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Stuttgarter Verfahren


Begriff und Überblick: Das Stuttgarter Verfahren

Das Stuttgarter Verfahren ist ein steuerliches Bewertungsverfahren, das in Deutschland insbesondere für die Ermittlung des gemeinen Werts von Anteilen an Kapitalgesellschaften im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie der Grunderwerbsteuer verwendet wurde. Dieses Verfahren galt von 1974 bis 2008 als das zentrale Verfahren zur Ermittlung des Unternehmenswerts bei nicht notierten, also nicht börsengehandelten Aktiengesellschaften und GmbHs.

Der Name „Stuttgarter Verfahren“ leitet sich von seinem Ursprungsort, der Oberfinanzdirektion Stuttgart, ab, die maßgeblich an der Entwicklung des Bewertungsmodells beteiligt war. Mit Inkrafttreten des Erbschaftsteuerreformgesetzes 2008 wurde das Stuttgarter Verfahren durch das sog. „vereinfachte Ertragswertverfahren“ ersetzt. Dennoch spielt das Verfahren in der steuerrechtlichen Praxis weiterhin eine Rolle bei Altfällen und nachfolgenden Korrekturen.

Ziel und Anwendungsbereich

Das Stuttgarter Verfahren wurde entwickelt, um einen objektiven Unternehmenswert für steuerliche Zwecke festzustellen, sofern kein Marktpreis, beispielsweise durch eine Börsennotierung, existiert. Typische Anwendungsbereiche waren die Bewertung von Anteilen an nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften im Zusammenhang mit:

  • Erbschaftsteuer
  • Schenkungsteuer
  • Grunderwerbsteuer

Ziel war es, eine möglichst realitätsnahe und nachvollziehbare Unternehmensbewertung unter Berücksichtigung der steuerlichen Vorgaben sicherzustellen.

Rechtliche Grundlagen

Gesetzliche Verankerung

Das Stuttgarter Verfahren ist rechtlich in diversen Verwaltungsvorschriften, insbesondere in den maßgeblichen Richtlinien zur Bewertung des Betriebsvermögens, konkretisiert worden:

  • § 11 Abs. 2 Bewertungsgesetz (BewG) in der bis 2008 geltenden Fassung, bestimmte das Stuttgarter Verfahren als einheitliche Bewertungsmethode.
  • Die Anwendung wurde durch Verwaltungsanweisungen, insbesondere die Stuttgarter-Verfahren-Richtlinien (Stuttgarter Verfahren – RdErl. v. 18.10.1974, BStBl I S. 535), geregelt.

Mit dem Jahressteuergesetz 1997 und insbesondere durch das Erbschaftsteuerreformgesetz 2008 wurde das Verfahren durch neue Bewertungsmodelle ersetzt (z.B. vereinfachtes Ertragswertverfahren nach § 199 ff. BewG n.F.). Für Bewertungsstichtage bis einschließlich 31.12.2008 und Altfälle ist das Stuttgarter Verfahren nach wie vor relevant.

Übergangsregelungen und Bedeutung in Altfällen

Altfälle mit Bewertungsstichtagen bis einschließlich 31. Dezember 2008 werden weiterhin nach dem Stuttgarter Verfahren behandelt, sofern keine Umstellung auf das neue Bewertungsrecht erfolgt ist. In der Rechtsprechung sowie in Verwaltungsanweisungen werden entsprechende Übergangsregelungen klar definiert.

Bewertungsmethodik

Grundzüge der Bewertung

Das Stuttgarter Verfahren beruht auf einer Kombination aus Substanzwert und Ertragswert des Unternehmens, wobei regelmäßig eine Orientierung am Ertragswert vorgenommen wird. Der Ertragswert orientiert sich an den durchschnittlichen, nachhaltig erzielbaren Erträgen des jeweiligen Unternehmens.

Berechnung des Ertragswerts

  • Ermittlung des nachhaltig erzielbaren Ertrags: Grundlage bilden in der Regel die Jahresüberschüsse der letzten drei Wirtschaftsjahre vor dem Bewertungsstichtag, ggf. angepasst um einmalige oder außerordentliche Posten.
  • Kapitalisierungsfaktor: Der nachhaltige Ertrag wird mit einem Kapitalisierungsfaktor multipliziert, welcher dem zehnfachen Kapital entspricht.

Ergänzende Wertansätze

Neben dem Unternehmenswert werden nicht betriebsnotwendiges Vermögen und Sonderposten separat bewertet und zum Unternehmenswert hinzuaddiert.

Berücksichtigung persönlicher Faktoren

Beim Stuttgarter Verfahren wurden auch persönliche Faktoren, wie Minderheitsbeteiligungen, Vinkulierungsklauseln oder Satzungsbeschränkungen berücksichtigt und wertmindernd in Abzug gebracht, um die eingeschränkte Verwertbarkeit oder Veräußerbarkeit der Beteiligung abzubilden.

Substanzwert als Untergrenze

Falls der nach dem Stuttgarter Verfahren ermittelte Wert unter dem Substanzwert des Unternehmens lag, konnte im Einzelfall auch der Substanzwert als Mindestwert angesetzt werden.

Anpassungen und Modifikationen

  • Beispiel Modifikationen: Kam in Ausnahmefällen ein niedrigerer Ertragswert in Betracht, sahen die Richtlinien entsprechende Bewertungsabschläge und Modifizierungen vor.
  • Klare Ablehnung von Marktwerten: Der Ansatz tatsächlich vereinbarter Kaufpreise wurde grundsätzlich ausgeschlossen, sofern diese nicht nachvollziehbar und ausreichend dokumentiert waren.

Rechtsprechung und Anwendungspraxis

Entscheidungen der Finanzgerichte

Die Bewertung nach dem Stuttgarter Verfahren war häufig Gegenstand finanzgerichtlicher Überprüfung, insbesondere hinsichtlich der richtigen Auswahl und Gewichtung der Ertragsparameter sowie der Berücksichtigung von Sonderfällen (z. B. strukturelle Veränderungen des Unternehmens, außergewöhnliche Ausschüttungen). Die höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere der Bundesfinanzhof (BFH), konkretisierte die Anwendung und Auslegung der Bewertungsrichtlinien fortlaufend.

Verwaltungsanweisungen

Die Finanzverwaltung konkretisierte das Verfahren durch fortlaufende Erlasse und Anwendungsschreiben, um einen bundeseinheitlichen Bewertungsrahmen zu gewährleisten. Diese Orientierung hatte zentrale Bedeutung für die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen.

Ablösung durch die Erbschaftsteuerreform 2008

Mit Wirkung zum 1. Januar 2009 wurde das Stuttgarter Verfahren durch das sogenannte vereinfachte Ertragswertverfahren abgelöst. Das neue Verfahren orientiert sich stärker an betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und berücksichtigt, anders als das Stuttgarter Verfahren, ferner auch die aktuelle Kapitalmarktsituation und den Unternehmenswert, wie er bei einem Verkauf zu erzielen wäre.

Vergleich mit dem neuen Bewertungsrecht

Das neue Bewertungsrecht nach § 199 ff. BewG unterscheidet sich wesentlich vom Stuttgarter Verfahren, indem der Fokus nun auf tatsächliche Marktdaten, vorausschauende Ertragsprognosen und individuell ermittelte Kapitalisierungszinssätze gelegt wird. Dennoch bildet das Stuttgarter Verfahren weiterhin einen bedeutenden Ausgangspunkt für die Bewertungspraxis und bietet aus rechtshistorischer Sicht Einblick in die Entwicklung der Unternehmensbewertung im Steuerrecht.

Bedeutung und Kritik

Das Stuttgarter Verfahren wurde in der steuerlichen Praxis vielfach kritisiert, vor allem wegen der pauschalierten Annahmen und festen Kapitalisierungsfaktoren, die unternehmerische Risiken und die individuelle Situation des jeweiligen Betriebs oftmals unzureichend berücksichtigten. Gleichwohl schätzte die Praxis die hohe Standardisierung und rechtssichere Anwendung, die den Verfahrensablauf für Bewertende und Finanzverwaltung deutlich vereinfachte und an Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit orientierte.

Fazit

Das Stuttgarter Verfahren war in Deutschland über Jahrzehnte hinweg das maßgebliche Bewertungsverfahren für Anteile an nicht notierten Kapitalgesellschaften zu steuerlichen Zwecken. Es bot einen objektivierten Rahmen und garantierte einheitliche Bewertungsmaßstäbe, wurde aber letztlich aus Gründen der Modernisierung und Anpassung an aktuelle betriebswirtschaftliche Standards abgelöst. Im steuerlichen Bewertungsrecht bleibt das Verfahren insbesondere für Altfälle von Relevanz und stellt ein wichtiges Kapitel im deutschen Steuerrecht dar.


Siehe auch:

  • Erbschaftsteuer
  • Bewertungsgesetz (BewG)
  • Ertragswertverfahren
  • Unternehmensbewertung steuerlich

Literatur:

  • Kommentar zum Bewertungsgesetz und Erbschaftsteuergesetz
  • Handbuch der Unternehmensbewertung
  • Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Stuttgarter Verfahren

Häufig gestellte Fragen

Wie wird das Stuttgarter Verfahren rechtlich in der Erbschaft- und Schenkungsteuer angewendet?

Das Stuttgarter Verfahren ist ein gesetzlich anerkanntes Bewertungsverfahren, das insbesondere für die Bewertung von Anteilen an Kapitalgesellschaften herangezogen wurde, wenn keine zeitnah gehandelten Börsenkurse vorlagen. Im rechtlichen Kontext wurde das Verfahren in den Vorschriften des Bewertungsgesetzes (BewG), insbesondere in der vorherigen Fassung des § 11 BewG, geregelt. Es legte detailliert dar, wie das jeweilige Unternehmensvermögen, das Ertragspotenzial und die Struktur von Beteiligungen zu berücksichtigen sind, um einen steuerlich anzuerkennenden Wert für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu ermitteln. Das Verfahren stellte sicher, dass eine objektive und nachvollziehbare Methode zur Verfügung steht, um den gemeinen Wert (steuerlicher Verkehrswert) der Anteile zu bestimmen, wenn der Marktpreis nicht ermittelbar ist. Seit der Reform des Erbschaftsteuerrechts ist das Stuttgarter Verfahren zwar grundsätzlich durch das sog. vereinfachte Ertragswertverfahren gemäß § 199 ff. BewG abgelöst, es findet jedoch für Altfälle und in bestimmten Übergangsvorschriften weiterhin Anwendung und bleibt in gerichtlichen Auseinandersetzungen ein relevanter Argumentations- und Bezugsrahmen.

Welche Angriffs- und Verteidigungsstrategien bieten sich im rechtlichen Streit um den nach dem Stuttgarter Verfahren ermittelten Wert?

Im Rahmen von erbschaft- und schenkungsteuerlichen Streitigkeiten, in denen das Stuttgarter Verfahren herangezogen wurde, ergeben sich verschiedene rechtliche Ansatzpunkte zur Anfechtung oder Verteidigung des festgesetzten Unternehmenswertes. Aus Sicht eines Steuerpflichtigen kann die Rüge einer unsachgemäßen Anwendung des Rechenwerks, eine fehlerhafte Berücksichtigung von Bilanzpositionen oder die Nichtanwendung gebotener Abschläge (etwa bei fehlender Verkehrsfähigkeit von Anteilen oder Sonderabschlägen für Minderheitsbeteiligungen) hervorgehoben werden. Auch lässt sich die nachträgliche Berücksichtigung tatsächlicher Wertverhältnisse („subjektiver Nachweis“ gemäß früherer BewG-Regelungen) ins Feld führen, um einen niedrigeren Wertansatz durchzusetzen. Auf Behördenseite oder im Rahmen der gerichtlichen Verteidigung wird häufig argumentiert, dass das Verfahren rechtlich verbindlich und normiert ist und somit Verlässlichkeit und Einheitlichkeit im Bewertungsprozess gewährleistet. Es stehen darüber hinaus Fragen der Verfassungsmäßigkeit und etwaiger Gleichbehandlung zur Disposition, insbesondere dann, wenn Steuerpflichtige das Verfahren im Nachhinein als steuerschädlich beurteilen und Alternativverfahren verlangen.

Inwieweit sind Urteilssprüche und verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zum Stuttgarter Verfahren für aktuelle Bewertungen relevant?

Gerichtliche Entscheidungen zum Stuttgarter Verfahren besitzen weiterhin erhebliche Relevanz für Altfälle sowie für die Auslegung von Bewertungsfragen in vergleichbaren Sachverhalten. Insbesondere Grundsatzurteile des Bundesfinanzhofs (BFH) und einschlägiger Finanzgerichte geben Aufschluss darüber, wie der Gesetzgeber Intentionen und spezifische Bewertungsansätze auslegt und welche Voraussetzungen für die Abweichung vom Standardverfahren erfüllt sein müssen. Diese Judikatur findet zudem Anwendung auf solche Fälle, in denen das Stuttgarter Verfahren mangels eines anwendbaren neuen Bewertungsverfahrens als sachgerechte Lösung angesehen wird oder im Rahmen des sog. subjektiven Nachweises ein niedrigerer gemeiner Wert nachgewiesen wird. Die Rechtsprechung präzisiert insbesondere die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe wie „gemeiner Wert“ und „maßgeblicher Zeitpunkt“, was weiterhin für Berater und betroffene Mandanten im Vorfeld von steuerlichen Gestaltungen und Nachfolgeregelungen von Bedeutung ist.

Welche Dokumentationspflichten und Beweislastverteilungen bestehen im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Verfahren aus rechtlicher Sicht?

Die steuerlichen Dokumentationspflichten beim Einsatz des Stuttgarter Verfahrens sind aus rechtlicher Sicht streng geregelt. Beteiligte müssen sämtliche zur Bewertung herangezogenen Unterlagen, insbesondere Jahresabschlüsse, Gewinn- und Verlustrechnungen der maßgeblichen Jahre, sowie Bewertungsprotokolle und ggf. Gutachten, vollständig und nachvollziehbar einreichen. Im Rahmen des subjektiven Nachweises eines niedrigeren gemeinen Werts nach früherem Recht obliegt die Beweislast dem Steuerpflichtigen, was bedeutet, dass er substantiiert darlegen und belegen muss, warum der nach Stuttgarter Verfahren ermittelte Wert nicht den tatsächlichen Wertverhältnissen entspricht. Aufbehördlicher Seite ist hingegen zu dokumentieren, dass sämtliche gesetzlichen Vorgaben bei der Anwendung des Verfahrens eingehalten wurden, um einer Anfechtung im Rechtsmittelverfahren standzuhalten.

Welche Rolle spielte das Stuttgarter Verfahren in Verfassungsbeschwerden und Gesetzesreformen?

Das Stuttgarter Verfahren war mehrfach Gegenstand von Verfassungsbeschwerden, insbesondere hinsichtlich des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Artikel 3 GG) sowie der Bewertungsgrundsätze im Lichte des tatsächlichen Marktwerts. Kritisiert wurde, dass das Verfahren als pauschalisierte Standardmethode nicht immer den realen Wertverhältnissen Rechnung trug und somit teilweise zu Über- oder Unterbewertungen führte, mit entsprechend ungleichmäßigen Steuerbelastungen. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken haben neben ökonomischen Erwägungen wesentlich zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts beigetragen, wobei in der Folge das Stuttgarter Verfahren als verbindliches Standardverfahren abgelöst und durch ein stärker am Ertragswert orientiertes Verfahren ersetzt wurde. Die Argumentationslinien aus diesen Verfahren spielen heute noch bei der rechtlichen Beurteilung von Bewertungsmethoden und deren Angemessenheit eine wesentliche Rolle.

Bis zu welchem Zeitpunkt sind rechtliche Einwendungen gegen die Verwendung des Stuttgarter Verfahrens zulässig?

Rechtliche Einwendungen gegen den mittels Stuttgarter Verfahren ermittelten Wert können grundsätzlich nur innerhalb der Einspruchs- bzw. Klagfrist gegen die ergehenden Steuerbescheide (Erbschaftsteuerbescheid/Schenkungsteuerbescheid) geltend gemacht werden. Diese Frist beträgt in der Regel einen Monat ab Zugang des Bescheides. Innerhalb dieser Frist ist es steuerlich zulässig, form- und fristgerecht sowohl materielle als auch formelle Fehler sowie fehlerhafte Wertansätze und methodische Mängel zu monieren. Nach Ablauf der Frist kommt nur noch eine Korrektur im Rahmen der steuerlichen Korrekturvorschriften (insbesondere §§ 172 ff. AO) in Frage, was jedoch an enge Voraussetzungen gebunden ist, wie etwa das Vorliegen von neuen Tatsachen oder offenbaren Unrichtigkeiten. Die Wahrung der Fristen und die ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung sind daher von zentraler Bedeutung für die effektive Rechtswahrnehmung.