbeitsgerichten (§ 2a ArbGG). Antragsberechtigt sind insbesondere konkurrierende Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigungen sowie betroffene Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Ablauf der Feststellung

Im gerichtlichen Verfahren wird geprüft, ob die jeweiligen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Tariffähigkeit erfüllt sind. Dabei werden insbesondere Satzung, Mitgliederstruktur, Organe und Unabhängigkeit der Vereinigung untersucht. Maßgeblich ist stets die tatsächliche Situation im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.

Folgen des Verlusts oder Fehlens der Tariffähigkeit

Stellt ein Gericht die Tariffähigkeit einer Partei für die Zukunft oder Vergangenheit ab einem bestimmten Zeitpunkt fest, sind damit weitreichende Auswirkungen verbunden. Fehlt es an der Tariffähigkeit, sind der Partei abgeschlossene Tarifverträge insgesamt unwirksam. Im Falle des Entzugs kann die betroffene Organisation keine neuen Tarifverträge mehr abschließen; bestehende Vereinbarungen werden nichtig, soweit sie nach dem Verlust abgeschlossen wurden.

Tariffähigkeit von Gewerkschaften

Voraussetzungen im Detail

Bei Gewerkschaften stellt die Tariffähigkeit die maßgebliche Rechtsgrundlage für ihr Bestehen und Wirken im System der Tarifautonomie dar. Nicht jede Interessenvertretung der Arbeitnehmer ist automatisch tariffähig. Entscheidend sind Mitgliederstärke, nachhaltige Organisationsstrukturen, Freiheit von außenstehenden Einflüssen und konsequente Vertretung kollektiver Interessen.

Problemfälle: „gelbe“ und „arbeitgebernahe“ Gewerkschaften

Die Tariffähigkeit wird von der Rechtsprechung grundsätzlich Gewerkschaften verweigert, die unter maßgeblichem Einfluss des Arbeitgebers stehen oder vorrangig arbeitgebernahe Interessen verfolgen. Solche Organisationen, oft als „gelbe Gewerkschaften“ bezeichnet, verfehlen die notwendige Unabhängigkeit und Gegenmäßigkeit.

Kleinere Gewerkschaften

Auch kleinere Gewerkschaften wie Spartengewerkschaften oder berufsgruppenbezogene Vereinigungen können tariffähig sein, sofern sie die sozial-mächtige Stellung sowie die weiteren Voraussetzungen vorweisen. Die Tarifpluralität in Betrieben durch originale Tariffähigkeit mehrerer verschiedener Gewerkschaften ist in Deutschland grundsätzlich zulässig.

Tariffähigkeit der Arbeitgeberseite

Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände

Auf Arbeitgeberseite kommt die Tariffähigkeit sowohl einzelnen Arbeitgebern (häufig im Bereich des Verbandsaustritts erlangt) als auch Arbeitgeberverbänden zu. Maßgeblich sind ebenfalls organisatorische Selbständigkeit, Mitgliederstärke und Verfolgung eines einheitlichen Tarifzwecks. Spitzenverbände können tariffähig sein, sofern sie dies in ihrer Satzung vorsehen und ihre Mitgliedsverbände mit ausreichend Kompetenzen ausgestattet sind.

Unternehmensbezogene Arbeitnehmervereinigungen

Vereinzelt können auch unternehmensbezogene Arbeitnehmervereinigungen tariffähig sein, sofern sie hinreichend unabhängig agieren und nicht lediglich als „verlängerter Arm“ der Unternehmensinteressen auftreten.

Grenzen und Bedeutung der Tariffähigkeit

Auswirkung auf Tarifverträge

Die Tariffähigkeit ist eine zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit und Bindungswirkung von Tarifverträgen (§ 1 TVG). Ohne tariffähige Parteien kann weder ein wirksamer Abschluss noch eine ordnungsgemäße Durchführung des Tarifvertrages erfolgen. Die Tariffähigkeit schützt die Tarifautonomie als Bestandteil der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz.

Veränderung der Tariffähigkeit im Zeitablauf

Die Tariffähigkeit kann sich im Laufe der Zeit durch organisatorische oder strukturelle Veränderungen der Vereinigung ändern. Beispielsweise kann eine ursprünglich tariffähige Organisation durch Fusion, Austritt vieler Mitglieder, Satzungsänderungen oder Übernahme durch Dritte ihre Tariffähigkeit verlieren.

Rechtsprechung und praktische Beispiele

Die Rechtsprechung, namentlich das Bundesarbeitsgericht, hat die Anforderungen an die Tariffähigkeit im Laufe der Jahre anhand konkreter Fallgestaltungen weiterentwickelt. Beispielhaft stehen Verfahren um kleinere Spartengewerkschaften, arbeitgebernahe Arbeitnehmervereinigungen oder die Anerkennung neuer Verbände.

Zusammenfassung

Die Tariffähigkeit ist eine zentrale Rechtsvoraussetzung für die kollektive Aushandlung und Festlegung von Arbeitsbedingungen im deutschen Arbeitsrecht. Sie definiert, welche Vereinigungen als Tarifvertragsparteien eigenständig Tarifverträge abschließen dürfen. Die gesetzlichen Bestimmungen und richterrechtlichen Voraussetzungen sichern die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, indem sie auf organisatorische Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der Parteien abstellen. Die Überprüfung und Feststellung der Tariffähigkeit ist Gegenstand gerichtlicher Kontrolle und damit ein fortschreitendes Rechtsgebiet, mit erheblicher Bedeutung für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und ihren jeweiligen Interessenvertretungen.

Häufig gestellte Fragen

Welche gesetzlichen Voraussetzungen müssen für die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft erfüllt sein?

Damit eine Gewerkschaft tariffähig ist, muss sie gemäß der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die im Gesetz nur angedeutet, aber durch die Gerichte präzisiert wurden. Im Zentrum steht § 2 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG), wobei entscheidend ist, ob eine Vereinigung genügend organisiert, gegliedert, unabhängig und leistungsfähig ist, um als Tarifvertragspartei auf Arbeitgeberseite auftreten zu können. Eine tariffähige Gewerkschaft muss deshalb zum einen auf überbetrieblicher Ebene bestehen, also nicht bloß eine betriebliche Interessenvertretung sein. Sie benötigt eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler – konkret also eine Mindestanzahl an Mitgliedern, eine handlungsfähige Organisationsstruktur sowie die finanzielle und organisatorische Unabhängigkeit von Dritten. Ihre organisatorische Selbstständigkeit ist ebenso Voraussetzung wie das Vorliegen gesicherter Willensbildungsmechanismen, einen gewählten Vorstand und die Offenheit für eine breite Mitgliederbasis innerhalb des vorgesehenen Wirkungsbereichs.

Welche Bedeutung hat die Tariffähigkeit für die Wirksamkeit eines Tarifvertrags?

Die Tariffähigkeit wirkt sich unmittelbar auf die Rechtsgültigkeit eines Tarifvertrags aus. Nach § 1 TVG können Tarifverträge nur zwischen tariffähigen Parteien abgeschlossen werden. Fehlt diese Tariffähigkeit, ist der Tarifvertrag nichtig (§ 134 BGB i.V.m. § 1 TVG). Das schützt die Tarifautonomie, indem verhindert wird, dass nicht wirklich repräsentative Vereinigungen oder solche ohne ausreichende Durchsetzungskraft Tarifverträge mit Wirkung für eine größere Personengruppe schließen. Insbesondere das Gleichgewicht der sozialen Gegenspieler wird auf diese Weise gewährleistet. Die Prüfung der Tariffähigkeit hat daher zentrale Bedeutung in arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen, da eine fehlende Tariffähigkeit zur Unwirksamkeit sämtlicher darauf gestützter Abreden führt. Arbeitsgerichte dürfen die Tariffähigkeit ex officio prüfen.

Können auch kleinere Arbeitnehmervereinigungen tariffähig sein?

Nach der Rechtsprechung ist Tariffähigkeit grundsätzlich keine Frage der Größe allein, dennoch spielt die Mitgliederzahl eine erhebliche Rolle. Auch kleine Arbeitnehmervereinigungen können formell tariffähig sein, sofern sie über die erforderliche Durchsetzungskraft und Organisationsstruktur verfügen. Maßgeblich ist, ob sie „sozial mächtig“ genug sind, um mit der Arbeitgeberseite auf Augenhöhe Tarifverhandlungen zu führen und gegebenenfalls einen Arbeitskampf zu organisieren. Diese Fähigkeit hängt von der Mitgliederzahl im jeweiligen Wirkungsbereich, aber auch von Faktoren wie Organisationsgrad, Infrastruktur und finanzieller Unabhängigkeit ab. In der Vergangenheit hat das BAG etwa die Tariffähigkeit von sog. „Spartengewerkschaften“ wie der GDL anerkannt, sofern sie die genannten Voraussetzungen erfüllen.

Wie wird die Tariffähigkeit einer Vereinigung gerichtlich überprüft?

Die Überprüfung der Tariffähigkeit erfolgt in Deutschland durch die Arbeitsgerichte in einem besonderen Beschlussverfahren gemäß § 2a Abs. 1 Nr. 4 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). Jede betroffene tariffähige Vereinigung, ein Arbeitgeber oder ein Arbeitgeberverband kann einen entsprechenden Antrag stellen. Das Verfahren ist auf Feststellung der Tariffähigkeit (bzw. der Tarifunfähigkeit) gerichtet und unterliegt von Amts wegen der vollständigen Sachverhaltsaufklärung (Amtsermittlungsgrundsatz). Im Verfahren prüft das Gericht sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen und bewertet unter anderem Satzung, Mitgliedschaft, Strukturen der Willensbildung und Organisation sowie finanzielle Verhältnisse und tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit der Vereinigung.

Welche Auswirkungen hat der Verlust der Tariffähigkeit auf bereits geschlossene Tarifverträge?

Verliert eine Gewerkschaft oder ein Arbeitgeberverband nach Abschluss eines Tarifvertrags die Tariffähigkeit, wirkt sich dies im Regelfall nicht rückwirkend auf die Gültigkeit des bereits geschlossenen Tarifs aus. Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrags. War zu diesem Zeitpunkt die Tariffähigkeit gegeben, bleibt der Vertrag wirksam. Erst für die Zukunft, also für neue Tarifverträge oder nachträgliche Änderungen des bestehenden Tarifwerks, kann die fehlende Tariffähigkeit Bedeutung gewinnen und zur Nichtigkeit darüber hinaus abgeschlossener Vereinbarungen führen.

Welche Rolle spielt die Tariffähigkeit im Zusammenhang mit der Tarifeinheit?

Die Tariffähigkeit jeder beteiligten Arbeitnehmervereinigung ist eine zentrale Voraussetzung im Kontext der Tarifeinheit, also der Frage, welcher Tarifvertrag bei konkurrierenden Tarifverträgen in einem Betrieb Anwendung findet. Das Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz, § 4a TVG) stellt darauf ab, ob konkurrierende Tarifverträge mit jeweils tariffähigen Parteien abgeschlossen wurden. In diesem Kontext prüft das Arbeitsgericht sowohl die Tariffähigkeit im engeren Sinn als auch die Repräsentativität und Mehrheitsfähigkeit jeder Gewerkschaft – fallen hier Unklarheiten oder Zweifel über die Tariffähigkeit einer Partei auf, führt dies zu erheblichen Unsicherheiten bezüglich der Anwendbarkeit konkurrierender Tarifverträge. Die Feststellung der Tariffähigkeit ist daher auch für die Praxis der Tarifeinheit essentiell.