Begriff und Grundlagen der Pflegeversicherung
Die Pflegeversicherung ist ein eigenständiger Zweig der sozialen Sicherung in Deutschland und dient der Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Sie wurde im Jahr 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt und basiert auf dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Die Pflegeversicherung stellt Leistungen zur Verfügung, um die pflegerische Versorgung bei körperlichen, kognitiven oder psychischen Einschränkungen sicherzustellen. Sie unterscheidet sich in der Ausgestaltung als soziale und als private Pflegeversicherung.
Rechtliche Grundlagen
Gesetzliche Verankerung
Die gesetzliche Grundlage bildet das Elfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Ziel ist es, die Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko sozial abzusichern. Die Durchführung der gesetzlichen Pflegeversicherung obliegt den Pflegekassen, während die private Pflegepflichtversicherung durch die privaten Krankenversicherungsunternehmen getragen wird. Die Regelungen erstrecken sich von den Voraussetzungen der Leistungserbringung bis zu Verfahrens-, Beitrags- und Aufsichtsregelungen.
Wichtige Gesetze und Vorschriften
- SGB XI – Soziale Pflegeversicherung
- Versicherungsvertragsgesetz (VVG)
- Verordnungen und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)
- Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) sowie das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) als neue Reformgesetze
Träger und Arten der Pflegeversicherung
Soziale Pflegeversicherung (SPV)
Die soziale Pflegeversicherung richtet sich an Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung pflicht- oder freiwillig versichert sind. Die Mitgliedschaft in der Pflegeversicherung ist grundsätzlich an die Krankenversicherung gekoppelt. Die Pflegekassen sind organisatorisch bei den Krankenkassen angesiedelt.
Private Pflegeversicherung (PPV)
Personen, die privat krankenversichert sind, sind verpflichtet, eine private Pflegepflichtversicherung abzuschließen. Die Leistungen dieser Versicherungen müssen denen der sozialen Pflegeversicherung entsprechen („Leistungsgleichheit“). Die Aufsicht erfolgt durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).
Versicherungspflicht und -berechtigung
Versicherungspflicht
Die Pflegeversicherung ist eine Pflichtversicherung. Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, sind gesetzlich automatisch in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert (§ 20 Abs. 1 SGB XI). Privat krankenversicherte Personen unterliegen der Pflicht, eine private Pflegeversicherung abzuschließen.
Familienversicherung
Bestimmte Familienangehörige, wie Ehepartner und Kinder bis zum 23. Lebensjahr (bzw. bis zum 25. Lebensjahr bei Ausbildung/Studium), können ohne eigene Beitragszahlung über die Familienversicherung mitversichert werden (§ 25 SGB XI).
Pflegebedürftigkeit
Begriff der Pflegebedürftigkeit
Pflegebedürftigkeit im rechtlichen Sinne wird im § 14 SGB XI definiert. Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, kognitiven oder psychischen Erkrankung oder Behinderung für mindestens sechs Monate erheblich in der Selbstständigkeit oder den Fähigkeiten beeinträchtigt sind und deshalb Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens benötigen.
Pflegegrade
Die Einstufung erfolgt nach Pflegegraden (§ 15 SGB XI), die den Umfang der Beeinträchtigung widerspiegeln. Seit dem 1. Januar 2017 werden statt der früheren Pflegestufen fünf Pflegegrade unterschieden. Die Einstufung wird im Rahmen eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst (MD) bzw. durch unabhängige Gutachter in der privaten Pflegeversicherung vorgenommen.
Leistungen der Pflegeversicherung
Arten der Leistungen
Die Pflegeversicherung unterscheidet Sachleistungen, Geldleistungen sowie zusätzliche Unterstützungsleistungen.
Pflegesachleistungen und Pflegegeld
- Pflegesachleistungen: Kostenübernahme für häusliche Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst.
- Pflegegeld: Auszahlung eines Pflegegeldes an Pflegebedürftige, die durch Angehörige oder ehrenamtliche Pflegekräfte gepflegt werden.
- Kombinationsleistungen: Kombination aus Sach- und Geldleistungen.
Stationäre und teilstationäre Leistungen
- Übernahme von Kosten bei stationärer Pflege in einer Pflegeeinrichtung (§ 43 SGB XI).
- Leistungen für teilstationäre Tages- und Nachtpflege (§ 41 SGB XI) sowie Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI).
Weitere Leistungen
- Pflegehilfsmittel (§ 40 SGB XI)
- Zuschüsse zur Wohnraumanpassung
- Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen (§ 44 SGB XI)
- Entlastungsbetrag (§ 45b SGB XI)
- Leistungen zur Förderung der Selbständigkeit und Teilhabe
Finanzierung und Beiträge
Beitragshöhe und Beitragstragung
Die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung sind grundsätzlich einkommensabhängig und werden je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern getragen. Kinderlose Mitglieder zahlen gemäß § 55 Abs. 3 SGB XI einen Beitragszuschlag. Der Beitragssatz ist bundesweit einheitlich und wird regelmäßig gesetzlich angepasst. In der privaten Pflegeversicherung werden die Beiträge risikoorientiert kalkuliert.
Umlageverfahren
Die Pflegeversicherung wird im Umlageverfahren finanziert: Die aktuellen Beitragseinnahmen werden unmittelbar für laufende Leistungsausgaben verwendet, ein Kapitalstock wie bei der Rentenversicherung wird – abgesehen von geringfügigen Rücklagen – nicht aufgebaut.
Verfahren zur Leistungsbeantragung
Antragstellung
Leistungen müssen bei der zuständigen Pflegekasse oder dem privaten Versicherungsunternehmen beantragt werden. Im Anschluss erfolgt eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst (MD) beziehungsweise, im privaten Bereich, durch Pflegegutachter.
Begutachtungsverfahren
Das Begutachtungsverfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit erfolgt anhand gesetzlich definierter Kriterien der Selbstständigkeit und Fähigkeiten (§ 18 SGB XI). Nach Feststellung des Pflegegrades erfolgt die Leistungsbewilligung.
Rechtsmittel und Widerspruch
Widerspruchsverfahren
Bei Ablehnung oder Unzufriedenheit mit der Begutachtung kann gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt werden. Das Widerspruchsrecht ist im Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt.
Klageverfahren
Bleibt der Widerspruch erfolglos, besteht die Möglichkeit der Klage vor dem zuständigen Sozialgericht. Für Leistungen der privaten Pflegeversicherung gilt der Zivilrechtsweg.
Leistungsdauer und Ausschlussgründe
Leistungsdauer
Leistungen werden regelmäßig so lange gewährt, wie die Pflegebedürftigkeit im festgestellten Umfang besteht. Eine Überprüfung ist möglich, wenn sich der Gesundheitszustand ändert.
Ausschlüsse und Ruhen
Ausschluss- bzw. Ruhensgründe ergeben sich aus § 34 SGB XI (z. B. Aufenthalt im Ausland, Bezug bestimmter anderer Leistungen).
Reformen und Entwicklungen
Die Pflegeversicherung unterliegt regelmäßigen gesetzlichen Anpassungen und Reformen. Insbesondere in den letzten Jahren wurden durch das erste bis dritte Pflegestärkungsgesetz sowie das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz weitreichende Verbesserungen in den Leistungsumfängen, der Flexibilisierung von Pflegeleistungen und der Anerkennung zusätzlicher Betreuungsbedarfe eingeführt.
Internationale Bezüge
Ein Export der Ansprüche ins Ausland ist in eng begrenztem Umfang möglich. Das SGB XI regelt unter welchen Voraussetzungen auch bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt Leistungen beansprucht werden können oder wenn Pflegebedürftige in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ziehen.
Kontrolle und Aufsicht
Die Pflegekassen unterliegen der staatlichen Aufsicht durch die Bundes- und Landesaufsichtsbehörden. Private Pflegeversicherungsunternehmen werden durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht überwacht.
Literatur und Weblinks
Weiterführende Informationen sind unter anderem auf den Webseiten des Bundesministeriums für Gesundheit, des Medizinischen Dienstes Bund und der jeweiligen Landesregierungen verfügbar.
Zusammenfassung
Die Pflegeversicherung ist ein zentrales Element der sozialen Sicherung in Deutschland. Sie regelt die Absicherung des Pflegebedarfs umfassend und transparent durch eine Vielzahl gesetzlicher Vorschriften und unterliegt einer ständigen Weiterentwicklung, um die wachsenden Anforderungen einer alternden Gesellschaft zu erfüllen. Ihre rechtliche Ausgestaltung bildet die Grundlage für die faire, solidarische und bedarfsdeckende Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland.
Häufig gestellte Fragen
Wann besteht eine Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung?
Die Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung ist im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) geregelt. Grundsätzlich sind alle Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind, nach § 20 SGB XI auch in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert. Dies betrifft insbesondere Arbeitnehmer, Auszubildende, Bezieher von Arbeitslosengeld I oder II, Studierende und Rentner, sofern diese gesetzlich krankenversichert sind. Auch familienversicherte Angehörige sind in der Pflegeversicherung mitversichert. Für privat Krankenversicherte besteht die Pflicht zum Abschluss einer privaten Pflege-Pflichtversicherung nach Maßgabe des § 23 SGB XI. Von der Versicherungspflicht ausgenommen sind lediglich Personengruppen, die auch in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht pflichtversichert sind. Ein Wechsel von der privaten in die gesetzliche Pflegeversicherung bzw. umgekehrt ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, etwa einen Wechsel der Krankenversicherung oder einen Statuswechsel im Erwerbsleben.
Wie erfolgt die Einstufung in einen Pflegegrad und welche rechtlichen Ansprüche ergeben sich daraus?
Die Einstufung in einen Pflegegrad erfolgt gemäß §§ 14 ff. SGB XI auf Antrag des Versicherten oder eines gesetzlichen Vertreters bei der jeweiligen Pflegekasse. Die Pflegekasse beauftragt den Medizinischen Dienst (bei gesetzlich Versicherten) oder MEDICPROOF (bei Privatversicherten) mit der Erstellung eines Gutachtens, das sich an den Begutachtungsrichtlinien und dem „Neuen Begutachtungsassessment“ (NBA) orientiert. Die Einstufung berücksichtigt insbesondere die Selbständigkeit und die Fähigkeiten in sechs Modulen (z.B. Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhalten und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte). Die Einstufung in einen Pflegegrad löst den Anspruch auf entsprechende Pflegeleistungen gemäß §§ 36 ff. SGB XI aus; dazu zählen u.a. Pflegegeld, Pflegesachleistungen, Pflegehilfsmittel oder stationäre Pflegeleistungen. Gegen eine ablehnende Entscheidung oder eine als zu niedrig empfundene Einstufung kann innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheids Widerspruch eingelegt werden.
Was sind die rechtlichen Voraussetzungen für die Übernahme von Pflegekosten durch die Pflegeversicherung?
Für die Kostenübernahme durch die Pflegeversicherung ist die Feststellung eines anerkannten Pflegegrads (1 bis 5) zwingend erforderlich. Der Antrag muss rechtzeitig bei der zuständigen Pflegekasse eingereicht werden, damit die Leistungen ab dem festgestellten Bedarf gewährt werden können. Die Pflegebedürftigkeit muss durch den Medizinischen Dienst im Rahmen einer Begutachtung bestätigt worden sein; sie muss voraussichtlich für mindestens sechs Monate bestehen (§ 14 Abs. 1 SGB XI). Die Leistungen werden grundsätzlich nach dem Prinzip der Sach- oder Geldleistungen gewährt und sind durch gesetzlich festgelegte Höchstbeträge begrenzt. Zusätzlich muss die pflegende Person (bei häuslicher Pflege durch Angehörige) grundsätzlich geeignet sein und die Pflege sachgemäß durchführen können. Für bestimmte Zusatzleistungen, etwa Verbesserungen des Wohnumfelds, sind gesonderte Anträge und ggf. Nachweise erforderlich.
Welche Mitwirkungspflichten treffen Versicherte und deren Angehörige gegenüber der Pflegekasse?
Versicherte sowie deren gesetzliche Vertreter oder Angehörige sind nach §§ 60 bis 66 SGB I verpflichtet, alle für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Gewährung von Leistungen relevanten Angaben zu machen und notwendige Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Dies umfasst insbesondere die Erteilung wahrheitsgemäßer Auskünfte zum Gesundheitszustand, zur Alltagsbewältigung und zum Pflegebedarf sowie das Ermöglichen einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst. Kommen Versicherte oder Angehörige ihren Mitwirkungspflichten nicht nach, kann dies zu Leistungsverzögerungen, Leistungskürzungen oder sogar zur Ablehnung des Antrags führen. Über jede Statusveränderung (z.B. Krankenhausaufenthalt, Veränderung des Pflegebedarfs, Wechsel der Pflegeperson) muss die Pflegekasse umgehend in Kenntnis gesetzt werden.
Kann gegen Bescheide der Pflegekasse rechtlich vorgegangen werden?
Ja, gegen Bescheide der Pflegekasse (z.B. Ablehnung oder zu niedrige Einstufung des Pflegegrads) kann gemäß §§ 83 ff. SGG (Sozialgerichtsgesetz) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids Widerspruch bei der Pflegekasse eingelegt werden. Der Widerspruch muss schriftlich oder zur Niederschrift eingelegt werden und kann begründet werden, wobei insbesondere auf Einwände gegen das Gutachten oder die Einstufung hingewiesen werden sollte. Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, ergeht ein rechtsmittelfähiger Widerspruchsbescheid. Gegen diesen kann Klage beim örtlich zuständigen Sozialgericht erhoben werden. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, und es besteht kein Anwaltszwang, wobei eine rechtskundige Unterstützung bei komplexen oder strittigen Fällen empfohlen werden kann.
Wie werden Pflegeleistungen rechtlich von der Pflegeversicherung erbracht?
Pflegeleistungen werden nach §§ 28 ff. SGB XI sowohl als Sachleistungen (z.B. durch ambulante Pflegedienste, teilstationäre oder stationäre Einrichtungen) als auch als Geldleistungen (Pflegegeld bei häuslicher Pflege durch Angehörige oder Freunde) erbracht. Die Versicherten können Wahlrechte gemäß § 11 SGB XI ausüben und beispielsweise Kombinationsleistungen beanspruchen. Pflegehilfsmittel sowie Maßnahmen zur Anpassung des Wohnraums (§ 40 SGB XI) zählen ebenfalls zu den Leistungen. Voraussetzung für die Leistungsgewährung sind der festgestellte Pflegegrad, die Antragstellung sowie die Erfüllung aller Mitwirkungspflichten. Die Auszahlung und Erbringung der Leistungen erfolgt in festgelegten Beträgen und ist an gesetzliche Leistungsobergrenzen gekoppelt, eine Übernahme darüber hinausgehender Kosten durch die Pflegeversicherung ist ausgeschlossen.
Gibt es einen Anspruch auf Beratung und wie ist dieser rechtlich ausgestaltet?
Nach § 7a SGB XI haben Pflegebedürftige und deren Angehörige ab dem Zeitpunkt der Antragstellung einen Rechtsanspruch auf individuelle Beratung durch einen Pflegeberater der Pflegekasse. Ziel der Beratung ist es, den individuellen Unterstützungsbedarf zu erfassen, einen geeigneten Hilfemix aus informellen, ambulanten und stationären Angeboten zusammenzustellen und bei der Antragsstellung bzw. Organisation zu unterstützen. Die Beratung erfolgt regelmäßig im persönlichen Gespräch, telefonisch oder auf Wunsch auch bei Hausbesuchen. Darüber hinaus sind Pflegestützpunkte (§ 7c SGB XI) zur umfassenden Beratung und Koordination aller Leistungen im Pflege- und Sozialbereich eingerichtet. Die Beratung ist kostenfrei und darf keine Bindung an bestimmte Leistungserbringer beinhalten.