Begriff und Grundgedanke des nasciturus
Der Ausdruck nasciturus bezeichnet ein bereits gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind. In vielen Rechtsordnungen wird diesem ungeborenen Kind eine besondere, auf seine künftigen Vorteile ausgerichtete Stellung eingeräumt. Der Kerngedanke lautet: Das ungeborene Kind kann so behandelt werden, als ob es bereits geboren wäre, soweit es um Rechte und Vorteile geht, die es nach einer späteren Lebendgeburt erlangen könnte. Die tatsächliche Entstehung dieser Rechte hängt jedoch regelmäßig davon ab, dass das Kind lebend zur Welt kommt.
Rechtliche Einordnung und Abgrenzung
Unterschied zwischen ungeborenem und noch nicht gezeugtem Kind
Der nasciturus ist stets ein Kind, das bereits gezeugt wurde. Rechtsfolgen, die an den nasciturus anknüpfen, setzen daher eine bestehende Schwangerschaft voraus. Ein noch nicht gezeugtes Kind fällt nicht darunter; für dieses werden üblicherweise keine Rechte „vorgehalten“.
Vorteilsprinzip und Bedingtheit
Die Zuerkennung von Rechtspositionen an den nasciturus dient ausschließlich dessen Vorteil. Diese Positionen sind meist bedingt: Sie entfalten erst Wirkung, wenn das Kind lebend geboren wird. Kommt es nicht zur Lebendgeburt, treten die an den nasciturus geknüpften Folgen in der Regel nicht ein.
Anwendungsfelder
Erbrecht
Im Erbrecht wird der nasciturus besonders berücksichtigt. Stirbt eine Person während einer bestehenden Schwangerschaft, kann das ungeborene Kind im Rahmen der gesetzlichen oder einer gewillkürten Erbfolge berücksichtigt sein. Typisch ist, dass der potenzielle Erbteil „vorgehalten“ wird, bis feststeht, ob ein lebendes Kind geboren wird. Von der späteren Lebendgeburt hängt ab, ob der Erbanspruch endgültig entsteht. Zum Schutz des ungeborenen Kindes kann in der Nachlassabwicklung sichergestellt werden, dass dessen möglicher Anteil nicht beeinträchtigt wird.
Schenkungen und sonstige Zuwendungen
Zuwendungen können zugunsten eines nasciturus vorgesehen werden, etwa durch eine Verfügung von Todes wegen oder eine auf ein bestimmtes Ereignis – die Geburt – ausgerichtete Schenkung. Auch hier gilt: Der Erwerb wird regelmäßig erst mit Lebendgeburt wirksam. Bis dahin können Sicherungen getroffen werden, damit die Zuwendung nach der Geburt in geordneter Weise zufällt.
Haftungs- und Schadensrecht
Wird das ungeborene Kind vor der Geburt geschädigt, etwa durch einen Unfall oder durch medizinische Behandlungsfehler, können nach der Geburt eigene Ansprüche des Kindes in Betracht kommen. Diese knüpfen an die während der Schwangerschaft verursachten Beeinträchtigungen an, wirken aber erst nach der Lebendgeburt als Rechte des Kindes. Daneben besteht in vielen Rechtsordnungen ein Schutz des ungeborenen Lebens durch allgemeine Regelungen zur Vermeidung und Haftung von Gefahren.
Persönlichkeits- und Gesundheitsschutz
Der nasciturus genießt in vielfältiger Form Schutz. Dazu zählen der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, der Achtung seiner künftigen Würde sowie der sorgfältige Umgang mit vorgeburtlichen Gesundheitsdaten. Zahlreiche Regelungsbereiche – von der Schwangerenbetreuung bis zur genetischen Beratung – tragen dem Umstand Rechnung, dass Entscheidungen die Entwicklung des Kindes betreffen und nach der Geburt für das Kind bedeutsam sind.
Familien- und Unterhaltsrecht
Rund um Schwangerschaft und Geburt werden Bedürfnisse des Kindes häufig mittelbar über die Mutter abgedeckt. Unterhaltsrechtliche Mechanismen, Leistungen zur Sicherung von Betreuung und Versorgung sowie Abstammungsfragen können den nasciturus berühren. Mit der Geburt entstehen regelmäßig eigene Rechte des Kindes, etwa auf Unterhalt und Sorge.
Sozial- und Versicherungsrecht
Leistungen in der Schwangerschaft und zum Zeitpunkt der Geburt sind in vielen Systemen vorgesehen. Versicherungs- und Versorgungsregelungen berücksichtigen, dass medizinische Maßnahmen während der Schwangerschaft dem Wohlergehen des Kindes dienen. Eigenständige Ansprüche des Kindes beginnen meist mit der Geburt, während Leistungen zuvor im Verhältnis zur Mutter organisiert sind.
Verfahrensrecht und Vertretung
In Verfahren, die Vermögensinteressen eines nasciturus berühren – häufig im Erb- oder Stiftungszusammenhang -, kann eine Vertretung bestellt werden, um seine künftigen Rechte zu sichern. Prozessorientiert wird das ungeborene Kind dabei wie eine schutzwürdige, aber noch nicht vollständig rechtsfähige Einheit behandelt. Die Wirksamkeit zugunsten des Kindes hängt erneut von der späteren Lebendgeburt ab.
Grenzen und Konfliktlagen
Keine volle Rechtsfähigkeit vor der Geburt
Vor der Geburt besteht in der Regel keine umfassende Rechtsfähigkeit. Der nasciturus kann daher nicht beliebig Träger von Pflichten sein. Anerkannt sind vielmehr punktuelle, auf Vorteile ausgerichtete Rechtspositionen, die erst mit der Geburt voll wirksam werden.
Abwägung mit Rechten Dritter
Die Interessen des ungeborenen Kindes können mit denen anderer Personen kollidieren, insbesondere mit der körperlichen und persönlichen Autonomie der Mutter. Rechtsordnungen lösen solche Konflikte durch Abwägungen und klare Prioritäten, die den Schutz des ungeborenen Lebens mit der Selbstbestimmung der Mutter in Einklang bringen sollen.
Reproduktionsmedizin und neue Technologien
Assistierte Fortpflanzung, Embryonenforschung und grenzüberschreitende Reproduktionsmedizin stellen besondere Herausforderungen. Sie werfen Fragen auf, ab welchem Zeitpunkt ein nasciturus als solcher behandelt wird und wie weit Schutz- und Zurechnungsregeln reichen. Die Antworten hierauf variieren zwischen den Staaten.
Internationaler Vergleich
Der Gedanke, ein bereits gezeugtes, aber ungeborenes Kind zum eigenen Vorteil zu berücksichtigen, ist in zahlreichen Rechtsordnungen verankert. In kontinentaleuropäischen Systemen ist er traditionell stark ausgeprägt. Rechtskreise, die vom Gewohnheitsrecht geprägt sind, kennen vergleichbare Vorstellungen (etwa für Kinder „im Mutterleib“) insbesondere im Erb- und Deliktsrecht. Umfang, Voraussetzungen und technische Ausgestaltung unterscheiden sich jedoch spürbar.
Historische Entwicklung
Der nasciturus-Gedanke hat seinen Ursprung im römischen Recht. Er diente dort dazu, gerechte Ergebnisse in Nachlass- und Vermögensangelegenheiten zu gewährleisten, wenn eine Schwangerschaft bereits bestand. Dieses überlieferte Prinzip wurde in vielen modernen Rechtsordnungen aufgegriffen und weiterentwickelt.
Praktische Bedeutung
Praktisch bedeutsam ist der nasciturus vor allem in Nachlasssachen, bei Zuwendungen zugunsten künftiger Nachkommen, bei vorgeburtlichen Schadensereignissen sowie überall dort, wo Entscheidungen während der Schwangerschaft Rechtsfolgen nach der Geburt auslösen können. Das Institut sorgt dafür, dass bestehende Schwangerschaften im Recht angemessen berücksichtigt werden, ohne die volle Rechtsfähigkeit vorwegzunehmen.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet „nasciturus“ genau?
Der Begriff bezeichnet ein bereits gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind. Es wird rechtlich in bestimmten Konstellationen berücksichtigt, wenn dies zu seinem Vorteil gereicht und die Rechte mit der späteren Lebendgeburt wirksam werden können.
Wann erwirbt ein nasciturus Rechte?
Rechte werden grundsätzlich erst mit der Lebendgeburt wirksam. Vorher können Rechtspositionen „vorgehalten“ werden, die zugunsten des Kindes nach der Geburt entstehen. Ohne Lebendgeburt entfalten sie in der Regel keine Wirkung.
Kann ein ungeborenes Kind erben?
Ja, wenn eine Schwangerschaft bereits besteht, kann das ungeborene Kind im Rahmen der Erbfolge berücksichtigt werden. Der Erbteil wird gesichert, bis feststeht, dass ein lebendes Kind geboren wird. Erst dann entsteht der Erbanspruch endgültig.
Wer vertritt die Interessen eines nasciturus?
In Verfahren oder Vermögensangelegenheiten, die den nasciturus betreffen, kann eine Vertretung eingesetzt werden, um seine künftigen Rechte zu wahren. Ziel ist es, Benachteiligungen während der Schwangerschaft zu vermeiden. Die konkrete Ausgestaltung ist je nach Rechtsordnung unterschiedlich.
Hat der nasciturus eigene Schadensersatzansprüche?
Eigene Ansprüche kommen in Betracht, wenn das ungeborene Kind vor der Geburt geschädigt wurde und lebend geboren wird. Die Ansprüche knüpfen an die Schädigung während der Schwangerschaft an und werden nach der Geburt vom Kind geltend gemacht.
Wie wird der Anteil eines nasciturus im Nachlass gesichert?
Bei bestehender Schwangerschaft wird der potenzielle Erbteil des ungeborenen Kindes in der Abwicklung des Nachlasses berücksichtigt und bis zur Geburt vor Beeinträchtigungen geschützt. Nach der Lebendgeburt wird der Anteil endgültig zugeordnet.
Gilt der nasciturus-Grundsatz auch in anderen Ländern?
Der Grundsatz ist international verbreitet, seine Ausgestaltung variiert jedoch. Viele Staaten erkennen die Berücksichtigung eines bereits gezeugten Kindes insbesondere im Erb- und Haftungsrecht an. Unterschiede bestehen bei Voraussetzungen und Verfahren der Sicherung.