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Notorische Tatsache


Begriff und Definition der Notorischen Tatsache

Eine notorische Tatsache (lateinisch: factum notorium) ist im Recht eine Tatsachenfeststellung, die aufgrund ihrer Allgemeinbekanntheit oder Offensichtlichkeit keines Beweises bedarf. Sie beschreibt Sachverhalte, die so allgemein bekannt oder unzweifelhaft sind, dass sie von einem Gericht, einer Behörde oder einer anderen offiziellen Stelle ohne weitere Nachforschung als gegeben angenommen werden können. Notorische Tatsachen sind Teil der Beweisregeln und spielen insbesondere im Zivilprozess, Strafprozess sowie im Verwaltungsverfahren eine wichtige Rolle.

Allgemeine Merkmale

Allgemeinbekanntheit

Eine Tatsache gilt als allgemeinbekannt, wenn sie einer breiten Öffentlichkeit ohne besondere Fachkenntnisse zugänglich ist oder als so offenkundig anzusehen ist, dass sie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt. Dies umfasst insbesondere Ereignisse, Daten oder Umstände, die durch allgemeine Lebenserfahrung oder aus allgemein zugänglichen Quellen (z. B. Kalenderdaten, geografische Gegebenheiten, Schulwissen, historische Ereignisse, aktuelle Naturereignisse) bekannt sind.

Offensichtlichkeit

Offensichtlichkeit bezieht sich auf Tatsachen, die so klar auf der Hand liegen, dass sie auch ohne spezielle Nachprüfung als wahr angenommen werden können. Hierzu zählen beispielsweise allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse oder langjährig belegte gesellschaftliche Verhältnisse.

Rechtsgrundlagen

Zivilprozessordnung (ZPO) (§ 291 ZPO)

Gemäß § 291 der deutschen Zivilprozessordnung bedürfen notorische Tatsachen keines Beweises. Der Paragraf lautet:

„Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.“

Diese Norm wird ergänzt durch die gerichtliche Hinweisobliegenheit nach § 139 ZPO, die das Gericht verpflichtet, auf den offenkundigen Charakter von Tatsachen hinzuweisen, sofern eine Partei hierauf abstellt.

Strafprozessordnung (StPO) (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO)

Auch in der Strafprozessordnung wird geregelt, dass insbesondere offenkundige Tatsachen vom Beweis ausgeschlossen sind:

„Offenkundige Tatsachen bedürfen keines Beweises.“

Das Gericht ist daher berechtigt und verpflichtet, Erkenntnisse, die als notorisch gewertet werden, ohne weitere Beweisaufnahme zu berücksichtigen.

Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) (§ 24 VwVfG)

Im Verwaltungsverfahren spielt die Notorietät gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 und 3 VwVfG eine Rolle. Darin wird festgelegt, dass wesentliche, allgemeinbekannte Umstände von Amts wegen berücksichtigt werden können und nicht nochmals nachzuweisen sind.

Rechtsprechung und Anwendungsbereiche

Praxisrelevante Beispiele

Notorische Tatsachen in der gerichtlichen und behördlichen Praxis sind beispielsweise:

  • Naturereignisse: Sonnenauf- und -untergangszeiten, Klimabedingungen einer Region
  • Geografische Tatsachen: Lage von Städten oder Ländern
  • Historische Ereignisse: Ende des Zweiten Weltkriegs, Fall der Berliner Mauer
  • Öffentliche Feiertage und Daten: Weihnachts- und Osterfeiertage
  • Wirtschaftliche Gegebenheiten: Inflationsraten in bestimmten Zeiträumen, allgemein anerkannte Produkterfindungen

Grenzen der Notorietät

Tatsachen, die nur einem eingeschränkten Personenkreis bekannt oder nur mit besonderen Fachkenntnissen zu erschließen sind, gelten nicht als notorisch. Insbesondere sog. „Gerichtskundigkeit“ (Umstände, die lediglich dem entscheidenden Gericht aufgrund früherer Verfahren bekannt sind) wird strikt von notorischen Tatsachen unterschieden. Auch Tatsachen, die strittig sind oder bei denen Zweifel verbleiben, müssen durch formale Beweismittel nachgewiesen werden.

Gerichtliche Handhabung

Die Feststellung, ob eine Tatsache notorisch ist, obliegt dem jeweiligen Gericht. Die Parteien können sich auf die Notorietät bestimmter Umstände berufen, das letztendliche Ermessen liegt allerdings bei der entscheidenden Instanz. Gegebenenfalls kann das Gericht auch von Amts wegen Tatsachen als notorisch anerkennen, ohne dass eine Partei einen entsprechenden Antrag stellt.

Abgrenzungen und verwandte Begriffe

Gerichtskundigkeit

Während notorische Tatsachen allgemeingültig leicht erkennbar sind, bezeichnet Gerichtskundigkeit solche Sachverhalte, welche einem Gericht aus seiner eigenen gerichtlichen Tätigkeit geläufig sind, etwa durch andere Verfahren. Gerichtskundige Umstände sind jedoch nicht mit allgemeinbekannten Fakten gleichzusetzen und genießen nicht denselben Status wie notorische Tatsachen.

Amtsermittlung und freie Beweiswürdigung

Insbesondere im Verwaltungsprozess besteht eine Amtsermittlungspflicht, die es Behörden erlaubt, bekannte oder offenkundige Tatsachen auch ohne Anregung durch die Beteiligten zu berücksichtigen. Die Beweiswürdigung bleibt dabei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde überlassen, wobei notorisch bekannte Tatsachen als bewiesen gelten.

Bedeutung im Verfahrensrecht

Die Anerkennung einer Tatsache als notorisch erleichtert und beschleunigt gerichtliche und behördliche Verfahren, da über unstreitige, offensichtliche Sachverhalte keine Beweisaufnahme durchgeführt werden muss. Dadurch werden Prozessdauer und -kosten reduziert. Gleichzeitig verhindert die Einordnung streitiger oder unsicherer Tatsachen als notorisch entsprechende Beweisprobleme und wahrt die Rechte der Beteiligten.

Fazit

Die „notorische Tatsache“ ist ein zentraler Begriff des deutschen Verfahrensrechts, der dem Zweck dient, allgemein anerkannte oder offenkundige Umstände ohne weitere Beweisaufnahme zu berücksichtigen. Die genaue Wertung, ob eine Tatsache notorisch ist, erfolgt stets nach den Umständen des Einzelfalls. Durch diese Praxis tragen die Vorschriften zur Verfahrensökonomie und Rechtsklarheit bei und sichern einen effizienten Ablauf gerichtlicher und behördlicher Prozesse.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hat eine notorische Tatsache im gerichtlichen Verfahren?

Eine notorische Tatsache entfaltet im gerichtlichen Verfahren eine erhebliche Bedeutung, da sie als allgemein bekannt und offenkundig gilt und somit keiner weiteren Beweisführung bedarf. Gerichte können auf die Feststellung notorischer Tatsachen zurückgreifen, wenn sie der Auffassung sind, dass diese Informationen allgemein zugänglich, unverändert und keinem vernünftigen Zweifel unterworfen sind. Dies führt dazu, dass gerichtliche Ressourcen effizienter eingesetzt werden, da aufwendige Beweisaufnahmen oder Sachverständigengutachten in Bezug auf diese Tatsachen unterbleiben können. Dabei ist jedoch von zentraler Bedeutung, dass Richter mit besonderer Sorgfalt prüfen, ob eine Tatsache tatsächlich notorisch ist, da ein überhastetes Absehen von der Beweisaufnahme zu fehlerhaften Urteilen führen kann. Im Ergebnis verleiht die Anerkennung notorischer Tatsachen dem gerichtlichen Verfahren eine größere Praktikabilität und erhöht die Rechtssicherheit, sofern die Voraussetzungen nach den jeweiligen Prozessordnungen korrekt eingehalten werden.

Wie entscheidet das Gericht, ob eine Tatsache als notorisch anzusehen ist?

Gerichte prüfen, ob die betreffende Tatsache weit über den juristischen Kreis hinaus allgemeines Wissen der Bevölkerung, zumindest innerhalb des regionalen oder sachlichen Beurteilungsrahmens, darstellt. Dabei werden die Kenntnisse einer durchschnittlich informierten, verständigen Person als Maßstab herangezogen. Auch gerichtliche oder behördliche Erfahrungen früherer Fälle können eine Rolle spielen. Es ist unerheblich, ob die Richter selbst von der Tatsache bereits Kenntnis hatten – entscheidend ist, dass diese Information grundsätzlich ohne individuelles Fachwissen oder besondere Recherche zugänglich ist. In Zweifelsfällen sind Gerichte verpflichtet, dem Beweisantrag stattzugeben. Sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass die Tatsache doch nicht notorisch war, gilt dies als Verstoß gegen das rechtliche Gehör und kann einen Revisionsgrund begründen.

Kann eine Prozesspartei die Annahme der Notorietät anfechten?

Ja, eine Prozesspartei hat das Recht, die Annahme der Notorietät zu rügen. Ist sie der Auffassung, dass die vom Gericht als notorisch behandelte Tatsache keinesfalls allgemeines Wissen darstellt oder im Einzelfall unterschiedliche Ansichten bestehen, kann sie dies durch konkreten Vortrag und gegebenenfalls Beweisantrag unter Beweis stellen. Das Gericht muss dann prüfen, ob tatsächlich Unklarheit oder Divergenzen in der Kenntnis bzw. Bewertung dieser Tatsache bestehen. Wird eine solche Rüge jedoch ohne Substanz erhoben, bleibt die Einschätzung des Gerichts bestehen. Im Falle begründeter Zweifel ist die Beweisaufnahme zwingend.

Gibt es Unterschiede zwischen richterlicher und allgemeiner Notorietät?

Ja, es wird unterschieden zwischen allgemeiner und richterlicher Notorietät. Die allgemeine Notorietät bezieht sich auf Tatsachen, die einem breiten Bevölkerungskreis ohne weiteres bekannt sind – beispielsweise geografische, historische oder naturwissenschaftliche Grundtatsachen. Die richterliche Notorietät hingegen umfasst solche Tatsachen, die innerhalb eines bestimmten Fach- oder Sachbereichs, etwa bei Behörden oder Gerichten, allgemein anerkannt sind, ohne in der breiten Bevölkerung bekannt zu sein. Ein klassisches Beispiel sind gewisse Abläufe in Verwaltungsverfahren, die für Außenstehende nicht notwendig geläufig sind, aber in der Fachöffentlichkeit keinen Zweifel lassen. Beide Formen entbinden das Gericht von der Beweisaufnahme, müssen jedoch unter strenger Prüfung vorliegen.

Inwiefern sind notorische Tatsachen in Rechtsmitteln angreifbar?

Der Umgang mit notorischen Tatsachen kann im Wege des Rechtsmittels überprüft werden. So ist insbesondere in der Revision oder Beschwerde zu prüfen, ob das erstinstanzliche Gericht eine Tatsache zu Unrecht als notorisch angesehen und deshalb auf eine Beweisaufnahme verzichtet hat. Sollte das Rechtsmittelgericht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Annahme der Notorietät nicht gerechtfertigt war, kann dies die Aufhebung des angegriffenen Urteils und eine Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme nach sich ziehen. Die genaue Darlegung, warum die angebliche Notorietät fehlte, obliegt dabei der anfechtenden Partei.

Kann sich die Notorietät einer Tatsache im Laufe der Zeit ändern?

Ja, der Status einer Tatsache als notorisch ist nicht starr, sondern kann sich im Zeitverlauf ändern. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt als allgemeines Wissen galt, kann durch technische, gesellschaftliche oder wissenschaftliche Entwicklungen an Allgemeingültigkeit verlieren bzw. gewinnen. Insbesondere neue Erkenntnisse oder tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen können dafür sorgen, dass ein bisher als notorisch angesehener Sachverhalt hinterfragt werden muss. Gerichte sind daher dazu verpflichtet, stets den aktuellen Erkenntnisstand und die jeweilige Lebenswirklichkeit zu berücksichtigen.

Sind notorische Tatsachen auf rechtliche Würdigungen anwendbar?

Notorische Tatsachen beziehen sich grundsätzlich ausschließlich auf Tatsachen, nicht jedoch auf rechtliche Bewertungen. Ob eine bestimmte Tatsachenfeststellung vorliegt, ist dem Bereich der Notorietät zugänglich; die rechtliche Beurteilung dieser Tatsache hingegen bleibt dem rechtlichen Prüfprogramm des Gerichts vorbehalten. Eine rechtliche Bewertung – also eine Subsumtion unter eine Rechtsnorm – kann nie ihres Beweises oder der richterlichen Prüfung enthoben sein, sondern bedarf immer einer umfassenden rechtlichen Auseinandersetzung.

Welche Rolle spielen notorische Tatsachen im Verwaltungsverfahren?

Auch im Verwaltungsverfahren können notorische Tatsachen eine bedeutsame Rolle spielen. Behörden sind, ebenso wie Gerichte, berechtigt, allgemein bekannte Tatsachen als gegeben anzunehmen und von einer aufwendigen Sachverhaltsermittlung in diesem Punkt abzusehen. Dies dient der Verwaltungsökonomie und verhindert unnötigen Aufwand. Gleichwohl sind Verwaltungsbehörden verpflichtet, in Zweifelsfällen – etwa nach substantiierter Rüge des Betroffenen – in die Sachverhaltsermittlung einzutreten und gegebenenfalls entsprechende Beweise zu erheben. Die Einordnung als notorische Tatsache hat somit auch in Verwaltungsverfahren entlastende, aber keine bindende Wirkung.