Begriff und Grundlagen des Netzwerks der Kartellbehörden
Das Netzwerk der Kartellbehörden (englisch: European Competition Network, ECN) ist ein von der Europäischen Union initiiertes Kooperationssystem, das den Informationsaustausch, die Koordination und die effektive Durchsetzung des europäischen und nationalen Kartellrechts zwischen den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission ermöglicht. Es bildet das institutionelle Geflecht, durch das eine effiziente Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährleistet und wettbewerbsschädigendes Verhalten unionsweit bekämpft werden kann.
Rechtsgrundlagen
Primäre und sekundäre Rechtsquellen
Das Netzwerk der Kartellbehörden stützt sich auf mehrere Rechtsquellen. Zentral sind:
- Artikel 101 und 102 AEUV: Sie bilden das Kernstück des europäischen Kartellrechts, indem sie wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen untersagen.
- Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (sog. Modernisierungsverordnung): Diese Verordnung regelt die Zusammenarbeit der nationalen Wettbewerbsbehörden (NWB) und der Europäischen Kommission und schafft das formelle Fundament des Netzwerks.
Weitere relevante Rechtsgrundlagen sind die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2015/1348 und die Mitteilung der Kommission zur Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzwerks.
Entwicklung des Netzwerks
Das Netzwerk entstand im Zuge der Reformen des europäischen Wettbewerbsrechts, insbesondere durch die am 1. Mai 2004 in Kraft getretene Modernisierungsverordnung, die das System der zentralen Anmeldung bei der Kommission beendete und den dezentralen Vollzug des Kartellrechts in den Vordergrund rückte.
Aufbau und Struktur des Netzwerks der Kartellbehörden
Mitglieder
Dem Netzwerk gehören die Europäische Kommission (insbesondere die Generaldirektion Wettbewerb, GD COMP) sowie die nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union an. Jede nationale Behörde besitzt innerhalb ihres jeweiligen Herkunftsstaates umfassende Kompetenzen zur Durchsetzung von EU- und nationalem Kartellrecht.
Kooperationsmechanismen
Das Netzwerk basiert auf horizontaler und vertikaler Kooperation. Zentrale Mechanismen sind:
- Informationsaustausch: Die Behörden informieren sich gegenseitig frühzeitig über neue Verfahren sowie geplante Maßnahmen.
- Zuständigkeitsregelungen: Grundsätzlich ist jene Behörde für das Verfahren zuständig, die am besten geeignet ist, Eingriffe effektiv durchzusetzen (Prinzip des „Best-placed authority“).
- Koordination von Ermittlungen: Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten kann eine koordinierte Durchsetzung durch mehrere Behörden erfolgen.
- Möglichkeit zur Stellungnahme und zum Tätigwerden in Verfahren anderer Behörden: Mitgliedsbehörden können in Verfahren anderer Behörden Stellungnahmen abgeben oder selbst tätig werden, wenn das öffentliche Interesse dies gebietet.
Aufgaben und Befugnisse im Rahmen des Netzwerks
Kartellbekämpfung
Die wesentliche Aufgabe des Netzwerks ist es, Verstöße gegen Artikel 101 und 102 AEUV effektiv zu verfolgen. Hierzu gehören insbesondere:
- Die Untersuchung und Ahndung von Preisabsprachen, Marktaufteilungen und anderen wettbewerbsbeschränkenden Praktiken
- Die Identifikation und Verfolgung missbräuchlicher Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen
Durchsetzung der Unionsvorschriften
Die Mitglieder sind gemeinsam verpflichtet, die einheitliche Anwendung und Auslegung des europäischen Wettbewerbsrechts zu gewährleisten. Dabei sollen parallele Verfahren vermieden und die Kohärenz europäischer und nationaler Entscheidungen sichergestellt werden.
Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse
Die Behörden des Netzwerks verfügen, gestützt auf die Modernisierungsverordnung und nationale Vorschriften, über weitreichende Ermittlungsbefugnisse, darunter:
- Durchführung von Nachprüfungen (sog. Dawn-Raids)
- Befragung von Unternehmen, Zeugen und Sachverständigen
- Anordnung der Vorlage relevanter Unterlagen
- Verhängung von Geldbußen und sonstigen Sanktionen
Verfahren und Rechtsdurchsetzung innerhalb des Netzwerks
Verfahrensablauf
Ermittlungsaufnahme und Zuständigkeitsbestimmung
Die Einleitung eines Verfahrens erfolgt häufig auf nationaler Ebene oder bei der Europäischen Kommission. Die Ermittlung wird im Netzwerk angezeigt („case allocation“), und es wird abgestimmt, welche Behörde die Sache bearbeitet.
Informationspflichten und Schutz von Parteienrechten
Eine Besonderheit ist die Pflicht, betroffene Behörden über Verfahren und beabsichtigte Maßnahmen zu informieren. Unternehmen und Dritten stehen im Verfahren Verfahrensgarantien wie das Recht auf Gehör und Akteneinsicht zu. Der Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen ist dabei gleichermaßen durch die Behörden zu wahren.
Koordination und parallele Ermittlungen
Wenn mehrere Behörden parallel ermitteln, besteht eine enge Kooperation, um widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden. Die Kommission steuert und überwacht diese Koordination mit dem Ziel einheitlicher Auslegung und Anwendung des Wettbewerbsrechts.
Rechtsbehelfe und gerichtliche Kontrolle
Sanktionen und Maßnahmen können vor Gerichten der Mitgliedstaaten oder – bei Handlungen der Kommission – vor dem Gericht der Europäischen Union überprüft werden. Entscheidungen im Netzwerk unterliegen damit einer doppelten gerichtlichen Kontrolle: sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.
Bedeutung und Bewertung des Netzwerks der Kartellbehörden
Bedeutung für die Wettbewerbsaufsicht in der Europäischen Union
Das Netzwerk der Kartellbehörden ist wesentlich für eine effektive, dezentrale und kohärente Durchsetzung des Wettbewerbsrechts im Binnenmarkt. Es fördert die Anpassung nationaler Durchsetzungspraktiken an unionsrechtliche Vorgaben und trägt damit zur Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen in allen Mitgliedstaaten bei.
Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven
Herausforderungen ergeben sich aus den unterschiedlichen behördlichen Ausstattungen und Rechtsrahmen in den Mitgliedstaaten. Unterschiede in Durchsetzungsintensität, Ressourcen und Ermittlungskompetenzen können zu Inkohärenzen führen. Die Fortentwicklung und Harmonisierung der rechtlichen Grundlagen bleiben daher ein zentrales Ziel für die Zukunft des Netzwerks.
Literatur und weiterführende Rechtsquellen
- Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002
- AEUV, insbesondere Artikel 101 und 102
- Bekanntmachungen der Europäischen Kommission zur Führung der Zusammenarbeit im ECN
- Europäische Kommission, Generaldirektion Wettbewerb: Leitfäden und Arbeitsdokumente
Das Netzwerk der Kartellbehörden stellt das Rückgrat der dezentralen europäischen Kartellrechtsdurchsetzung dar und prägt die Effektivität der europäischen Wettbewerbsordnung maßgeblich. Seine weitergehende Entwicklung ist daher für die einstimmige Durchsetzung des Wettbewerbsrechts von zentraler Bedeutung.
Häufig gestellte Fragen
Wie erfolgt die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kartellbehörden rechtlich?
Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kartellbehörden (European Competition Network, ECN) ist rechtlich im Wesentlichen durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 geregelt. Diese Verordnung sieht vor, dass die Europäische Kommission sowie die nationalen Kartellbehörden der EU-Mitgliedstaaten ihre Ermittlungs- und Durchsetzungsbefugnisse koordinieren, um die einheitliche Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit umfasst unter anderem den Austausch von Informationen, die Abstimmung bei der Auswahl der für eine bestimmte Untersuchung zuständigen Behörde sowie die gegenseitige Übermittlung wesentlicher Verfahrensschritte (z.B. Mitteilungen der Beschwerdepunkte oder Entscheidungen über das Verfahren). Zudem sieht die Verordnung explizite Mechanismen für Unterstützungsleistungen wie Amtshilfe bei Durchsuchungen und Ermittlungen vor. Nationale Datenschutzgesetze und europäische Vorgaben, wie die DSGVO, sind jedoch beim Informationsaustausch zu beachten.
Welche rechtlichen Verpflichtungen bestehen für nationale Behörden im Rahmen des Informationsaustauschs?
Nationale Wettbewerbsbehörden sind gemäß Verordnung (EG) Nr. 1/2003 verpflichtet, einander und der Europäischen Kommission alle für die Anwendung der Wettbewerbsregeln wesentlichen Informationen zu übermitteln, sofern dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich erscheint. Im Sinne des Art. 12 der Verordnung erfolgt der Austausch sowohl spontan als auch auf Anfrage. Dabei müssen Behörden die Vertraulichkeit der Informationen wahren, insbesondere wenn es sich um Unternehmens- oder Geschäftsgeheimnisse oder personenbezogene Daten handelt. Die Verwendung der geteilten Informationen ist zudem gesetzlich streng auf Wettbewerbsverfahren beschränkt, was bedeutet, dass Informationen, die im Rahmen einer nationalen Untersuchung erhalten wurden, nicht ohne Weiteres für andere Zwecke oder in zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren genutzt werden dürfen.
Inwiefern bestehen rechtliche Grenzen bei der gegenseitigen Amtshilfe im Netzwerk der Kartellbehörden?
Die gegenseitige Amtshilfe ist eine der zentralen Säulen des ECN. Sie umfasst Unterstützungsmaßnahmen wie Durchsuchungen, die Sicherstellung von Beweismitteln und Zeugenvernehmungen. Jedoch bestehen hierbei explizite rechtliche Grenzen. Gemäß Art. 22 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 kann eine nationale Behörde im Auftrag einer anderen Behörde Ermittlungsbefugnisse ausüben, allerdings nur im Rahmen der eigenen gesetzlichen Zuständigkeiten und unter Beachtung der Verfahrensgrundrechte (etwa Recht auf rechtliches Gehör und Schutz vor Selbstbelastung). Ferner kann eine ersuchte Behörde die Durchführung verweigern, sofern dadurch grundlegende nationale Interessen, etwa die öffentliche Ordnung oder nationale Sicherheit, berührt würden.
Wie wird die einheitliche Anwendung des Wettbewerbsrechts rechtlich sichergestellt?
Die sichere Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung des europäischen Kartellrechts erfolgt durch ein abgestimmtes Vorgehen im Rahmen des ECN. Rechtsgrundlagen wie Art. 11 und Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 verpflichten sowohl die Europäische Kommission als auch die nationalen Behörden, sich wechselseitig über wesentliche Ermittlungs- und Verfahrensschritte zu informieren und Entscheidungen auf europäischer Ebene zu respektieren. Ergeht beispielsweise eine Entscheidung der Kommission, so sind nationale Gerichte und Behörden an diese gebunden und dürfen hierzu keine widersprüchlichen Entscheidungen erlassen. Die Behörde, die als erste mit einem Fall befasst ist, kann in der Regel das Verfahren fortführen (sog. „one-stop-shop“-Prinzip), um parallele Ermittlungen zu vermeiden.
Unterliegen Entscheidungen und Maßnahmen des Netzwerks gerichtlicher Kontrolle?
Sämtliche Entscheidungen und Maßnahmen der Kartellbehörden im Rahmen des Netzwerks unterliegen umfassender gerichtlicher Kontrolle. Sowohl Akte der Europäischen Kommission als auch solche nationaler Behörden können vor den jeweils zuständigen Gerichten angefochten werden. Für Kommissionsentscheidungen sind dies das Gericht sowie der Europäische Gerichtshof. Nationale Behörden unterliegen der Kontrolle durch die zuständigen nationalen Gerichte. Grundsätzliche Verfahrensrechte, wie das Recht auf eine effektive Verteidigung und das Recht auf ein faires Verfahren, sind vollumfänglich zu garantieren. Das Netzwerk selbst trifft keine rechtsverbindlichen Entscheidungen, sondern dient der Koordination und dem Informationsaustausch. Dennoch kann die Wechselseitigkeit von Maßnahmen eine gerichtliche Überprüfung nach sich ziehen, etwa hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Informationsaustauschs oder der Anwendung von Ermittlungsbefugnissen.
Welche rechtlichen Vorgaben bestehen bei der Weitergabe sensibler Unternehmensdaten im Netzwerk?
Die Weitergabe sensibler Unternehmensdaten ist im Netzwerk der Kartellbehörden durch eine Reihe von rechtlichen Vorgaben geregelt. Gemäß Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 ist ein Austausch von Beweisunterlagen und sensiblen Daten nur erlaubt, soweit dies für die Anwendung der europäischen und nationalen Wettbewerbsbestimmungen erforderlich ist. Die empfangende Behörde ist dabei strikt an die Zweckbindung und die Vertraulichkeitsanforderungen gebunden, was insbesondere für Geschäftsgeheimnisse und personenbezogene Daten gilt. Verstöße gegen diese Verpflichtungen können sowohl nationale als auch europarechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, einschließlich der Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung und Sanktionierung. Zudem ist der Schutz gemäß DSGVO zwingend einzuhalten.
In welchem Umfang und unter welchen rechtlichen Bedingungen dürfen nationale Behörden Ermittlungen für andere Behörden durchführen?
Nationale Behörden sind befugt, auf Ersuchen einer anderen Behörde Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen, wie sie auch für eigene Untersuchungen zulässig sind (Art. 22 Verordnung (EG) Nr. 1/2003). Voraussetzung ist jedoch stets die Einhaltung nationaler Vorschriften über Ermittlungs- und Eingriffsbefugnisse, etwa im Hinblick auf Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Zeugenvernehmungen. Die ersuchte Behörde ist nicht verpflichtet, Ermittlungen durchzuführen, falls diese den grundlegenden nationalen Rechtsgrundsätzen widersprechen würden oder wesentliche nationale Interessen beeinträchtigt werden. Der Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen richtet sich in der Regel nach nationalem Recht, wobei das übergeordnete europarechtliche Verfahrensrecht zu beachten ist.