Schätzung der Besteuerungsgrundlagen: Begriff, Zweck und Einordnung
Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist ein behördliches Verfahren, mit dem steuerlich relevante Tatsachen und Werte ermittelt werden, wenn sie nicht oder nicht zuverlässig feststellbar sind. Ziel ist es, die tatsächlichen Verhältnisse mit angemessener Genauigkeit abzubilden und die Steuer festzusetzen, obwohl vollständige oder verlässliche Angaben fehlen. Die Schätzung ist kein Strafinstrument, sondern dient der möglichst wirklichkeitsnahen Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen.
Voraussetzungen und Grenzen der Schätzung
Anlass und Auslöser
Eine Schätzung kommt insbesondere in Betracht, wenn
- steuerlich erforderliche Angaben fehlen oder verspätet vorgelegt werden,
- Aufzeichnungen unvollständig, widersprüchlich oder nicht ordnungsgemäß geführt wurden,
- trotz Aufforderung keine ausreichende Mitwirkung erfolgt,
- Ergebnisse erkennbar unplausibel sind (z. B. dauerhaft negative Gewinne ohne nachvollziehbare Gründe),
- Branchendaten, externe Vergleichswerte oder Zahlungsströme erhebliche Abweichungen nahelegen.
Rechtliche Leitlinien
Die Schätzung unterliegt rechtlichen Grundsätzen:
- Angemessenheit: Die Methode muss zur Art des Einzelfalls passen.
- Plausibilität: Das Ergebnis muss in sich schlüssig und nachvollziehbar sein.
- Wirklichkeitsnähe: Die Schätzung darf weder überhöht noch willkürlich sein; sie soll die tatsächlichen Verhältnisse möglichst realitätsnah treffen.
- Transparenz: Vorgehen und Annahmen müssen erkennbar dargestellt werden.
- Verhältnismäßigkeit: Es ist das mildeste geeignete Mittel zu wählen; ein vollständiger Ersatz der Zahlen ist nur erforderlich, wenn Teilschätzungen nicht ausreichen.
Ablauf und Verfahrensrahmen
Informationsbeschaffung
Die Ermittlung kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, etwa im Rahmen einer Außenprüfung, einer Kassenprüfung oder einer Aktenprüfung. Typische Informationsquellen sind:
- vorliegende Steuererklärungen und Vorjahreswerte,
- interne Unterlagen wie Buchführung, Belegwesen, Kassenaufzeichnungen,
- Vergleichsdaten aus der Branche,
- Bankunterlagen, Zahlungsflüsse, Bestandsveränderungen,
- Daten Dritter (z. B. Meldungen von Vertragspartnern).
Anhörung und Begründung
Vor einer Schätzung wird die betroffene Person regelmäßig angehört. Die Entscheidung ist zu begründen; dabei werden die Gründe für die Schätzung, die gewählte Methode und die maßgeblichen Annahmen dargestellt. Die Nachvollziehbarkeit der Begründung ist eine zentrale Anforderung an die Rechtmäßigkeit der Schätzung.
Arten und Methoden der Schätzung
Formelle und materielle Schätzung
Man unterscheidet zwischen formeller und materieller Schätzung. Bei der formellen Schätzung sind die Aufzeichnungen als solche nicht verwertbar; die Besteuerungsgrundlagen werden vollständig neu ermittelt. Die materielle Schätzung setzt an grundsätzlich verwertbaren Unterlagen an, korrigiert jedoch einzelne Werte oder Zeiträume.
Teil- und Vollschätzung
Je nach Lage des Einzelfalls kann sich die Schätzung auf einzelne Positionen (z. B. Umsätze, Wareneinsatz) oder auf den gesamten Gewinn erstrecken. Teil- oder Vollschätzung richten sich nach Umfang und Gewicht der festgestellten Unsicherheiten.
Typische Schätzansätze
- Äußerer Betriebsvergleich: Heranziehen von Vergleichswerten vergleichbarer Betriebe oder Branchenkennziffern.
- Innerer Betriebsvergleich: Abgleich verschiedener Perioden desselben Betriebs auf Stetigkeit und Plausibilität.
- Rohgewinnaufschlags- und -spanne: Ermittlung des wahrscheinlichen Umsatzes aus Wareneinsatz und typischen Aufschlagsätzen.
- Geldverkehrs- und Vermögenszuwachsmethode: Ableitung der Ertragslage aus Zahlungsströmen, Vermögensveränderungen und Lebenshaltung.
- Bankeinzahlungs- oder Kassensturzmethode: Ableitung der Umsätze aus Einzahlungen bzw. aus Kassenbeständen und -flüssen.
- Zeitreihen-, Kalkulations- und Verprobungsmethoden: Statistische und rechnerische Kontrollen zur Plausibilisierung.
Unsicherheitsbereich und Sicherheitszuschläge
Schätzungen bewegen sich in einem Unsicherheitsbereich. In diesem Rahmen können Zuschläge angesetzt werden, wenn Unklarheiten verbleiben und dokumentiert ist, dass genauere Feststellungen nicht möglich sind. Solche Zuschläge dienen der Abbildung von Unsicherheiten; sie ersetzen keine Sanktionen.
Dokumentations- und Aufzeichnungshintergrund
Buchführung und Kassenführung
Die Ordnungsmäßigkeit von Buchführung und Kassenaufzeichnungen ist maßgeblich. Typische Beanstandungen betreffen etwa fehlende oder manipulationsanfällige Kassenaufzeichnungen, Lücken in Zähl- oder Kassenberichten sowie unvollständige Tagesabschlüsse. Der Einsatz technisch geeigneter Systeme und die fortlaufende, vollständige Erfassung sind zentrale Voraussetzungen für die Verwertbarkeit.
Belegwesen und Aufbewahrung
Ein nachvollziehbares Belegwesen mit geordneter Ablage und Einhaltung von Aufbewahrungsfristen ist Grundlage der Nachprüfbarkeit. Fehlende Belege, nicht dokumentierte Geschäftsvorfälle oder ungeklärte Privatentnahmen können Schätzungen auslösen oder verstärken.
Rechtsfolgen der Schätzung
Steuerfestsetzung und Nebenwirkungen
Das Schätzungsergebnis fließt in die Steuerfestsetzung ein. Je nach Steuerart können sich daraus Zinsen, Säumnisfolgen oder weitere Nebenleistungen ergeben. Bei gravierenden Unregelmäßigkeiten kann die Schätzung mit weiteren Verfahren zusammentreffen, die eigene rechtliche Maßstäbe haben.
Bindungswirkung und Anpassungen
Die Schätzung gilt, bis sie durch wirksame Korrektur- oder Änderungsentscheidungen ersetzt wird. Werden nachträglich neue Tatsachen bekannt oder entfallen die Schätzgründe, kann eine Anpassung in Betracht kommen. Der konkrete Korrekturumfang richtet sich nach den jeweils einschlägigen verfahrensrechtlichen Regeln.
Überprüfung und Rechtsschutz
Nachprüfbarkeit der Methode
Die gewählte Schätzungsmethode und das Ergebnis müssen einer Plausibilitätsprüfung standhalten. Hierzu zählen die innere Stimmigkeit, die Übereinstimmung mit äußeren Anknüpfungstatsachen und das Fehlen von Widersprüchen. Erkennbare Rechen- oder Denkfehler, unzutreffende Annahmen oder nicht tragfähige Vergleichsmaßstäbe können die Rechtmäßigkeit beeinträchtigen.
Rechtsbehelfe
Gegen eine auf Schätzung beruhende Steuerfestsetzung stehen die üblichen Rechtsbehelfe des Steuerverfahrens offen. In diesem Rahmen wird überprüft, ob die Schätzvoraussetzungen vorlagen, die Methode geeignet war, die Annahmen belegt wurden und das Ergebnis den rechtlichen Grenzen genügt. Auch Alternativrechnungen und neue Erkenntnisse können berücksichtigt werden, soweit verfahrensrechtlich zulässig.
Abgrenzungen und Anwendungsbereiche
Schätzung vs. Pauschalierung
Die Schätzung ist von gesetzlich vorgesehenen Pauschalierungen zu unterscheiden. Pauschalierungen beruhen auf festgelegten Typisierungen, während die Schätzung ein einzelfallbezogenes Ermittlungsinstrument bleibt.
Betroffene Steuerarten
Schätzungen können bei verschiedenen Steuerarten vorkommen, etwa bei Ertragsteuern oder der Umsatzsteuer. Maßgeblich sind jeweils die zu ermittelnden Bemessungsgrundlagen und die Eigenheiten der Steuerart.
Unternehmen und Privatpersonen
Schätzungen betreffen nicht nur Unternehmen, sondern auch natürliche Personen, wenn steuerlich relevante Tatsachen nicht ausreichend feststellbar sind. Umfang und Methode richten sich nach der Art der Einkünfte und den vorhandenen Unterlagen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen
Was bedeutet „Schätzung der Besteuerungsgrundlagen“?
Es handelt sich um die behördliche Ermittlung steuerlich relevanter Werte, wenn genaue Feststellungen nicht möglich sind. Ziel ist ein möglichst wirklichkeitsnahes Ergebnis auf Basis der verfügbaren Informationen.
Wann darf die Finanzverwaltung schätzen?
Eine Schätzung kommt in Betracht, wenn notwendige Angaben fehlen, Aufzeichnungen nicht verwertbar sind, Mitwirkung ausbleibt oder festgestellte Ergebnisse unplausibel wirken. Der Anlass muss dokumentiert sein.
Welche Methoden sind zulässig?
Zulässig sind Methoden, die zum Einzelfall passen und ein schlüssiges, nachvollziehbares Ergebnis erwarten lassen. Häufig werden externe und interne Vergleiche, Aufschlagskalkulationen, Zahlungsstromanalysen und statistische Verprobungen genutzt.
Muss die Behörde eine Schätzung begründen?
Ja. Anlass, Vorgehensweise, Annahmen und Berechnung sind darzustellen. Die Begründung soll die Nachvollziehbarkeit des Ergebnisses ermöglichen.
Kann eine Schätzung später geändert werden?
Eine Änderung ist möglich, wenn verfahrensrechtliche Voraussetzungen vorliegen, etwa bei neuen Tatsachen oder erkannter Unrichtigkeit. Der Umfang richtet sich nach den einschlägigen Verfahrensregeln.
Führt eine Schätzung automatisch zu Zuschlägen oder Sanktionen?
Die Schätzung selbst ist kein Sanktionsinstrument. Je nach Fall können jedoch Zinsen oder weitere Nebenleistungen entstehen, die rechtlich eigenständig zu beurteilen sind.
Gilt die Schätzung auch für die Umsatzsteuer?
Ja. Schätzungen können bei verschiedenen Steuerarten Anwendung finden. Maßgeblich ist, welche Besteuerungsgrundlagen im Einzelfall zu ermitteln sind und welche Unterlagen vorliegen.