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Neugliederung des Bundesgebietes


Begriff und Bedeutung der Neugliederung des Bundesgebietes

Die Neugliederung des Bundesgebietes beschreibt im deutschen Verfassungsrecht sämtliche erheblichen Veränderungen der territorialen Gliederung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere die Bildung, Auflösung, Verschmelzung oder Gebietsveränderung von Ländern. Die rechtliche Grundlage hierfür bildet insbesondere das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG). Die Neugliederung seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ist Ausdruck des föderalen Prinzips und der demokratischen Mitwirkung der Bevölkerung auf Länderebene.


Verfassungsrechtliche Grundlagen

Artikel 29 des Grundgesetzes

Die zentrale Regelung zur Neugliederung des Bundesgebietes findet sich in Artikel 29 GG. Dieser Artikel bestimmt ausführlich das Verfahren und die Voraussetzungen für Änderungen im Bestand und Zuschnitt der Länder.

Inhalt und Zweck

Artikel 29 GG zielt auf eine „Neuordnung des Bundesgebietes“, wenn „die bestehende Gliederung in Länder nicht den Erfordernissen entspricht“ – etwa im Hinblick auf leistungsfähige Verwaltungsstrukturen oder historisch gewachsene Bezüge. Ziel ist eine zweckmäßige, demokratische und leistungsfähige Länderstruktur.

Verfahren nach Artikel 29 GG

  1. Gesetzlicher Vorschlag und Bundesgesetz:

Die Neugliederung erfolgt per Bundesgesetz, das die Zustimmung der betroffenen Länder oder einen Volksentscheid in den betroffenen Gebieten voraussetzt.

  1. Anhörung:

Der Vorschlag muss die Möglichkeit zur Stellungnahme durch die betroffenen Länder und Gebiete eröffnen.

  1. Volksentscheid:

Weigern sich die betroffenen Länder, entscheidet ein bindender Volksentscheid der betroffenen Bevölkerung.

  1. Bestandskraft und Bestandsschutz:

Veränderungen nach 1949 sind besonders geschützt-eine Rückgängigmachung ist nur unter weiteren Voraussetzungen möglich.

Weitere verfassungsrechtliche Regelungen

Artikel 118 GG

Für das spezifische Verhältnis von Baden und Württemberg ist Artikel 118 GG einschlägig, der ein vereinfachtes Verfahren für die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern vorsah.

Artikel 118a GG

Artikel 118a GG ermöglicht es den Ländern Berlin und Brandenburg, durch gemeinsamen Staatsvertrag und ohne Volksentscheid zu fusionieren (beispielsweise die geplante, aber nicht umgesetzte Fusion zu „Berlin-Brandenburg“).

Artikel 29a GG

Artikel 29a GG enthält Regelungen, um beispielsweise Berlin mit Brandenburg und/oder anderen Ländern zusammenzulegen, sofern dies von den betroffenen Ländern beschlossen wird.


Ablauf und Formen der Neugliederung

Initiierung der Neugliederung

Eine Neugliederung kann durch

  • Beschluss des Bundestages,
  • Antrag einer Landesregierung oder
  • auf Initiative der Bevölkerung selbst (über Bürgerbegehren mit entsprechender Anzahl an Unterschriften)

erfolgen.

Gesetzgebungsverfahren

Das Gesetz zur Neugliederung muss den in Artikel 29 GG vorgesehenen Ablauf einhalten, insbesondere die Beteiligungsrechte der Länder, die Anhörung der betroffenen Bevölkerung und ggf. einen Volksentscheid vorsehen.

Formen der Neugliederung

Typische Arten der Neugliederung sind:

  • Zusammenschluss mehrerer Länder
  • Neubildung eines Landes
  • Gebietsübertragungen zwischen bestehenden Ländern
  • Abtrennung von Landesteilen

Rolle des Bundestags und Bundesrats

Der Bundestag fasst das Neugliederungsgesetz, der Bundesrat muss dem Gesetz zustimmen. Bei Ablehnung des Volksentscheids kommt das Gesetz nicht zustande.


Praktische Umsetzung und Beispiele

Historische Neugliederungen

Die größte staatliche Gebietsneuordnung war die Schaffung von Baden-Württemberg 1952 gemäß Artikel 118 GG. Auch die Neuordnung der Länder in Ostdeutschland nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 war eine Form der Neugliederung, allerdings auf der Grundlage des Einigungsvertrages und nicht Artikel 29 GG.

Gescheiterte Vorhaben

Das geplante Bundesland Berlin-Brandenburg wurde 1996 durch Volksentscheid abgelehnt, sodass die Neugliederung unterblieb.


Rechtliche Kontrollebenen und Schutzmechanismen

Rechtsschutz

Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes können vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden (Normenkontrollklage). Über die Zulässigkeit und Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

Schutz der Minderheiten

Artikel 29 GG räumt besonderen Schutz für Minderheiten ein, indem Gebietsveränderungen der Zustimmung der jeweiligen Gebietsbevölkerung bedürfen. Dadurch wird sichergestellt, dass Änderungen maßgeblich demokratisch legitimiert sind.


Auswirkungen der Neugliederung

Staatliche und kommunale Ebenen

Eine Neugliederung betrifft nicht nur die Ländergrenzen, sondern hat auch weitreichende Folgen für die Verwaltungsstrukturen, politische Repräsentation, Justizorganisation sowie Zuständigkeiten im Bildungs- und Polizei- oder Kommunalrecht.

Finanzielle Folgen

Neugliederungen bringen meist neue Regelungen im Finanzausgleich und in der Verteilung von Zuständigkeiten und Aufgabenträgerschaften mit sich.


Literatur und weiterführende Vorschriften

  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 29, 118, 118a GG)
  • Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Herstellung der Einheit Deutschlands, BGBl. II 1990, S. 885)
  • Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)
  • Kommentarliteratur zu Staatsrecht und Verwaltungsrecht

Fazit

Die Neugliederung des Bundesgebietes ist ein komplexer, verfassungsrechtlich klar regulierter Prozess. Er unterliegt strengen prozeduralen und materiellen Anforderungen, um föderale Strukturen und demokratischen Willen gleichermaßen zu achten. Die Verfahrensschritte und Beteiligungsrechte der Länder und Bevölkerung verhindern unbeabsichtigte oder einseitige Veränderungen und stellen sicher, dass territoriale Änderungen im Bundesgefüge nur nach eingehender Prüfung und breitem Konsens erfolgen.

Häufig gestellte Fragen

Welche verfassungsrechtlichen Grundlagen regeln die Neugliederung des Bundesgebietes?

Die Neugliederung des Bundesgebietes ist in den Artikeln 29, 118 und 118a des Grundgesetzes (GG) geregelt. Artikel 29 GG stellt das zentrale Regelwerk dar und legt Verfahren, Voraussetzungen und Zielsetzungen fest, unter denen das gesamte Bundesgebiet neu gegliedert werden kann. Hierzu gehören insbesondere das Referendumsverfahren und Beteiligungsrechte der beteiligten Länder. Artikel 118 GG enthält für Baden-Württemberg eine spezielle Rechtsgrundlage, da die Neugliederung dort bereits 1952 stattgefunden hat. Ergänzend regelt Artikel 118a GG die Möglichkeit, die Gebiete Berlin und Brandenburg durch einen Staatsvertrag und ein Referendum zusammenzulegen. Neben diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sind auch einfache Bundesgesetze und Landesverfassungen hinsichtlich der Verfahrensgestaltung zu beachten. Die Verankerung im Grundgesetz stellt sicher, dass territoriale Veränderungen von erheblicher Tragweite stets nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien verlaufen und die Integrität sowie die Mitbestimmungsrechte der beteiligten Länder und ihrer Bevölkerung gewahrt bleiben.

Welche Rolle spielt die Bevölkerung bei einer Gebietsneugliederung?

Ein zentrales Element der Neugliederung ist die Beteiligung der Bevölkerung, deren Willen durch Volksbefragungen und Volksentscheide einzuholen ist. Nach Artikel 29 GG ist im Rahmen einer Neugliederung ein Volksentscheid erforderlich, sofern dieser von einer bestimmten Anzahl betroffener Bürger oder eines Landesparlaments verlangt wird. Die jeweiligen Abstimmungsmodalitäten, insbesondere Quoren und Fragestellung, sind detailliert im Gesetz zur Neugliederung des Bundesgebietes geregelt. Die Regelungen tragen dem Gedanken Rechnung, dass gravierende territoriale Veränderungen nicht über die Köpfe der Menschen hinweg, sondern unter umfassender Beteiligung der unmittelbar Betroffenen erfolgen dürfen. Volksentscheide entfalten dabei unmittelbare rechtliche Bindungswirkung für den Gesetzgeber.

Wie funktioniert das Verfahren zur Neugliederung gemäß Artikel 29 GG?

Das Verfahren beginnt typischerweise mit einem Neugliederungsantrag, der entweder vom Bundestag, einer Landesregierung oder durch eine bestimmte Zahl von Wahlberechtigten initiiert werden kann. Anschließend prüft der Bundestag die Zulässigkeit und empfiehlt ggf. dem Bundespräsidenten die Ausschreibung eines Volksentscheids. Das Gesetz bestimmt, welche Gebiete von der geplanten Neugliederung betroffen sind und regelt die Durchführung der Volksentscheide in den jeweiligen Gebieten. Nach positivem Volksentscheid ist ein ausdrücklich zustimmungspflichtiges Bundesgesetz zu erlassen, das die Neugliederung rechtsverbindlich umsetzt. Der Bundesrat als Vertretung der Länder ist zwingend zu beteiligen, weil die territoriale Integrität der Länder berührt wird. In jedem Schritt verlangt das Verfahren eine sorgfältige Interessenabwägung sowie die Wahrung der föderalen Prinzipien des Grundgesetzes.

Welche verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeiten bestehen im Zusammenhang mit einer Neugliederung?

Das Bundesverfassungsgericht ist für alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit Neugliederungen zuständig, die sich auf die Auslegung oder Anwendung des Grundgesetzes beziehen (Art. 93 GG). Insbesondere einzelne oder betroffene Länder sowie im Verfahren beteiligte Verfassungsorgane können im Wege des Organstreitverfahrens oder der abstrakten Normenkontrolle das Gericht anrufen, wenn sie ihre Rechte verletzt sehen. In der Vergangenheit kam es beispielsweise im Zusammenhang mit dem Neugliederungsreferendum zur Einbringung von Verfassungsbeschwerden und Organstreitigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht prüft akribisch, ob das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde, ob die Mitwirkungsrechte der Länder und der Bevölkerung hinreichend gewährleistet wurden und ob die materiellen Voraussetzungen der Neugliederung, wie etwa das Hinwirken auf leistungsfähige Länder, gewahrt sind.

Welche Maßstäbe legt das Grundgesetz für die Zulässigkeit einer Neugliederung fest?

Das Grundgesetz stellt in Art. 29 Abs. 1 GG klar, dass eine Neugliederung darauf abzielen muss, die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit so zu gestalten, dass sie eine funktionsfähige Verwaltung sicherstellen und die Bedürfnisse der Bevölkerung besser berücksichtigen können. Daneben sind historische, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge sowie regionale Verbundenheit zu beachten. Eine bloße Zweckmäßigkeitserwägung reicht grundsätzlich nicht aus, vielmehr muss der Eingriff in die gewachsenen Strukturen gerechtfertigt sein und mit der demokratischen Grundordnung und den föderalen Prinzipien vereinbar sein. Die Maßstäbe werden sowohl im Gesetzgebungsverfahren als auch gerichtlich streng geprüft.

Welche Folgen hat eine Neugliederung für staatliche Institutionen und bestehende Gesetze?

Eine Neugliederung erfordert weitreichende Änderungen innerhalb der staatlichen Organisation und Gesetzesanwendung. Es ist in der Regel notwendig, Anpassungsgesetze zu erlassen, die Fragen der Personalüberleitung, Vermögensregelung, Zuständigkeitsverlagerung und Rechtsanwendung klären. Die Rechtsstellung der Beamten, Richter und sonstigen Bediensteten wird durch Überleitungsvorschriften geregelt, damit ihre Rechte gewahrt bleiben. Zudem müssen bestehende Landesgesetze und Verwaltungsvorschriften an die veränderten Grenzen und Zuständigkeiten angepasst oder aufgehoben werden. Für die Übergangszeit werden häufig Sonderregelungen getroffen, um einen reibungslosen Verwaltungsbetrieb und die kontinuierliche Rechtspflege sicherzustellen. Der Bund überwacht die Umsetzung, um Konflikte und Rechtsunsicherheit zu minimieren.

Können auch kleinere Grenzänderungen zwischen Ländern vorgenommen werden, ohne das große Neugliederungsverfahren?

Ja, Art. 29 Abs. 7 GG erlaubt kleinere Gebietskorrekturen durch Vereinbarung betroffener Länder mit Zustimmung des Bundestages. Hierbei handelt es sich jedoch um geringfügige Veränderungen, beispielsweise die Anpassung von Gemeindegrenzen aus verwaltungstechnischen Gründen. Für solche Änderungen genügt ein einfacheres Verfahren ohne bundesweites Referendum, wobei aber die demokratischen Mitwirkungsrechte auf Landesebene zu beachten sind und die Änderung weder die Funktionsfähigkeit noch die Identität der Länder wesentlich beeinträchtigen darf. Auch bei kleineren Änderungen ist sicherzustellen, dass betroffene Gebietskörperschaften und Bürger angemessen beteiligt werden.