Nachzeichnung eines Tarifvertrages
Begriffserklärung
Die Nachzeichnung eines Tarifvertrages bezeichnet im deutschen Arbeitsrecht den Vorgang, bei dem ein Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden ist, freiwillig die Regelungen eines bestehenden Tarifvertrags auf das eigene Arbeitsverhältnis anwendet. Obwohl der Arbeitgeber keinem Arbeitgeberverband angehört oder selbst keinen Tarifvertrag mit einer Gewerkschaft abgeschlossen hat, übernimmt er die im Tarifvertrag festgelegten Arbeitsbedingungen ganz oder teilweise. Diese Praxis wird häufig als „Tariforientierung“ bezeichnet und kann sowohl einzelvertraglich als auch durch eine Betriebsvereinbarung erfolgen. Die rechtliche Bindung unterscheidet sich dabei erheblich von einer unmittelbaren Tarifgebundenheit.
Rechtliche Grundlagen
Tarifvertragsgesetz (TVG)
Die rechtlichen Grundlagen für Tarifverträge findet man im Tarifvertragsgesetz (TVG). Der Anwendungsbereich der Nachzeichnung ist jedoch nicht ausdrücklich im TVG geregelt, ergibt sich aber aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit (§ 105 Gewerbeordnung, § 241 BGB). Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben grundsätzlich die Möglichkeit, den Inhalt ihrer Arbeitsverträge frei zu vereinbaren, soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften entgegenstehen.
Unterschied zur Tarifgebundenheit
Die Nachzeichnung unterscheidet sich von der Normwirkung nach § 4 TVG, wonach tarifliche Regelungen unmittelbar und zwingend für die Mitglieder der tarifschließenden Parteien (Arbeitgeberverband/Gewerkschaft) gelten. Bei der Nachzeichnung ist die tarifliche Regelung lediglich kraft vertraglicher Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirksam – die sogenannte „mittelbare Wirkung“. Dies hat weitreichende Folgen für die Durchsetzbarkeit und Abänderbarkeit der Vertragsinhalte.
Formen der Nachzeichnung
Einzelvertragliche Bezugnahme
Eine häufige Form der Nachzeichnung ist die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag im Arbeitsvertrag. Dabei wird im Arbeitsvertrag wörtlich oder sinngemäß festgelegt, dass auf das Arbeitsverhältnis die Regelungen eines bestimmten Tarifvertrags Anwendung finden. Hierbei wird unterschieden zwischen:
- Statischer Bezugnahme: Es gilt die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltende Fassung des Tarifvertrags. Spätere Änderungen bleiben unberücksichtigt.
- Dynamischer Bezugnahme: Es gelten auch zukünftige Änderungen und Anpassungen des bezeichneten Tarifvertrags.
Die genaue Ausgestaltung ist durch Auslegung der arbeitsvertraglichen Klausel zu bestimmen.
Nachzeichnung durch Betriebsvereinbarung
Eine Nachzeichnung kann auch durch Betriebsvereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat erfolgen. Diese ist nach § 77 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) möglich, soweit keine Tarifbindung besteht oder die tarifvertraglichen Regelungen keine Sperrwirkung entfalten.
Rechtsfolgen und rechtliche Bedeutung
Unmittelbarkeit und Zwingendheit
Im Unterschied zur unmittelbaren und zwingenden Geltung nach § 4 Abs. 1 TVG ist die Nachzeichnung nur vertraglich bindend. Das bedeutet:
- Die tariflichen Normen wirken nicht kraft Gesetzes, sondern durch die arbeitsvertragliche bzw. betriebsvereinbarte Übernahme.
- Für die abweichende Vereinbarung anderer Regelungen gelten daher nicht grundsätzlich die strengen Einschränkungen wie bei einer Tarifbindung.
Änderung und Kündigung
Die im Rahmen einer Nachzeichnung übernommenen Regelungen können nach allgemeinem Vertragsrecht abgeändert oder durch Änderungskündigung modifiziert werden. Einseitige Änderungen sind – wie bei anderen arbeitsvertraglichen Vereinbarungen – nur im Rahmen gesetzlicher Möglichkeiten, beispielsweise durch Änderungskündigung gemäß § 2 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) möglich.
Nachwirkung des Bezugs
Kommt es nach Beendigung des maßgeblichen Tarifvertrags oder nach Beendigung der Bezugnahme zu Streitigkeiten, ist höchstrichterlich anerkannt, dass die Nachwirkung von Tarifnormen (§ 4 Abs. 5 TVG) ausschließlich bei tariflicher Bindung und nicht im Rahmen einer Nachzeichnung gilt. In Vertragskonstruktionen ohne originäre Tarifbindung entfällt daher im Grundsatz eine Nachwirkung; es sei denn, im Vertrag ist explizit eine Nachwirkung vereinbart.
Praktische Bedeutung
Arbeitgeberperspektive
Für nicht tarifgebundene Arbeitgeber kann die Nachzeichnung ein Instrument sein, um Arbeitsbedingungen branchengemäß und wettbewerbsfähig zu gestalten, Arbeitnehmer zu gewinnen oder den Betriebsfrieden zu sichern. Gleichwohl bleibt die Flexibilität erhalten, abweichende Regelungen zu treffen oder die Nachzeichnung jederzeit abzuändern, sofern die arbeitsvertraglichen und gesetzlichen Anforderungen gewahrt werden.
Arbeitnehmerperspektive
Für Arbeitnehmer entfällt der besondere Kündigungsschutz, der tarifgebundenen Arbeitnehmern gemäß § 4 Abs. 3 TVG zusteht. Zudem können tarifliche Leistungen oder Verbesserungen zukünftig nicht ohne Weiteres eingeklagt werden, falls der Arbeitgeber sich entschließt, den Bezug zu lösen oder den Arbeitsvertrag entsprechend zu ändern.
Rechtsprechung und Auslegung
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat den Umgang mit Bezugnahmeklauseln im Wandel des Arbeitsmarktes mehrfach angepasst, insbesondere im Hinblick auf die Unterscheidung dynamischer und statischer Bezugnahmen. Nach der ständigen Rechtsprechung ist der Wortlaut entscheidend, wobei im Zweifel von einer dynamischen Bezugnahme auszugehen ist, wenn dies dem erklärten Parteiwillen entspricht (BAG, Urteil v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04).
Seit dem Inkrafttreten des Tarifvertragsgesetzes 2002 und der Schuldrechtsreform wurden die Regelungen zur Vertragsfreiheit und Bezugnahmeklauseln konsequenter gefasst, um Missbrauch entgegenzuwirken.
Abgrenzung: Nachzeichnung, Bezugnahme und Tarifbindung
Zusammenfassend ist zu differenzieren zwischen:
- Tarifbindung (§ 3 TVG): Normative Geltung des Tarifvertrags kraft Mitgliedschaft.
- Nachzeichnung/Bezugnahme: Vertragliche Anwendung eines Tarifvertrags durch Vereinbarung, ohne dass Tarifbindung besteht.
- Tarifgebundenheit durch Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG): Rechtsverbindliche Anwendung auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer der Branche.
Fazit
Die Nachzeichnung eines Tarifvertrages ist ein arbeitsrechtliches Instrument zur Übernahme bewährter tariflicher Standards durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber. Die Regelungen entfalten allerdings keine unmittelbare und zwingende Wirkung, sondern basieren auf der vertraglichen Grundlage. Für die Praxis bietet sie eine Möglichkeit, arbeitsrechtliche Standards flexibel und angepasst an betriebliche Anforderungen zu implementieren, wobei auf die Unterschiede zu originär tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen zu achten ist. Die vertragliche Ausgestaltung, insbesondere die Wahl zwischen statischer und dynamischer Bezugnahme und die Regelung etwaiger Nachwirkungen, bedarf in jedem Einzelfall besonderer Sorgfalt, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für die Nachzeichnung eines Tarifvertrags erfüllt sein?
Für eine rechtlich wirksame Nachzeichnung eines Tarifvertrags muss zunächst sichergestellt werden, dass ein bestehender Tarifvertrag vorliegt, den der Arbeitgeber nachzeichnen möchte. Die Nachzeichnung ist nach deutschem Arbeitsrecht grundsätzlich zulässig, sofern der Arbeitgeber selbst nicht tarifgebunden ist, d.h. weder Mitglied eines Arbeitgeberverbandes noch selbst Partei des betreffenden Tarifvertrags ist. Erforderlich ist ein ausdrücklicher Hinweis im Arbeitsvertrag oder einer Zusatzvereinbarung, dass die Regelungen des genannten Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung ganz oder teilweise übernommen werden. Die Nachzeichnung muss hinreichend bestimmt sein; es reicht also nicht, pauschal auf „die jeweils geltenden tariflichen Regelungen“ zu verweisen, vielmehr ist zu benennen, um welchen Tarifvertrag es sich handelt und welche Teile übernommen werden sollen. Weiterhin ist zu beachten, dass tarifvertragliche Nachzeichnungsvereinbarungen privatrechtlich ausgestaltet sind und keine unmittelbare Geltung im Sinne des Tarifvertragsgesetzes (TVG) entfalten, sondern nur als vertraglich vereinbarte Arbeitsbedingungen wirken.
Welche Wirkung hat eine Nachzeichnung im Vergleich zur originären Tarifbindung?
Die Nachzeichnung eines Tarifvertrags erfolgt auf rein individualrechtlicher Basis durch eine arbeitsvertragliche Vereinbarung. Das bedeutet, die Rechte und Pflichten aus dem Tarifvertrag gelten nur insoweit, wie sie durch den Arbeitsvertrag in Bezug genommen wurden. Es tritt keine unmittelbare und zwingende Wirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG ein, wie sie bei der originären Tarifbindung der Fall wäre. Auch eine Nachzeichnung wirkt nicht normativ, sondern stellt eine dynamische oder statische Bezugnahme auf tarifliche Regelungen dar. Das bedeutet, der Arbeitnehmer hat aus der Nachzeichnung keine typischen Schutzrechte aus dem Kollektivarbeitsrecht (z.B. Tarifverhandlungen, Streikrecht), sondern ausschließlich Ansprüche auf die im Vertrag übernommenen Regelungen.
Welche Unterschiede bestehen zwischen statischer und dynamischer Nachzeichnung?
Bei der statischen Nachzeichnung gelten die tariflichen Regelungen nur in der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses aktuellen Fassung fort. Das heißt, spätere Änderungen oder Ergänzungen des Tarifvertrags bleiben für das Arbeitsverhältnis ohne Wirkung. Im Falle einer dynamischen Nachzeichnung gilt der Tarifvertrag in seiner jeweils gültigen und zukünftig geänderten Fassung, solange die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel nicht aufgehoben oder geändert wird. Rechtsdogmatisch ist zu beachten, dass sich die Auslegung der Nachzeichnungsklausel nach den allgemeinen Regeln des Vertragsauslegungsrechts (§§ 133, 157 BGB) richtet und bei Unklarheiten im Zweifel die für den Arbeitnehmer günstigere Variante anzunehmen ist.
Wie wirkt sich eine Nachzeichnung auf eine etwaige Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags aus?
Eine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bewirkt, dass die tariflichen Regelungen auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich werden. Die Nachzeichnung bleibt dennoch ein eigenständiger privatrechtlicher Vorgang: Ist ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich erklärt, hat dies Vorrang gegenüber der Nachzeichnung, da die Regelungen ohnehin zwingend für alle Arbeitsverhältnisse innerhalb des sachlichen und räumlichen Geltungsbereichs angewendet werden müssen. Die Nachzeichnung kann jedoch insoweit Bedeutung erlangen, als dass sie überprüft werden muss, ob individuelle Verbesserungen zugunsten des Arbeitnehmers vereinbart wurden, die über die allgemeinverbindlichen Mindeststandards hinausgehen.
Kann eine Nachzeichnung nachträglich geändert oder gekündigt werden?
Da die Nachzeichnung durch individuelle Vertragsabrede erfolgt, ist sie grundsätzlich durch eine einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrags oder eine Änderungskündigung sowohl zulasten als auch zugunsten des Arbeitnehmers veränderbar. Eine isolierte einseitige Änderung ist – abgesehen von einer entsprechenden Änderungsvereinbarung – jedoch nur unter den allgemeinen rechtlichen Voraussetzungen einer Änderungskündigung nach § 2 KSchG möglich. Eine nachträgliche Abweichung ist zudem nicht zulässig, wenn sie bestehenden Tarifnormen entgegensteht, die zwingende Wirkung entfalten, etwa bei einer Allgemeinverbindlicherklärung oder originären Tarifbindung beider Parteien.
Welche Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats sind bei der Nachzeichnung zu beachten?
Bei der Nachzeichnung eines Tarifvertrags im Einzelarbeitsvertrag handelt es sich typischerweise um eine Maßnahme, die keine unmittelbare Mitbestimmungspflicht des Betriebsrats nach dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) auslöst, da es sich um eine individualrechtliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und einzelnen Arbeitnehmern handelt. Erfolgt die Nachzeichnung jedoch im Rahmen einer Gesamtregelung (z.B. durch eine Betriebsvereinbarung), so kann eine Beteiligung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erforderlich werden, wenn Fragen der betrieblichen Entgeltgestaltung betroffen sind. Der Betriebsrat hat zudem ein Informationsrecht und kann den Arbeitgeber zu Transparenz und Gleichbehandlung anhalten.
Welche Bedeutung hat die Nachzeichnung im Insolvenzfall des Arbeitgebers?
Bei einer Insolvenz des Arbeitgebers kann sich der Insolvenzverwalter auf das sogenannte Kündigungsrecht nach § 113 InsO berufen und Arbeitsverhältnisse mit tarifvertraglicher Nachzeichnung unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist beenden. Die aus der Nachzeichnung übernommenen tariflichen Ansprüche, insbesondere solche, die im Voraus im Arbeitsvertrag fixiert wurden, bleiben bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehen und sind Insolvenzforderungen. Besonderheiten ergeben sich nur, wenn im Insolvenzfall eine Betriebsvereinbarung oder tarifliche Nachfolgeregelungen in Kraft treten; dann kann die Dynamik der Nachzeichnung eingeschränkt sein, sofern der neue Rechtsträger nicht mehr an den ursprünglichen Bezugsrahmen gebunden ist.
Welche Folgen hat die Nichtbeachtung der Nachzeichnung im Arbeitsverhältnis?
Wird eine nachgezeichnete tarifliche Regelung vom Arbeitgeber nicht beachtet, entstehen individualrechtliche Ansprüche des Arbeitnehmers auf Einhaltung der entsprechend im Arbeitsvertrag in Bezug genommenen Tarifnormen. Der Arbeitnehmer kann seinen Anspruch auf die konkret vereinbarten Arbeitsbedingungen, wie z.B. tarifliches Entgelt oder arbeitszeitliche Regelungen, gerichtlich geltend machen (§ 611a BGB). Sozialrechtliche Folgen (z.B. Ablehnung von Zuschlägen bei der Lohnpfändung) oder betriebsverfassungsrechtliche Sanktionen sind nur mittelbar möglich, etwa wenn eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmergruppen aus der unvollständigen Umsetzung resultiert. Die Nachzeichnung entfaltet zudem keine kollektiven Schutzmechanismen, sodass die Rechte ausschließlich im Wege des Individualrechtsschutzes durchsetzbar sind.