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nasciturus


Begriff und rechtliche Bedeutung des Nasciturus

Der Begriff nasciturus stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet „das, was geboren werden wird“, also ein bereits gezeugtes, aber noch nicht geborenes menschliches Wesen. In vielen Rechtssystemen, insbesondere im deutschen und österreichischen Recht, kommt dem nasciturus eine besondere rechtliche Stellung zu. Da der nasciturus im Stadium des Ungeborenen nach Zivilrecht noch keine vollständige Rechtsfähigkeit besitzt, bestehen zahlreiche Spezialregelungen, die seine Rechte und Interessen wahren. Im Folgenden werden die rechtlichen Aspekte des nasciturus umfassend dargestellt.


Rechtlicher Status des Nasciturus

Grundlagen und Definition

Der nasciturus ist nach traditioneller Auffassung ein „Rechtssubjekt auf Zeit“, dessen volle Rechtsfähigkeit durch die spätere Lebendgeburt bedingt ist. Das heißt, das ungeborene Kind kann zwar noch keine eigenen Handlungen vornehmen, aber das Gesetz knüpft unter bestimmten Voraussetzungen bereits Rechtsfolgen an seine Existenz als gezeugtes, jedoch noch ungeborenes Wesen.

Rechtsstellung im Zivilrecht

Vorbehalt der Lebendgeburt

Im Zivilrecht ist die Rechtsfähigkeit gemäß § 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) mit der Vollendung der Geburt verbunden. Das Gesetz sieht jedoch in zahlreichen Normen vor, dass das noch ungeborene Kind als bereits geboren gilt, wenn es zu seinem Vorteil ist. Voraussetzung ist jeweils, dass das Kind lebend geboren wird (sogenannter Vorbehalt der Lebendgeburt).

Grundsatz der „Vorausgesetzten Geburt“ (§ 1923 Abs. 2 BGB)

Ein zentrales Beispiel bildet § 1923 Abs. 2 BGB:

„Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht geboren ist, aber bereits gezeugt ist, gilt als vor dem Erbfall geboren.“

Dadurch kann ein nasciturus, dessen Recht auf Erbschaft begründet bereits vor seiner Geburt entsteht, mit Geburt Erbe werden, sofern diese lebend erfolgt. Ebenso findet diese Fiktion Anwendung im Pflichtteilsrecht und bei Vermächtnissen.

Zivilprozessrechtliche Aspekte

Auch im Zivilprozess kann der nasciturus vertreten werden. Es ist möglich, für ein ungeborenes Kind einen besonderen Vertreter (in der Regel einen Pfleger) zu bestellen, wenn es rechtlich handelt, etwa in erbrechtlichen oder vermögensrechtlichen Angelegenheiten.

Schutzwürdigkeit und Schutz im Familienrecht

Das Familienrecht kennt verschiedene Bestimmungen zum Schutz des werdenden Lebens. Beispielsweise können Unterhaltsansprüche bereits während der Schwangerschaft bestehen, z. B. für die Mutter gegenüber dem potenziellen Vater und zugunsten des Kindes (siehe §§ 1615l BGB).


Nasciturus im Erbrecht

Erbfähigkeit und Rechtsfolge

Wie im Abschnitt zuvor dargestellt, ist der nasciturus erbfähig, sofern er bei Eintritt des Erbfalls bereits gezeugt, aber noch nicht geboren ist, und später lebend geboren wird (§ 1923 Abs. 2 BGB). Tritt die Geburt nicht lebend ein, gilt das Kind als zum Zeitpunkt des Erbfalles nie existent und scheidet rückwirkend als Erbe aus.

Beteiligung an Erbengemeinschaften

Der nasciturus kann Teil einer Erbengemeinschaft sein und ist entsprechend zu berücksichtigen, beispielsweise bei der Teilung des Nachlasses. Die Bestellung eines Pflegers zur Wahrung seiner Rechte ist dabei möglich.

Besonderheiten im Pflichtteilsrecht

Die Pflichtteilsansprüche des nasciturus entstehen entsprechend, sobald das Kind lebend geboren wird. Sie wirken auf den Zeitpunkt des Erbfalls zurück, falls das Kind zu diesem Zeitpunkt bereits gezeugt war.


Nasciturus im Sachenrecht

Auch im Sachenrecht ist das werdende Leben schutzwürdig. Beispielsweise sieht § 928 Abs. 2 BGB beim Eigentumsübergang von Grundstücken im Rahmen von Erbverträgen oder Testamenten Möglichkeiten vor, den nasciturus in die Übertragung einzubeziehen, sofern diese zu dessen Vorteil ist.


Nasciturus im Sozialrecht und öffentlichen Recht

Sozialrechtliche Ansprüche

Im Sozialrecht stehen dem nasciturus bereits vor der Geburt Ansprüche zu, etwa auf Mutterschafts- oder Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG). Dies ist maßgeblich, um die wirtschaftliche Grundlage für Mutter und Kind abzusichern.

Schutz des ungeborenen Lebens

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützt das ungeborene Leben, unter anderem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG („Recht auf Leben“). Dieses Schutzkonzept strahlt in verschiedene Rechtsgebiete aus und schafft ein engmaschiges Netz an Schutzmaßnahmen zugunsten des nasciturus.


Internationaler und vergleichender Überblick

Auch außerhalb Deutschlands wird der nasciturus rechtlich berücksichtigt. Im österreichischen Recht entspricht § 22 ABGB der deutschen Regelung: Das noch nicht geborene Kind ist in allen Fällen, in denen sein Vorteil in Frage steht, als bereits geboren anzusehen. Ähnliche Vorschriften finden sich in anderen europäischen Rechtsordnungen und im internationalen Kollisionsrecht (z. B. Art. 1:2 EGBGB).


Fazit

Der nasciturus nimmt im deutschen, österreichischen und zahlreichen weiteren Rechtsordnungen eine besondere Stellung ein. Zwar ist er vor der Geburt nicht rechtsfähig im vollen Sinne, das Gesetz schützt jedoch bereits zahlreiche seiner künftigen Rechte unter bestimmten Bedingungen. Mit diesen Regelungen wird ein effektiver, frühzeitiger Schutz werdenden Lebens gewährleistet, insbesondere im Erb-, Familien- und Zivilrecht sowie im Sozialrecht. Die tatsächliche Rechtsfähigkeit wird dabei stets unter den Vorbehalt der Lebendgeburt gestellt.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rechte kann ein Nasciturus im deutschen Recht geltend machen?

Ein Nasciturus, also ein bereits gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind, ist im deutschen Recht grundsätzlich nicht rechtsfähig, d. h. er kann selbst keine Rechte und Pflichten begründen (§ 1 BGB). Allerdings wird der Nasciturus in verschiedenen Rechtsgebieten „als geboren“ betrachtet, wenn es zu seinem Vorteil ist (§ 1923 Abs. 2 BGB). Dies ist insbesondere im Erbrecht relevant, wo der Nasciturus als „erbfähig“ gilt, sofern er lebend geboren wird. Im Bereich des Schadensersatzrechts kann dem nasciturus ebenfalls schon ein Ersatzanspruch zustehen, beispielsweise im Falle einer vorgeburtlichen Verletzung (§ 844 BGB). Darüber hinaus können dem Nasciturus Unterhaltsansprüche im Familienrecht und Ansprüche auf Schenkungen oder Vermächtnisse zuerkannt werden, die er nach der Geburt geltend machen kann. Voraussetzung für alle diese Rechte ist stets, dass das Kind tatsächlich lebend geboren wird; andernfalls gelten die potentiellen Rechte rückwirkend als nicht entstanden.

In welchen erbrechtlichen Situationen spielt der Nasciturus eine Rolle?

Der Nasciturus spielt im Erbrecht eine wichtige Rolle, da er gemäß § 1923 Abs. 2 BGB als bereits geboren gilt, sofern es um seinen Vorteil geht. Das bedeutet, wenn zum Zeitpunkt des Erbfalls eine Person noch nicht geboren, aber bereits gezeugt ist, wird diese als erbfähig betrachtet, falls das Kind später lebend geboren wird. Beispielsweise bei der gesetzlichen Erbfolge oder bei testamentarischen Verfügungen kann so ein Nasciturus Erbe werden. Der Erbteil des ungeborenen Kindes muss bei der Teilung eines Nachlasses berücksichtigt werden, was regelmäßig dazu führt, dass die Erbauseinandersetzung bis zur Geburt verschoben wird. Wird das Kind tot geboren, entfällt die Erbfähigkeit rückwirkend. Für die Verwaltung des auf den nasciturus entfallenden Nachlassteils bestellt das Nachlassgericht eine Abwesenheitspflegschaft oder einen Ergänzungspfleger.

Wie wird der Nasciturus im Familienrecht behandelt?

Im Familienrecht kommt dem Nasciturus Bedeutung bei Ansprüchen auf Unterhalt sowie Sorgerechtsfragen zu. Sobald das Kind gezeugt wurde, können Ansprüche auf Kindesunterhalt bereits im Namen des nasciturus geltend gemacht werden, beispielsweise von der Mutter während der Schwangerschaft gegenüber dem mutmaßlichen Vater (§§ 1601 ff. BGB). Ebenso bestehen Ansprüche gegenüber Krankenkassen oder Unterstützung durch Sozialleistungsträger. Auch Fragen der elterlichen Sorge werden perspektivisch berücksichtigt, beispielsweise im Rahmen von Sorgeerklärungen oder beim Tod eines Elternteils vor der Geburt. Alle diese Regelungen greifen allerdings nur, wenn das Kind tatsächlich lebend geboren wird.

Welche Bedeutung hat der Nasciturus im Schadensersatzrecht?

Im Schadensersatzrecht ist anerkannt, dass auch einem Nasciturus ein Schadensersatzanspruch zustehen kann, sofern er vorgeburtlich geschädigt wird und nachfolgend lebend geboren wird (§ 844 BGB bzw. § 823 Abs. 1 BGB analog). Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen das ungeborene Kind durch einen Unfall oder ärztlichen Behandlungsfehler während der Schwangerschaft verletzt wurde. Der Anspruch entsteht erst mit der Geburt und setzt voraus, dass das Kind das Schadensereignis als Schädigung erleidet und lebend geboren wird. Eltern oder Pfleger können während der Schwangerschaft solche Ansprüche für das Kind sichern und gegebenenfalls nach der Geburt durchsetzen.

Was passiert im Falle einer Totgeburt hinsichtlich der Rechte des Nasciturus?

Wird ein Nasciturus tot geboren, so erlöschen rückwirkend alle Rechte, die an die Lebendgeburt geknüpft sind: Der Nasciturus gilt gemäß § 1923 Abs. 2 BGB nicht als Person im Sinne des Rechts und kann daher weder erben noch andere vermögensrechtliche Ansprüche geltend machen. Dies betrifft v. a. erbrechtliche und schadensrechtliche Ansprüche. Juristisch wird der Nasciturus so behandelt, als habe er nie existiert. Bereits vorgenommene Handlungen, wie beispielsweise die Bestellung eines Pflegers für den Erbteil des Nasciturus, werden gegenstandslos.

Kann der Nasciturus in gerichtlichen Verfahren vertreten werden?

Da der Nasciturus nicht rechtsfähig, aber dennoch in bestimmten Fällen begünstigt ist, kann er in gerichtlichen oder behördlichen Verfahren vertreten werden. Diese Vertretung erfolgt in der Regel durch einen gerichtlich bestellten Ergänzungspfleger (§ 1909 BGB), der die Interessen des noch ungeborenen Kindes wahrt, beispielsweise bei Erbauseinandersetzungen oder bei der Sicherung vorgeburtlicher Ansprüche. Die Mutter ist regelmäßig ausgeschlossen, wenn ihre Interessen mit denen des Nasciturus kollidieren könnten (z. B. bei Interessenkonflikten im Erbfall). Das Gericht entscheidet über die Bestellung eines Pflegers von Amts wegen oder auf Antrag.

Welche Ansprüche auf Schenkungen oder Vermächtnisse kann ein Nasciturus haben?

Ein Nasciturus kann bereits zum Zeitpunkt seiner Zeugung als bedachter Begünstigter einer Schenkung oder eines Vermächtnisses eingesetzt werden. Die Zuwendung wird rechtlich bis zur Geburt „schwebend unwirksam“ und entfaltet ihre Wirkung nur, wenn das Kind lebend geboren wird. Bei der Schenkung unter Lebenden erfordert das Gesetz eine entsprechende Auslegungsregel; bei letztwilligen Verfügungen, also insbesondere im Testament, kann der Nasciturus ausdrücklich als sogenannter „künftiger Erbe“ oder als Vermächtnisnehmer benannt werden. Wird das Kind tot geboren, fällt der Gegenstand der Zuwendung an denjenigen zurück, der ihn zugewendet hat, da der Nasciturus nicht als Person angesehen wird.