Schätzung der Besteuerungsgrundlagen
Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist ein grundlegendes steuerrechtliches Instrument in Deutschland und dient der Feststellung steuerlich relevanter Tatsachen durch die zuständige Finanzbehörde, sofern eine vollständige und genaue Ermittlung oder Feststellung der Besteuerungsgrundlagen unmöglich ist oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden wäre. Die Schätzung ist insbesondere in der Abgabenordnung (AO) geregelt und hat weitreichende Bedeutung für die praktische Steuerveranlagung, insbesondere bei unvollständigen, fehlenden oder widersprüchlichen Angaben des Steuerpflichtigen.
Gesetzliche Grundlagen
§ 162 Abgabenordnung (AO)
Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist im Wesentlichen in § 162 AO geregelt. Nach Absatz 1 ist die Finanzbehörde berechtigt, Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, wenn sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Gründe hierfür sind insbesondere fehlende, mangelhafte oder widersprüchliche Aufzeichnungen, die Weigerung der Mitwirkung oder die Unmöglichkeit einer genauen Feststellung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen.
Weitere Regelungen
Auch speziellere Steuergesetze, wie das Einkommensteuergesetz (EStG), das Umsatzsteuergesetz (UStG) oder das Körperschaftsteuergesetz (KStG), nehmen Bezug auf die Schätzung, ohne die generelle Zuständigkeit der AO zu verdrängen. Die Grundsätze der Schätzung finden entsprechend Anwendung.
Voraussetzungen für eine Schätzung
Eine Schätzung ist zulässig, wenn die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen nicht oder nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand ermittelt werden können. Dies ist insbesondere der Fall bei:
- Verletzung der Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten
- Nichtvorlage von Unterlagen trotz Aufforderung
- Abgabe unvollständiger oder widersprüchlicher Steuererklärungen
- Verweigerung der Auskunft
- Feststellung nicht vereinzelbarer Tatsachen, beispielsweise bei kalkulatorischen Fehlern
Der Schätzung geht regelmäßig eine Aufforderung zur Mitwirkung oder zur Vorlage von Unterlagen voraus. Erst bei Nichterfüllung dieser Mitwirkungspflichten ist die Finanzbehörde zur Schätzung berechtigt.
Umfang und Inhalt der Schätzung
Schätzungsspielraum der Finanzbehörde
Die Behörde hat bei der Auswahl der Schätzungsmethode und der Höhe der Besteuerungsgrundlagen einen Ermessensspielraum. Dies bedeutet, dass die Behörde alle ihr zugänglichen Beweismittel, Indizien und Erfahrungswerte nutzen darf, um eine möglichst wirklichkeitsnahe Feststellung zu treffen. Die Schätzung muss stets sachgerecht und plausibel sein; sie darf sich weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen orientieren, sondern das wirtschaftliche Ergebnis möglichst realitätsgetreu abbilden.
Methoden der Schätzung
Die am häufigsten angewandten Schätzungsmethoden umfassen unter anderem:
- Zuschätzung nach äußerem Betriebsvergleich: Vergleich mit ähnlich strukturierten Unternehmen der Branche
- Rohgewinnaufschlagsrechnung: Anwendung branchentypischer Aufschlag- oder Gewinnsätze
- Schätzung nach dem Wareneinkauf: Ableitung des Umsatzes und Gewinns anhand des aufgezeigten Wareneinsatzes
- Schätzung nach Geldverkehrsrechnung: Ermittlung anhand der Zu- und Abflüsse auf Bankkonten und Kassenbeständen
- Lebenshaltungsaufwandsschätzung: Hochrechnung des steuerpflichtigen Einkommens entsprechend des festgestellten Lebensstandards
Welche Methode im Einzelfall angewendet wird, hängt von den vorliegenden Informationen und den Gegebenheiten des Betriebs ab.
Grenzen der Schätzung
Verhältnismäßigkeit und Plausibilität
Die Schätzung ist rechtlich begrenzt durch das Gebot der Verhältnismäßigkeit und die Verpflichtung zu einer möglichst wirklichkeitsnahen Feststellung der Besteuerungsgrundlagen. Die Schätzungsergebnisse dürfen daher nicht offensichtlich von den tatsächlich möglichen Werten abweichen. Willkürliche oder unangemessen „hochgegriffene“ Schätzungen sind unzulässig.
Rechtsschutzmöglichkeiten des Steuerpflichtigen
Gegen einen Schätzungsbescheid können Rechtsbehelfe wie Einspruch (§ 347 AO) und gegebenenfalls Klage beim Finanzgericht eingelegt werden. Der Steuerpflichtige kann auch nachträglich Beweise und Aufzeichnungen vorlegen, um eine Korrektur der Schätzung zu erreichen. Bleibt die Schätzung jedoch innerhalb des durch Tatsachenfundament und Erfahrungssätze gesteckten Rahmens, ist sie gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar.
Bedeutung in der steuerlichen Praxis
Anwendungshäufigkeit
Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen kommt besonders häufig zur Anwendung, wenn Betriebe keine ausreichenden Geschäftsbücher führen oder ihre steuerlichen Pflichten nicht erfüllen. Typische Einsatzbereiche betreffen Kleinunternehmer, Freiberufler, Gastronomiebetriebe sowie Branchen mit hohem Bargeldumsatz.
Verfahrensrechtliche Konsequenzen
Die Anwendung der Schätzung führt dazu, dass die Festsetzung der Steuer von den von der Behörde ermittelten Werten ausgeht, selbst wenn diese erheblich von den Angaben in den Steuererklärungen des Pflichtigen abweichen. Dies kann insbesondere im Hinblick auf Steuerstraftatbestände und steuerliche Nebenleistungen wie Zinsen erhebliche Auswirkungen haben.
Schätzung der Besteuerungsgrundlagen im internationalen Steuerrecht
Auch im internationalen Steuerrecht spielt die Schätzung eine Rolle, besonders im Kontext grenzüberschreitender Sachverhalte. Hier wird insbesondere bei der Einkünfteabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen (Verrechnungspreise) oder bei fehlender Kooperation im Rahmen des internationalen Informationsaustausches auf Schätzungsmethoden zurückgegriffen.
Literatur und Rechtsprechung
Eine umfangreiche Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) präzisiert die Anforderungen und Grenzen der Schätzung. Maßgeblich sind insbesondere die Prinzipien der „größtmöglichen Wahrscheinlichkeit“ und der „Wahrscheinlichkeitstheorie“ bei der Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen. Die Literatur behandelt insbesondere die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten, die Chancen und Risiken der Schätzung sowie deren Auswirkungen auf die Besteuerungspraxis.
Zusammenfassung
Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist ein zentrales Instrument des Steuerrechts zur Sicherung einer zutreffenden Besteuerung, wenn genaue Feststellungen nicht möglich sind. Die rechtlichen Regelungen und umfangreiche Rechtsprechung gewährleisten, dass die Schätzung sachlich, verhältnismäßig und plausibel erfolgt, um sowohl die Interessen des Fiskus als auch die des Steuerpflichtigen zu gewährleisten. Schätzungen begegnen in der Praxis vor allem in Fällen mangelhafter Mitwirkung des Steuerpflichtigen erheblicher Bedeutung und sind mit spezifischen Anforderungen und Grenzen versehen, um ihre Missbrauchsgefahr zu minimieren.
Siehe auch:
Kategorie: Steuerrecht | Verfahrensrecht
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen erfüllt sein?
Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist im deutschen Steuerrecht gem. § 162 AO (Abgabenordnung) nur zulässig, wenn der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt, insbesondere keine oder unvollständige Steuererklärungen abgibt, steuerrelevante Unterlagen nicht vorlegt oder die Buchführung und Aufzeichnungen mangelhaft oder formell/nachweislich fehlerhaft sind. Dabei muss das Finanzamt mit vertretbarem Aufwand nicht in der Lage sein, die Besteuerungsgrundlagen exakt zu ermitteln. Die Schätzung soll die tatsächlichen Verhältnisse bestmöglich widerspiegeln und darf vom Fiskus nicht als Strafmaßnahme eingesetzt werden. Voraussetzung ist weiterhin, dass das Finanzamt die konkreten Mängel dokumentiert und den Steuerpflichtigen zur Mitwirkung ausreichend aufgefordert hat. Ferner gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Schätzung muss nach dem Maßstab der Wahrscheinlichkeiten erfolgen. Die Wahl der Schätzungsmethode bleibt der Finanzverwaltung überlassen, sofern sie im Einzelfall sachgerecht und folgerichtig ist.
Welche rechtlichen Grenzen bestehen bei der Schätzung?
Die Schätzung unterliegt wesentlichen rechtlichen Grenzen, die insbesondere durch das Willkürverbot und das Übermaßverbot geprägt sind. Gemäß § 162 Abs. 1 S. 2 AO muss die Schätzung nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgen und darf die tatsächlichen Verhältnisse nicht gröblich verfehlen; eine unverhältnismäßig hohe oder offensichtlich zu niedrige Schätzung ist unzulässig. Das Finanzamt muss alle für und gegen den Steuerpflichtigen sprechenden Umstände berücksichtigen, wobei eine grundlose Benachteiligung des Steuerpflichtigen zu vermeiden ist. Das Gericht überprüft die Schätzung im Streitfall darauf, ob das Finanzamt den Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens gewahrt und die Schätzungsgrundlagen nachvollziehbar dargelegt hat. Insbesondere darf keine sogenannte „Schätzung ins Blaue hinein“ erfolgen; Ansatzpunkte wie Branchendaten, Vorjahreszahlen oder externe Vergleichswerte sind zwingend heranzuziehen.
Welche Rechte stehen dem Steuerpflichtigen im Schätzungsverfahren zu?
Auch im Schätzungsverfahren hat der Steuerpflichtige umfassende Mitwirkungsrechte. Er ist insbesondere rechtzeitig über eine beabsichtigte Schätzung zu informieren und muss Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten (Anhörungsrecht gem. § 91 AO). Weiterhin kann der Steuerpflichtige Beweismittel, wie Aufzeichnungen, Belegnachreichungen oder Sachverständigengutachten vorbringen, um die Schätzung zugunsten realistischerer Werte zu beeinflussen. Er kann gegen die Schätzung Einspruch einlegen und notfalls Klage vor dem Finanzgericht erheben. Im Rahmen dieser Rechtsschutzmöglichkeiten obliegt dem Finanzamt die Darlegungslast für die Grundlagen und die Angemessenheit der Schätzung. Dem Steuerpflichtigen steht somit ein effektiver Rechtsschutz offen, um etwaige Unrichtigkeiten der Schätzung gerichtlich überprüfen zu lassen.
Welche Schätzungsmethoden sind gesetzlich zulässig und wie wird ihre Auswahl rechtlich überprüft?
Gesetzlich ist keine bestimmte Schätzungsmethode vorgeschrieben, solange die gewählte Methode plausibel erscheint und den Einzelfall angemessen berücksichtigt. Zulässige Methoden sind etwa die Schätzung auf Basis von Vergleichszahlen aus Vorjahren, branchenübliche Richtsätze (Richtsatzsammlung des BMF), Kalkulationsmethode, Nachkalkulation oder auch äußere Betriebsprüfung. Die Auswahl und Anwendung der Schätzungsmethode erfolgen nach pflichtgemäßem Ermessen des Finanzamtes, stehen jedoch unter gerichtlicher Kontrolle dahingehend, ob sie zu sachgerechten und nachvollziehbaren Ergebnissen führt und keine eindeutigen Fehler oder Willkür erkennen lässt. Das Finanzamt muss seine Auswahl und die Vorgehensweise detailliert dokumentieren, damit eine gerichtliche Überprüfung möglich ist.
Inwieweit müssen die Schätzungsgrundlagen dem Steuerpflichtigen offengelegt werden?
Das Finanzamt ist verpflichtet, sämtliche Schätzungsgrundlagen und den Schätzungsvorgang dem Steuerpflichtigen im Steuerbescheid offenzulegen. Dies folgt aus dem Grundsatz der Transparenz und dem Steuergeheimnis (vgl. § 119 AO – Begründung eines Verwaltungsakts, § 121 AO – Bekanntgabe). Der Steuerpflichtige muss nachvollziehen können, wie das Finanzamt die Schätzung vorgenommen hat, welche Daten herangezogen und inwieweit Verprobungen oder branchenspezifische Besonderheiten einflossen. Nur so kann er rechtlich wirksam die getroffenen Annahmen bestreiten und Einspruch erheben. Eine unzureichende Offenlegung kann zur Rechtswidrigkeit der Schätzung führen.
Welche Dokumentationspflichten bestehen für die Finanzverwaltung bei der Schätzung?
Die Finanzverwaltung muss den Schätzungsvorgang umfassend dokumentieren. Dazu zählen die Darstellung der Schätzungsnotwendigkeit, die Auswahl der Schätzungsmethode, sämtliche verwendeten Vergleichswerte und Datenquellen sowie eine begründete Herleitung der angesetzten Werte. Gemäß den Grundsätzen ordnungsmäßiger Verwaltung und der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist eine lückenlose Aktenführung unerlässlich. Versäumnisse bei der Dokumentation können dazu führen, dass die Schätzung im Rechtsmittelverfahren als rechtswidrig oder zumindest als fehlerhaft aufgehoben wird.
Welche Bedeutung haben Betriebsprüfungen und Außenprüfungen im Rahmen der Schätzung rechtlich?
Betriebsprüfungen und Außenprüfungen (§§ 193 ff. AO) spielen eine zentrale Rolle bei der Sachverhaltsermittlung und können einen Schätzungsbedarf feststellen. Insbesondere bei nicht ordnungsgemäßer Buchführung werden die Feststellungen der Prüfer als Grundlage für die Schätzung herangezogen. Die Prüfer sind gehalten, ihre Feststellungen hinsichtlich etwaiger Mängel zu dokumentieren und etwaige Branchendaten für die Schätzung zu berücksichtigen. Auch im Rahmen von Nachschauen (§ 27b UStG, § 146b AO) können Tatsachen festgestellt werden, die eine Schätzung erforderlich machen. Die rechtlich vorgeschriebene Mitwirkung des Steuerpflichtigen ist auch in der Prüfphase sicherzustellen. Die Ergebnisse der Prüfung sind dem Steuerpflichtigen bekanntzugeben und im Schätzungsverfahren zu verwerten.