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Notorische Tatsache

Notorische Tatsache: Begriff, Bedeutung und rechtlicher Rahmen

Eine notorische Tatsache ist eine Gegebenheit, die so allgemein bekannt oder ohne besonderen Aufwand aus allgemein zugänglichen, verlässlichen Quellen feststellbar ist, dass sie in einem Verfahren keiner förmlichen Beweisaufnahme bedarf. Sie entlastet die Beteiligten von der Beweisführung und ermöglicht es dem entscheidenden Gericht oder der Behörde, diese Tatsache unmittelbar der Entscheidung zugrunde zu legen. Der Umgang mit notorischen Tatsachen ist ein Instrument der Verfahrensökonomie, zugleich aber an rechtliche Sorgfalts- und Transparenzanforderungen gebunden.

Abgrenzungen und Unterarten

Allgemeinkundige Tatsachen

Allgemeinkundig sind Umstände, die einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen Menschen geläufig sind oder sich ohne besondere Fachkenntnisse aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Informationsquellen erschließen lassen. Beispiele sind geographische Grundtatsachen, weithin bekannte historische Ereignisse oder allgemein bekannte wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Nicht erforderlich ist, dass jedermann die Tatsache tatsächlich kennt; entscheidend ist ihre leichte und zuverlässige Überprüfbarkeit.

Gerichtskundige Tatsachen

Gerichtskundig sind Umstände, die dem Gericht aus seiner amtlichen Tätigkeit heraus bekannt sind, etwa aus beigezogenen Akten desselben oder eines anderen Verfahrens, aus allgemein zugänglichen amtlichen Bekanntmachungen oder aus gerichtsintern protokollierten Abläufen. Maßgeblich ist, dass die Kenntnis nicht aus privaten Wahrnehmungen einzelner Entscheidender stammt, sondern aus Quellen, die einer sachlichen Kontrolle zugänglich sind. Die Beteiligten müssen zu solchen Tatsachen Stellung nehmen können.

Behördlich bekannte Tatsachen

In Verwaltungsverfahren können Behörden auf amtlich bekannte, dokumentierte Umstände zurückgreifen, sofern diese verlässlich, nachvollziehbar und für die Beteiligten einsehbar sind. Dies gilt insbesondere dort, wo die Sachverhaltsermittlung von Amts wegen erfolgt. Auch hier ist die Möglichkeit der Stellungnahme sicherzustellen.

Was nicht erfasst ist

Keine notorischen Tatsachen sind Wertungen, rechtliche Schlussfolgerungen, streitige Einschätzungen, komplexe technische Feststellungen oder Spezialwissen. Ebenfalls nicht erfasst ist privates Erfahrungs- oder Insiderwissen Einzelner. Bei Zweifeln an der allgemeinen Bekanntheit oder Verlässlichkeit ist eine förmliche Beweisaufnahme erforderlich.

Funktion im Verfahren

Beweisthema und Beweisbedürftigkeit

Notorische Tatsachen sind nicht beweisbedürftig. Sie müssen daher nicht behauptet und bewiesen werden, um berücksichtigt zu werden. Gleichwohl müssen sie in der Entscheidung erkennbar gemacht werden, damit ihre Relevanz und Tragweite nachvollzogen werden kann.

Beweislast und Beweiserleichterung

Die Annahme der Notorietät wirkt wie eine Beweiserleichterung: Die Partei, die sich auf die Tatsache stützt, muss hierfür keine Beweismittel vorlegen. Die grundsätzliche Verteilung der Beweislast für andere, nicht notorische Tatsachen bleibt unberührt.

Rechtliches Gehör und Transparenz

Auch bei notorischen Tatsachen ist der Anspruch auf rechtliches Gehör zu wahren. Die Beteiligten müssen erkennen können, welche Tatsachen ohne Beweisaufnahme zugrunde gelegt werden, und Gelegenheit erhalten, sich hierzu zu äußern. Dies schließt die Möglichkeit ein, die Einordnung als notorisch in Frage zu stellen.

Dokumentation und Begründung

Die Entscheidung sollte erkennen lassen, auf welche notorischen Tatsachen abgestellt wurde und aus welchen allgemein zugänglichen Erkenntnisquellen deren Bekanntheit oder Verlässlichkeit folgt. Dadurch wird die Nachprüfbarkeit in Rechtsmittelverfahren gewährleistet.

Materielle und prozessuale Anforderungen

Quelle der Notorietät

Als tragfähig gelten allgemein zugängliche, verlässliche Quellen von dauerhafter oder gefestigter Aussagekraft, etwa amtliche Statistiken, öffentlich bekannte Daten und Tatsachen aus neutralen, überprüfbaren Registern oder einschlägigen öffentlichen Verlautbarungen. Reine Gerüchte, spekulative Medienberichte oder Quellen mit erkennbaren Fehlern genügen nicht.

Zeitliche und örtliche Reichweite

Notorietät kann regional oder zeitlich begrenzt sein. Eine Tatsache kann in einem bestimmten Gebiet allgemein bekannt sein, anderswo jedoch nicht. Ebenso können frühere Gewissheiten durch neue Entwicklungen überholt sein. Daher ist stets zu prüfen, ob die angenommene Bekanntheit im maßgeblichen Zeitpunkt und örtlichen Kontext fortbesteht.

Qualität und Zuverlässigkeit der Information

Erforderlich ist ein einheitlicher, verlässlicher Erkenntnisstand. Uneinheitliche oder flüchtige Online-Informationen rechtfertigen die Annahme der Notorietät nur, wenn sie von hoher Verlässlichkeit, stabiler Abrufbarkeit und allgemeiner Anerkennung getragen sind. Die bloße leichte Auffindbarkeit im Internet genügt nicht.

Umgang mit Bestreiten

Die Beteiligten können einwenden, eine Tatsache sei nicht notorisch. Wird substantiiert dargelegt, dass die angebliche Bekanntheit zweifelhaft oder die Quelle unsicher ist, kann eine formelle Beweisaufnahme erforderlich werden. Das bloße Bestreiten ohne tatsächliche Anhaltspunkte hebt die Notorietät nicht auf.

Praxisbeispiele

Typische notorische Tatsachen

Regelmäßig als notorisch anerkannt werden allgemein bekannte Kalenderdaten und Feiertage, langjährig bekannte geographische Lagen, weithin bekannte historische Ereignisse, meteorologische Extremereignisse von außergewöhnlicher Öffentlichkeitswirkung oder objektiv feststehende allgemeine Preis- und Marktentwicklungen von breiter, stabiler Bekanntheit.

Zweifelhafte Fälle

Als problematisch gelten Detaildaten aus dynamischen Datenbanken, ungeprüfte Zahlen aus Pressemeldungen, regional wenig bekannte Ereignisse, technische Spezialinformationen, betriebsinterne Abläufe oder Tatsachen, die nur mit Fachwissen zuverlässig eingeordnet werden können. Hier wird eine eigenständige Beweisaufnahme in Betracht gezogen.

Rechtsfolgen und Grenzen

Reichweite der Bindungswirkung

Die Annahme der Notorietät betrifft allein die Beweisbedürftigkeit der Tatsache. Sie ersetzt nicht die rechtliche Bewertung und begründet keine Bindung für andere, nicht notorische Tatsachen. Sie enthebt die Beteiligten nicht der Darlegung anderer entscheidungserheblicher Punkte.

Korrektiv der Nachprüfbarkeit

Die Annahme oder Ablehnung von Notorietät muss nachvollziehbar und überprüfbar sein. Entscheidungen, die sich auf angeblich notorische Tatsachen stützen, sollen dies erkennbar machen, damit eine Kontrolle im Rechtsmittelzug möglich bleibt.

Keine Ausweitung auf Werturteile

Wertungen, Prognosen und rechtliche Schlussfolgerungen sind nicht notorisch. Auch gesellschaftliche Mehrheitsmeinungen begründen keine Notorietät, wenn sie nicht auf objektiv feststellbaren Tatsachen beruhen.

Häufig gestellte Fragen

Was bedeutet „notorische Tatsache“ im rechtlichen Sinne?

Es handelt sich um eine allgemein bekannte oder ohne besonderen Aufwand aus verlässlichen, allgemein zugänglichen Quellen feststellbare Gegebenheit, die keiner förmlichen Beweisaufnahme bedarf und direkt der Entscheidung zugrunde gelegt werden kann.

Wer entscheidet, ob eine Tatsache notorisch ist?

Das entscheidende Gericht oder die zuständige Behörde trifft die Entscheidung, ob eine Tatsache notorisch ist. Dabei sind Transparenz und die Möglichkeit der Stellungnahme durch die Beteiligten zu gewährleisten.

Müssen Parteien notorische Tatsachen vortragen und beweisen?

Ein förmlicher Beweis ist nicht erforderlich. Gleichwohl ist es zweckmäßig, auf die Relevanz hinzuweisen, damit die Entscheidungsgrundlage klar erkennbar wird. Die Beweislast für andere, nicht notorische Tatsachen bleibt unberührt.

Können Beteiligte bestreiten, dass eine Tatsache notorisch ist?

Ja. Wird substantiiert dargelegt, dass die angenommene Bekanntheit zweifelhaft oder die Informationsquelle unzuverlässig ist, kommt eine förmliche Beweisaufnahme in Betracht. Bloßes pauschales Bestreiten genügt hierfür in der Regel nicht.

Darf ein Gericht Informationen aus dem Internet als notorisch behandeln?

Das ist möglich, wenn die Quelle allgemein zugänglich, zuverlässig und von gefestigter Aussagekraft ist. Reine Gerüchte, flüchtige oder widersprüchliche Online-Angaben rechtfertigen die Annahme der Notorietät nicht.

Gelten notorische Tatsachen überall gleichermaßen?

Notorietät kann regional und zeitlich begrenzt sein. Eine Tatsache kann in einem Gebiet allgemein bekannt sein, in einem anderen jedoch nicht, oder durch neue Entwicklungen an Aktualität und Verlässlichkeit verlieren.

Worin liegt der Unterschied zu fachlichen Erfahrungssätzen oder Sachverständigenwissen?

Notorische Tatsachen benötigen keine besonderen Fachkenntnisse zur Feststellung. Erfahrungssätze und Sachkunde beruhen auf spezieller Expertise und werden regelmäßig durch Beweismittel oder Gutachten vermittelt.