Pflegestufen: Rechtliche Definition und Entwicklung im deutschen Sozialrecht
Begriff und rechtliche Grundlagen der Pflegestufen
Der Begriff Pflegestufe bezeichnete bis zum Jahr 2016 eine gesetzlich definierte Kategorie im deutschen Sozialrecht zur Einordnung des individuellen Pflegebedarfs pflegebedürftiger Menschen. Die Pflegestufen waren zentrales Element des Sozialgesetzbuches Elftes Buch (SGB XI – Soziale Pflegeversicherung) und dienten der Bemessung von Leistungen aus der Pflegeversicherung. Sie wurden mit dem Inkrafttreten des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) zum 1. Januar 2017 durch das System der Pflegegrade abgelöst, um dem tatsächlichen Umfang der Pflegebedürftigkeit besser gerecht zu werden. Trotz der rechtlichen Ablösung ist der Begriff aufgrund seiner vorherigen großen Bedeutung weiterhin geläufig.
Historische Entwicklung und gesetzliche Verankerung
Mit Einführung der Pflegeversicherung zum 1. Januar 1995 wurde die Einteilung der Pflegebedürftigkeit in die drei Pflegestufen eingeführt. Geregelt war dies insbesondere in § 15 SGB XI a.F. Die Zielsetzung bestand darin, pflegebedürftigen Personen entsprechend des täglichen Hilfebedarfs bei den sogenannten Verrichtungen im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung differenziert Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung zu eröffnen.
Die drei Pflegestufen
- Pflegestufe I (Erhebliche Pflegebedürftigkeit): Täglicher Hilfebedarf mindestens 1,5 Stunden Grundpflege und zusätzlich hauswirtschaftliche Versorgung mehrmals die Woche.
- Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftigkeit): Mindestens 3 Stunden täglicher Hilfebedarf an Grundpflege, davon mindestens 2-mal täglich.
- Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftigkeit): Mindestens 5 Stunden täglicher Hilfebedarf an Grundpflege, davon ebenfalls wenigstens 3-mal täglich, auch in der Nacht.
- Eine besondere Härtefallregelung ermöglichte in Ausnahmefällen eine “Pflegestufe III mit Härtefall”, wenn noch höherer Pflegebedarf bestand.
Gesetzliche Definition der Pflegebedürftigkeit
Pflegebedürftigkeit war rechtlich in § 14 SGB XI a.F. definiert. Maßgeblich für die Zuordnung zu einer Pflegestufe war, ob die Person wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung bei gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens im Ablauf von Grundpflege (körperbezogene Pflegemaßnahmen) und hauswirtschaftlicher Versorgung dauernd und in erheblichem oder höherem Maße Hilfe benötigte.
Feststellungs- und Begutachtungsverfahren
Antragstellung und Verfahren
Für die Feststellung einer Pflegestufe war ein schriftlicher Antrag bei der zuständigen Pflegekasse notwendig. Daraufhin erfolgte die Begutachtung meist durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder in privaten Fällen durch Medicproof. Die Begutachtung erfolgte anhand der – in den Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen konkretisierten – gesetzlichen Kriterien.
Prüfkriterien und Umfang der Pflege
Das Begutachtungsverfahren prüfte systematisch:
- Art, Anzahl und Umfang der täglichen Hilfeleistungen,
- Notwendigkeit der Hilfe bei den Verrichtungen im Bereich Waschen, Ernährung, Mobilität und Ausscheidungen,
- Häufigkeit und Dauer der erforderlichen Maßnahmen.
Der Hilfebedarf musste dauerhaft, also auf mindestens sechs Monate, angelegt sein, damit Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung gewährt werden konnten.
Leistungen nach Pflegestufen
Abhängig von der festgestellten Pflegestufe waren unterschiedliche Leistungsbeträge vorgesehen. Es wurde unterschieden zwischen Pflegesachleistungen (ambulante Pflege durch einen Pflegedienst), Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen (z.B. pflegende Angehörige) sowie Kombinationsleistungen und weiteren ergänzenden Leistungen wie Pflegehilfsmittel oder Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes.
Beispielhafte monatliche Leistungsbeträge im Jahr 2016:
- Pflegestufe I: Pflegegeld 244 € / Pflegesachleistung 468 €
- Pflegestufe II: Pflegegeld 458 € / Pflegesachleistung 1.144 €
- Pflegestufe III: Pflegegeld 728 € / Pflegesachleistung 1.612 €
- Härtefallregelung: erhöhte Sachleistung auf bis zu 1.995 €
Kritische Bewertung und Grund für die Ablösung
Kritisiert wurde an den Fallkonstellationen der Pflegestufen insbesondere die Fokussierung auf den Hilfebedarf bei der Grundpflege zu festen Zeitvorgaben. Geistige oder psychische Einschränkungen wurden nur unzureichend berücksichtigt (Betreuung dementiell Erkrankter). Daraus resultierten Defizite in der tatsächlichen Versorgungsrealität und eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten über die korrekte Einstufung.
Ablösung durch die Pflegegrade
Mit der Pflegereform 2017 wurden die Pflegestufen durch das neue System der Pflegegrade ersetzt. Zentrale Änderung war die Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf alle Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit – unabhängig, ob diese somatischer, psychischer oder kognitiver Natur sind. Die Umstellung erfolgte automatisch zum 1. Januar 2017 durch Überleitungsvorschriften gemäß § 140 SGB XI und die Zuordnung der bisherigen Pflegestufen und „zusätzlichen Betreuungsbedarfs” auf die neue Skala der Pflegegrade.
Bedeutung der Pflegestufen in der Übergangszeit und heute
Für Personen, die bereits vor Inkrafttreten der Reform Leistungen erhielten, gelten seit 2017 die Pflegegrade. Rechtlich haben die Pflegestufen keine unmittelbare Bedeutung mehr, können aber in Alt- oder Bestandsfällen (z.B. bei der Geltendmachung rückwirkender Ansprüche oder in Erbstreitigkeiten) noch eine Rolle spielen.
Rechtsschutz und Verfahren bei der Feststellung
Gegen die Entscheidung der Pflegekasse, insbesondere die Zuordnung zu einer bestimmten Pflegestufe und die Höhe der daraus resultierenden Leistungen, war der Widerspruch statthaft. Gegen ablehnende oder zu niedrig erachtete Bescheide bestand darüber hinaus die Möglichkeit der Klage zum Sozialgericht nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Literatur und Quellen
- Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) – Soziale Pflegeversicherung, insbesondere § 14, § 15 a.F.
- Zweites Pflegestärkungsgesetz (PSG II)
- MDK-Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (bis 2016)
- Literatur: H. Schellhorn/A. Baczko/S. Haag: Pflegeversicherung – Gesetz und Praxis, München 2014.
Zusammenfassung:
Pflegestufen waren ein tragendes Element der Leistungsbemessung in der Sozialen Pflegeversicherung nach deutschem Recht. Ihre Einteilung orientierte sich am täglichen Zeitbedarf der Grundpflege, war jedoch in der Praxis zunehmend unzureichend. Im Zuge der Pflegereform 2017 wurden sie durch die flexibleren und ganzheitlicheren Pflegegrade ersetzt. Die Pflegestufen sind heute vor allem von retrospektivem Interesse, etwa in Altverfahren oder im Kontext der historischen Entwicklung des deutschen Pflegerechts.
Häufig gestellte Fragen
Wie erfolgt die rechtliche Einstufung in eine Pflegestufe?
Die rechtliche Einstufung in eine Pflegestufe orientiert sich an den Vorschriften des Sozialgesetzbuches XI (SGB XI), insbesondere den §§ 14 und 15 SGB XI. Maßgeblich ist die Feststellung der Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) beziehungsweise durch andere unabhängige Gutachter. Die Begutachtung erfolgt anhand gesetzlich festgelegter Kriterien, bescheinigt den Umfang der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und Fähigkeit und wird dann durch die Pflegekassen geprüft. Dabei spielen der Zeitaufwand und die Art der alltäglichen Hilfeleistungen eine entscheidende Rolle, wobei nach Antragstellung ein Anspruch auf zügige Begutachtung und schriftliche Begründung der Entscheidung besteht. Gegen ablehnende oder fehlerhafte Bescheide ist der Widerspruch innerhalb eines Monats möglich.
Welche rechtlichen Ansprüche entstehen mit der Zuerkennung einer Pflegestufe?
Mit der Zuerkennung einer Pflegestufe (seit 2017: eines Pflegegrads) entsteht ein rechtsverbindlicher Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung. Diese umfassen Pflegegeld, Pflegesachleistungen, Kombinationsleistungen sowie zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen. Die Höhe und Art der Leistungen sind gesetzlich geregelt und im Bescheid der Pflegekasse verbindlich ausgewiesen. Zusätzlich entstehen Ansprüche auf Pflegehilfsmittel, finanzielle Unterstützung bei wohnumfeldverbessernden Maßnahmen sowie auf Beratung und Unterstützung durch Pflegestützpunkte.
Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen bei Ablehnung oder Herabstufung einer Pflegestufe?
Wird eine Pflegestufe abgelehnt oder herabgestuft, besteht für die Betroffenen das Recht auf Einlegung eines Widerspruchs nach § 84 SGB X. Der Widerspruch ist innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheids schriftlich bei der Pflegekasse einzureichen. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens kann ein weiteres Gutachten vom Medizinischen Dienst eingeholt werden. Im Falle der Ablehnung des Widerspruchs bleibt der Klageweg zum Sozialgericht offen. Bis zur endgültigen Entscheidung gilt die zuletzt anerkannte Leistung, sofern dies im Bescheid so festgelegt wurde.
Wie lange gilt eine zuerkannte Pflegestufe aus rechtlicher Sicht?
Die Zuerkennung einer Pflegestufe beziehungsweise eines Pflegegrads gilt grundsätzlich unbefristet, solange keine erheblichen Änderungen des Gesundheitszustands auftreten. Pflegekassen haben jedoch das Recht und die Pflicht, die Voraussetzungen zur Pflegebedürftigkeit in regelmäßigen Abständen erneut zu prüfen (§ 18 SGB XI). Betroffene sind verpflichtet, wesentliche Veränderungen in ihrem Gesundheitszustand mitzuteilen; dadurch kann eine erneute Begutachtung und Änderung des Pflegegrads erfolgen.
Besteht ein rechtlicher Anspruch auf eine Begutachtung im eigenen Wohnumfeld?
Ja, nach § 18 SGB XI besteht im Regelfall ein gesetzlicher Anspruch darauf, dass die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst im gewohnten, häuslichen Umfeld stattfindet. Ziel ist es, den Hilfebedarf möglichst realitätsnah und individuell zu ermitteln. Nur ausnahmsweise – etwa bei längeren Krankenhausaufenthalten – kann eine Begutachtung auch in einer anderen Umgebung (z.B. Klinik, Reha-Einrichtung) erfolgen. Die Begutachtung muss zeitnah nach Antragstellung erfolgen; die Pflegekasse ist zur Information über Ablauf und Umfang verpflichtet.
Wie ist die rechtliche Stellung von Angehörigen bei der Feststellung der Pflegestufe?
Angehörigen kommt im Verfahren zur Feststellung der Pflegestufe eine besondere rechtliche Stellung zu, insbesondere, wenn sie als gesetzliche Vertreter oder Bevollmächtigte auftreten (§ 1896 ff. BGB). Sie dürfen dem Gutachter alle relevanten Informationen zum Hilfebedarf geben, Anträge stellen und an der Begutachtung teilnehmen. Die Pflegekasse ist verpflichtet, Bevollmächtigte oder gesetzliche Vertreter in das Verfahren einzubinden und deren Rechte zu respektieren. Entscheidungen und Bescheide müssen auch an diese mitgeteilt werden.