Selektive Vertriebssysteme: Definition und Grundlagen
Selektive Vertriebssysteme sind organisationsrechtliche Gestaltungen, bei denen ein Anbieter von Waren oder Dienstleistungen seine Produkte ausschließlich an ausgewählte Wiederverkäufer oder Händler vertreibt, die bestimmte, klar definierte qualitative oder quantitative Kriterien erfüllen. Im Gegensatz zu offenen Vertriebssystemen, bei denen jeder Interessent Händler werden kann, setzen selektive Vertriebssysteme eine gezielte Auswahl und Zulassung voraus. Dieses Vertriebskonzept wird insbesondere bei hochwertigen oder erklärungsbedürftigen Produkten wie Elektronik, Fahrzeugen, Luxusgütern und Kosmetika eingesetzt.
Rechtlicher Rahmen selektiver Vertriebssysteme
Europäisches Kartellrecht
Selektive Vertriebssysteme sind im Lichte des europäischen Kartellrechts zu betrachten, insbesondere im Hinblick auf das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Kartellrechtlich problematisch sind selektive Vertriebssysteme, wenn sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen oder den Wettbewerb verhindern, einschränken oder verfälschen können.
Gemäß der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) Nr. 2022/720) sind selektive Vertriebssysteme bis zu einer Marktanteilsschwelle von 30 % des Anbieters und des jeweiligen Händlers grundsätzlich freigestellt, sofern die Auswahlkriterien nach objektiven Gesichtspunkten, einheitlich und diskriminierungsfrei angewendet werden.
Zulässigkeit und Anforderungen
- Objektive Auswahlkriterien: Kriterien müssen sachlich, einheitlich, diskriminierungsfrei und transparent definiert sein, etwa bezüglich Beratungsqualität, Service, Ausstattung, Mitarbeiterschulung oder räumlicher Gegebenheiten.
- Keine übermäßigen Beschränkungen: Beschränkungen der Anzahl oder der Auswahl der Vertriebspartner müssen sachlich gerechtfertigt sein und dürfen nicht über das Erforderliche hinausgehen.
- Schutz des Markenimages: Voraussetzung für die Zulässigkeit ist regelmäßig, dass das System notwendig ist, um die Qualität der Produkte zu bewahren oder ein bestimmtes Markenimage zu sichern.
Deutsches Kartellrecht
Entsprechende Vorgaben enthält das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Nach § 1 GWB sind Vereinbarungen, welche den Wettbewerb beschränken, grundsätzlich unzulässig. § 2 Abs. 1 GWB nimmt jedoch Verweisungen auf die europarechtlichen Gruppenfreistellungen vor. Die Anwendungspraxis beruht daher im Wesentlichen auf den zuvor umrissenen unionsrechtlichen Vorgaben.
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass selektive Vertriebssysteme zulässig sein können, sofern sie erforderlich sind, um bestimmte legitime Qualitätsstandards zu sichern. Maßgebliche Urteile wie „Metro I“ und „Pierre Fabre“ präzisieren die rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf den Schutz des Qualitätsanspruchs und die Beurteilung von Online-Vertriebskanälen.
Selektive Vertriebsbindungen und Online-Handel
Die Einbindung oder der Ausschluss von Online-Vertriebskanälen innerhalb selektiver Systeme ist ein zentrales Thema der aktuellen Diskussion. Laut EuGH, insbesondere im Urteil „Coty Germany“, kann ein Verbot des Vertriebs über bestimmte Drittplattformen (z. B. Amazon, eBay) unter bestimmten Bedingungen zulässig sein, sofern dies zur Wahrung des Luxusimages erforderlich erscheint. Pauschale Verbote des Online-Vertriebs sind hingegen regelmäßig unzulässig.
Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme
Qualitative und quantitative Selektivität
- Qualitative Selektivität: Auswahl nach objektiven, produktspezifischen Anforderungen wie Fachpersonal, Präsentation, bestimmte technische Standards oder Beratungsleistung.
- Quantitative Selektivität: Beschränkung auf eine bestimmte Anzahl von Händlern pro Region oder Gebiet, meist zur Sicherung der Beratungsqualität und des Markenimages.
Vertragliche Gestaltung
Das selektive Vertriebssystem wird regelmäßig durch entsprechende Händlerverträge umgesetzt. Diese enthalten detaillierte Regelungen zu:
- Auswahl- und Aufnahmeverfahren
- Einhaltung der Vertriebsstandards
- Kontroll- und Sanktionsmechanismen (z. B. Vertragsstrafen, Ausschlussmöglichkeiten)
- Vorgaben zum Markenauftritt und zur Warenpräsentation
Speziell zum Schutz vor Umgehungen enthalten die Verträge vielfach Klauseln, die den Vertrieb an nicht-autorisierte Händler oder den Verkauf über unzulässige Kanäle untersagen.
Selektive Vertriebssysteme und das deutsche Vertragsrecht
Bindung an Händler
Die Teilnahme am selektiven Vertriebssystem stellt ein Dauerschuldverhältnis dar. Die Beendigung solcher Verträge unterliegt dem Vertragsrecht und den hierfür maßgeblichen gesetzlichen und vertraglichen Kündigungsregelungen. Unwirksame oder unangemessen benachteiligende Vertragsklauseln können nach §§ 305 ff. BGB, sofern es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, unwirksam sein.
Wettbewerbsrechtliche Aspekte
Verstöße gegen ein selektives Vertriebssystem können nicht nur vertragsrechtliche, sondern auch lauterkeitsrechtliche Folgen nach sich ziehen. Dies betrifft insbesondere die unlautere Nachahmung im Vertrieb oder die Ausnutzung des selektiven Vertriebsnetzwerks durch externe Dritte („Störerhaftung“).
Sanktionierung bei Verstößen
Die Nichteinhaltung der im selektiven Vertriebssystem festgelegten Kriterien oder Vertriebskanäle kann sowohl zivilrechtliche Haftung als auch kartellrechtliche Bußgelder nach sich ziehen. Verstöße können zudem Schadensersatzansprüche der beteiligten Marktteilnehmer auslösen.
Marktpraktische Bedeutung selektiver Vertriebssysteme
Selektive Vertriebssysteme dienen nicht nur dem Marken- und Qualitätsmanagement, sondern auch der Kontrolle über die Preisgestaltung sowie der Vorbeugung gegen Parallelimporte und Grey Market Aktivitäten. Gleichzeitig muss ihre Ausgestaltung stets kartellrechtlich abgewogen werden, da eine unerlaubte Wettbewerbsbeschränkung erhebliche Sanktionen nach sich ziehen kann.
Zusammenfassung
Selektive Vertriebssysteme stellen ein bedeutendes Instrument der Vertriebssteuerung dar, das nach den Vorgaben des europäischen und deutschen Kartellrechts unter strengen Voraussetzungen zulässig ist. Maßgeblich für ihre Zulässigkeit sind objektive, nachvollziehbare Anforderungen an die Vertriebspartner, die zur Wahrung der Produktqualität und des Markenimages erforderlich sind. Die vertragliche Umsetzung ist detailliert zu gestalten und erfordert neben klaren Auswahl- und Kontrollmechanismen insbesondere die Beachtung aller wettbewerbsrechtlichen Schranken. Die fortschreitende Bedeutung digitaler Vertriebswege stellt selektive Vertriebssysteme auch künftig vor dynamische Herausforderungen hinsichtlich ihrer kartellrechtlichen Zulässigkeit und praktischen Umsetzbarkeit.
Häufig gestellte Fragen
Unter welchen Voraussetzungen sind selektive Vertriebssysteme nach deutschem und europäischem Kartellrecht zulässig?
Selektive Vertriebssysteme sind grundsätzlich dann nach deutschem (§ 1 GWB) und europäischem Kartellrecht (Art. 101 AEUV) zulässig, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die eine Beschränkung des Wettbewerbs rechtfertigen. Dazu gehören insbesondere objektive, qualitative Kriterien für die Auswahl der Vertriebspartner, wie die fachliche Qualifikation, die Ausstattung des Verkaufsgeschäfts oder ein bestimmtes Serviceniveau. Diese Kriterien müssen zum Schutz des Images oder der Qualität der Vertriebsware geeignet und erforderlich sein, das heißt, sie müssen sachlich gerechtfertigt, einheitlich angewendet und diskriminierungsfrei sein. Beispielsweise akzeptieren die Gerichte strengere Vorgaben für technische oder qualitativ hochwertige Produkte, bei denen der Schutz der Marke oder die Vermeidung von Falschberatungen relevant ist. Darüber hinaus dürfen die selektiven Vertriebssysteme weder zum Ziel noch zur Wirkung haben, den Wettbewerb insgesamt im Markt erheblich einzuschränken, insbesondere dürfen sie nicht dazu führen, dass andere Vertriebsmethoden gänzlich ausgeschlossen werden. Schließlich ist die kartellrechtliche Freistellung nach der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VO 2022/720/EU) daran geknüpft, dass der Marktanteil von Anbieter und Abnehmer jeweils 30 % nicht überschreitet und keine Kernbeschränkungen vorliegen.
Dürfen Hersteller die Weiterveräußerung der Waren durch autorisierte Händler an nicht-autorisierten Wiederverkäufer verbieten?
Im Rahmen eines zulässigen selektiven Vertriebssystems ist es rechtlich möglich, autorisierten Händlern zu untersagen, Erzeugnisse an nicht-autorisierten Wiederverkäufer zu liefern. Dies wurde insbesondere im Bereich von Luxus- und Markenprodukten durch den Europäischen Gerichtshof (u.a. Coty-Urteil, C-230/16) bestätigt. Ein solches Verbot ist zulässig, wenn es erforderlich ist, um das Prestige, die Qualität oder das technische Niveau der Waren zu wahren und die selektiven Kriterien kartellrechtlich gerechtfertigt sind. Allerdings muss auch hier die Anwendung der Kriterien diskriminierungsfrei und verhältnismäßig erfolgen. Das Verbot darf jedoch nicht dazu führen, dass der freie Warenverkehr innerhalb des Europäischen Binnenmarktes in unzulässiger Weise behindert wird und darf keine „Kernbeschränkung“ wie ein absolutes Gebiets- oder Kundenvertriebsverbot darstellen.
Können selektive Vertriebssysteme die Belieferung von Onlinehändlern beschränken?
Die Beschränkung von Online-Vertriebswegen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems ist rechtlich problematisch und nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Nach der geltenden Rechtsprechung und den Leitlinien der Europäischen Kommission dürfen Hersteller zwar qualitative Anforderungen an den Online-Verkauf stellen, etwa hinsichtlich der Darstellung im Webshop, Beratungsmöglichkeiten oder Serviceleistungen. Ein vollständiges Verbot des Internetvertriebs („Internetvertriebsverbot“) ist jedoch grundsätzlich unzulässig und stellt eine Kernbeschränkung dar. Ausnahmsweise kann eine Einschränkung dann erlaubt sein, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Merkmale des Produkts eine besondere Präsentation oder Beratung erfordern, die online nicht ausreichend gewährleistet werden kann, wie beim Vertrieb von Luxuswaren. Allerdings müssen solche Beschränkungen verhältnismäßig, sachlich gerechtfertigt und in der Praxis nachweisbar notwendig sein.
Welche kartellrechtlichen Risiken bestehen bei der Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme?
Die größten kartellrechtlichen Risiken liegen in einer unzulässigen Wettbewerbsbeschränkung, insbesondere bei der Anwendung nicht-transparent formulierter oder diskriminierender Selektionskriterien. Werden Händler etwa aus sachfremden Gründen ausgeschlossen, könnte dies als Beschränkung des Wettbewerbs gewertet werden, die nicht gerechtfertigt ist. Ebenfalls kritisch sind Absprachen über Preise (Preisbindung der zweiten Hand), Marktaufteilung, Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs sowie umfassende Wettbewerbsverbote oder Ausschließlichkeitsbindungen. Bei Verstößen drohen Bußgelder durch Kartellbehörden, zivilrechtliche Schadenersatzforderungen sowie die Nichtigkeit der relevanten Vertragsbestimmungen. Die Einhaltung der jeweiligen Marktanteilsschwellen der Vertikal-GVO ist zudem unabdingbar, andernfalls entfällt die Freistellung vom Kartellverbot.
Können Exklusivitätsbindungen in selektiven Vertriebssystemen vereinbart werden?
Exklusivitätsbindungen, also der ausschließliche Vertrieb bestimmter Produkte durch einzelne Händler oder die Einschränkung, dass nur bestimmte Händler beliefert werden, sind in selektiven Vertriebssystemen grundsätzlich nur insoweit zulässig, wie sie nicht den Wettbewerb insgesamt spürbar einschränken und nicht gegen Kernbeschränkungen der Kartellgesetzgebung verstoßen. Während die reine Selektion anhand objektiver und qualitativer Kriterien akzeptiert wird, sind „absolute“ Exklusivbindungen (z. B. alleinige Gebietszuweisungen oder völliger Ausschluss anderer Händler) kartellrechtlich problematisch, weil sie den Marktzugang unberechtigterweise einschränken können. Zulässig sind jedoch solche Exklusivitätsbindungen, die auf ein berechtigtes Interesse des Herstellers zurückzuführen sind, beispielsweise zum Schutz hochwertiger Marken oder zur Sicherstellung eines einheitlichen Vertriebsauftritts, sofern die Kriterien offen, transparent und nicht diskriminierend sind.
Welche Anforderungen stellt das Kartellrecht an die Ausgestaltung der Selektionskriterien?
Die Selektionskriterien müssen nach dem Kartellrecht insbesondere objektiv, einheitlich und diskriminierungsfrei ausgestaltet sein. Sie dürfen nicht zum Vorwand für die unzulässige Ausschaltung bestimmter Wettbewerber dienen und müssen in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Im Einzelnen heißt das, die Kriterien sind so konkret zu formulieren, dass alle potenziellen Vertriebspartner sie kennen, prüfen und auch tatsächlich erfüllen können. Beispiele für zulässige Anforderungen sind etwa bestimmte Ladenbauvorgaben, geschultes Personal, technische Ausrüstung oder die Verpflichtung zu Beratungsleistungen. Unzulässig sind hingegen selektive Kriterien, die nicht mit den Produkten selbst oder ihrem Vertrieb in Zusammenhang stehen, etwa demographische Merkmale, willkürliche Umsatzvorgaben oder geografisch unsachgemäße Beschränkungen. Die Kriterien müssen regelmäßig überprüft und, wenn notwendig, angepasst werden, um sicherzustellen, dass sie nicht zu einem ungerechtfertigten Ausschluss führen.