Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Zivilrecht»Missbräuchliche Rechtsausübung

Missbräuchliche Rechtsausübung


Begriff und Bedeutung der Missbräuchlichen Rechtsausübung

Die missbräuchliche Rechtsausübung bezeichnet im deutschen Zivilrecht ein Verhalten, bei dem ein Recht nicht im Sinne seines sozialen Zwecks oder entgegen Treu und Glauben ausgeübt wird. Der Grundsatz der Verhinderung missbräuchlicher Rechtsausübung ist ein grundlegendes Prinzip im deutschen Recht und findet sich in zahlreichen Rechtsgebieten wieder. Er soll verhindern, dass formale Rechtspositionen dazu verwendet werden, sachlich ungerechtfertigte oder unfaire Ergebnisse herbeizuführen.

Definition und rechtliche Einordnung

Missbräuchliche Rechtsausübung liegt vor, wenn ein Rechtsträger sein ihm zustehendes Recht in einer Weise geltend macht oder durchsetzt, die deshalb unzulässig ist, weil sie offenkundig rechtsmissbräuchlich, gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), den Grundsatz von „Treu und Glauben“ oder den Zweck des verliehenen Rechts verstößt.

Die Bedeutung dieses Rechtsinstituts liegt darin, dass es die Schranken der Rechtsausübung festlegt und das Recht einer inhaltlichen Grenze unterwirft. Der Grundsatz hat sowohl im Privatrecht als auch im öffentlichen Recht und im Verfahrensrecht eine maßgebliche Rolle.

Gesetzliche Grundlagen

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Die missbräuchliche Rechtsausübung ist insbesondere im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankert. Zentral ist dabei:

  • § 226 BGB: „Die Ausübung eines Rechts ist unzulässig, wenn sie nur den Zweck haben kann, einem anderen Schaden zuzufügen.“
  • § 242 BGB (Grundsatz von Treu und Glauben): Verpflichtet zur Leistung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte.
  • Auch in § 826 BGB (sittenwidrige vorsätzliche Schädigung) finden sich Elemente der Missbrauchskontrolle.

Die Vorschriften haben als Generalklauseln die Funktion, den Missbrauch von Rechten abzuwehren und die Durchsetzung bloßer Formalpositionen zu verhindern, wenn diese zur unzumutbaren Härte für andere führen.

Weitere Normen und Anwendung im Recht

Darüber hinaus existieren zahlreiche bereichsspezifische Regelungen sowie richterrechtlich entwickelte Grundsätze zur Verhinderung missbräuchlicher Rechtsausübung, etwa im Mietrecht, Arbeitsrecht und Gesellschaftsrecht.

Erscheinungsformen der Missbräuchlichen Rechtsausübung

Schikaneverbot

Das Schikaneverbot zählt zu den wichtigsten Ausprägungen der missbräuchlichen Rechtsausübung. Gemäß § 226 BGB ist es unzulässig, ein Recht ausschließlich mit der Absicht geltend zu machen, einem anderen Schaden zuzufügen, ohne dass ein schützenswertes Eigeninteresse besteht.

Beispiele für Schikane

  • Der Grundstückseigentümer stellt ohne zwingenden Grund ein Hindernis auf, um dem Nachbarn die Zufahrt zu erschweren.
  • Ein Gläubiger verlangt wiederholt die Leistung, obwohl offensichtlich keine Berechtigung mehr besteht, nur um dem Schuldner zu schaden.

Rechtsausübung entgegen Treu und Glauben

Ein häufiger Anwendungsfall ist die Geltendmachung eines Rechts, das zwar formal besteht, dessen Inanspruchnahme aber einen gegen Treu und Glauben verstoßenden Nachteil für den Gegner herbeiführt.

Typische Fallgruppen

  • Venire contra factum proprium: Wer durch sein vorheriges Verhalten einen bestimmten Vertrauenstatbestand gesetzt hat, darf sich später nicht widersprüchlich verhalten.
  • Verwirkung: Ein Recht kann durch langanhaltende Untätigkeit und einen daraus resultierenden Vertrauenstatbestand des Gegenübers verwirkt sein.

Rechtsmissbrauch in besonderen Rechtsgebieten

Mietrecht

Ein Vermieter darf dem Mieter nicht kündigen, wenn er erkennbar keinerlei berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat.

Arbeitsrecht

Auch im Arbeitsrecht spielt der Rechtsmissbrauch etwa bei Kündigungen oder der Versagung von Arbeitszeugnissen eine Rolle.

Gesellschaftsrecht

Im Gesellschaftsrecht wird Missbrauch insbesondere bei Mehrheitsentscheidungen, der Geltendmachung von Anfechtungsrechten oder im Rahmen des Minderheitenschutzes relevant.

Missbräuchliche Geltendmachung von Ansprüchen

Ein Anspruch kann versagt werden, wenn seine Geltendmachung allein dazu dient, den Anspruchsgegner sachfremd zu belasten oder zu schädigen.

Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Missbräuchlichen Rechtsausübung

Voraussetzungen

Die Annahme eines Missbrauchs setzt in der Regel voraus:

  1. Ein bestehendes (formales) Recht oder Anspruch
  2. Die Ausübung dieses Rechts ist objektiv unbillig oder widerspricht dem Zweck der Norm
  3. Kein schutzwürdiges Eigeninteresse auf Seiten des Ausübenden steht entgegen
  4. Ein Nachteil oder Schaden für den anderen Beteiligten

Ob eine missbräuchliche Rechtsausübung vorliegt, entscheidet sich häufig im Wege einer umfassenden Interessenabwägung im Einzelfall.

Rechtsfolgen

Ist eine Rechtsausübung missbräuchlich, kann die Geltendmachung des Rechts insgesamt, teilweise oder temporär ausgeschlossen sein. Rechtshandlungen können unwirksam oder unbeachtlich sein. Zudem kann unter Umständen ein Schadensersatzanspruch gegen den Missbrauchenden entstehen.

Rechtsprechung und Praxis

Die Rechtsprechung konkretisiert den Grundsatz der missbräuchlichen Rechtsausübung regelmäßig anhand von Einzelfällen. Insbesondere der Bundesgerichtshof hat zahlreiche Leitsätze entwickelt, welche die ausfüllenden Kriterien je nach Sachverhalt und Bereich präzisieren.

Gleichzeitig wird das Verbot der missbräuchlichen Rechtsausübung im Zusammenhang mit anderen Generalklauseln (z.B. Sittenwidrigkeit, Treu und Glauben) angewandt und interpretiert.

Dogmatische Grundlagen

Die missbräuchliche Rechtsausübung ist Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens, dass das Recht dem Guten und Billigen dienen soll und niemand aus der formalen Anwendung des Rechts unredliche Vorteile ziehen darf. Sie steht im Spannungsverhältnis zu Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, schafft zugleich aber notwendige Ausgleichsmöglichkeiten für besonders gelagerte Ausnahmefälle.

Internationale Aspekte und vergleichende Betrachtung

Auch in anderen Rechtssystemen, etwa im schweizerischen und österreichischen Zivilrecht, finden sich vergleichbare Schutzmechanismen. Auf europäischer Ebene sind rechtsmissbräuchliche Handlungen zum Beispiel im Wettbewerbsrecht und in der Verfahrensführung untersagt.

Abgrenzung zu anderen Rechtsbegriffen

Es ist wichtig, die missbräuchliche Rechtsausübung von der bloßen Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) oder vom Betrug (§ 263 StGB) abzugrenzen. Während die Sittenwidrigkeit eine weitergehende gesellschaftliche Missbilligung verlangt, handelt es sich beim Rechtsmissbrauch um die unfaire Ausnutzung einer Rechtsposition.

Bedeutung und Rolle in der Praxis

Die missbräuchliche Rechtsausübung dient dem Ausgleich starrer Rechtstitel und schützt vor sachwidrigen, unfairen oder schikanösen Rechtsfolgen. Sie ist damit ein unverzichtbares Regulativ im deutschen Rechtssystem, das dem sozialen Zweck des Rechts und einem gerechten Interessenausgleich Geltung verschafft.


Quellenhinweis: Der Artikel basiert auf den einschlägigen Gesetzen, Kommentaren und der aktuellen Rechtsprechung im deutschen Zivil-, Arbeits- und Gesellschaftsrecht.

Häufig gestellte Fragen

Wann liegt eine missbräuchliche Rechtsausübung im Zivilrecht vor?

Eine missbräuchliche Rechtsausübung im Zivilrecht liegt dann vor, wenn jemand seine formell bestehenden Rechte in einer Art und Weise geltend macht oder durchsetzt, die mit den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unvereinbar ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das Recht allein zum Zweck der Schädigung eines anderen ausgeübt wird (Schikaneverbot gem. § 226 BGB) oder wenn eine offensichtlich unangemessene Benachteiligung eines Vertragspartners erfolgt. Ein klassischer Anwendungsfall ist die Geltendmachung eines Rechtes, obwohl dessen Zweck bereits erfüllt wurde oder sein wirtschaftlicher Wert gegenstandslos ist. Die Gerichte prüfen im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände, ob das Verhalten des Rechtsinhabers objektiv vertrauenswidrig ist und gegen das Gebot loyalen und anständigen Verhaltens verstößt.

Welche Rechtsfolgen hat die Feststellung der missbräuchlichen Rechtsausübung?

Wird die Ausübung eines Rechtes als missbräuchlich qualifiziert, wird die Geltendmachung dieses Rechts durch richterliche Entscheidung versagt. Der Anspruchsteller wird so behandelt, als stünde ihm das beanspruchte Recht in dieser konkreten Situation nicht zu. Dies kann im Extremfall sogar so weit gehen, dass ein vollstreckbarer Titel seine Durchsetzung verliert oder bereits erfolgte Leistungen zurückgewährt werden müssen. Im Sachenrecht kann z.B. ein Eigentümer von der Geltendmachung seines Herausgabeanspruchs ausgeschlossen sein, wenn er diesen offenkundig nur zu Schikanierungszwecken verwendet.

In welchen Rechtsgebieten findet der Grundsatz der missbräuchlichen Rechtsausübung Anwendung?

Der Grundsatz der missbräuchlichen Rechtsausübung ist im gesamten Privatrecht anwendbar, insbesondere im Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht, Erbrecht sowie im Arbeitsrecht. Darüber hinaus findet er in zahlreichen Spezialgesetzen eine ausdrückliche oder konkludente Anerkennung. Auch im öffentlichen Recht und im Wettbewerbsrecht (z.B. beim sogenannten „Abmahnmissbrauch“) kann der Grundsatz zur Anwendung kommen, wobei jeweils die Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets beachtet werden müssen. Insbesondere im Schuldrecht ist das Institut von zentraler Bedeutung, da hier die gegenseitigen Interessen der Vertragsparteien oft intensiv abgewogen werden müssen.

Wer trägt die Beweislast für das Vorliegen einer missbräuchlichen Rechtsausübung?

Die Beweislast für das Vorliegen einer missbräuchlichen Rechtsausübung trifft grundsätzlich diejenige Partei, die sich auf diese Rechtsfigur beruft, also meist den Anspruchsgegner. Er muss substantiiert darlegen und beweisen, dass die Geltendmachung des Rechts im konkreten Fall gegen Treu und Glauben verstößt. Allerdings genügt – wie in anderen Fällen der Beweisführung – eine Überzeugungsbildung des Gerichts auf Grundlage einer Gesamtschau der Umstände, weshalb strenge Anforderungen an den Vollbeweis nicht immer gestellt werden. Die Rechtsprechung anerkennt, dass in besonders auffälligen Einzelfällen schon die Darlegung der zu offensichtlich missbräuchlichen Umstände ausreichen kann.

Gibt es typische Fallgruppen der missbräuchlichen Rechtsausübung?

Zu den anerkannten Fallgruppen gehören unter anderem die Schikane (reines Schädigungsinteresse), widersprüchliches Verhalten („venire contra factum proprium“), rechtsmissbräuchliche Berufung auf Formmängel, zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechtes sowie das Ausnutzen einer Monopolstellung bzw. Übervorteilung. In diesen Konstellationen dient die Rechtsausübung nicht der Verwirklichung des vom Gesetzgeber bezweckten Rechtsguts, sondern verfolgt zweckwidrige oder sittenwidrige Ziele.

Welche Rolle spielt der Grundsatz von Treu und Glauben im Zusammenhang mit der missbräuchlichen Rechtsausübung?

Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) bildet das zentrale Korrektiv zur Verhinderung der missbräuchlichen Rechtsausübung. Er verpflichtet die Parteien eines Rechtsverhältnisses zu loyalem, anständigem und sozialadäquatem Verhalten. Die Vorschrift ermöglicht es den Gerichten, in Einzelfällen unbillige oder unzumutbare Ergebnisse zu verhindern, selbst wenn sie sich formal auf das Gesetz berufen könnten. Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt dabei als übergeordnetes Prinzip des gesamten Privatrechts und ist somit die wichtigste Legitimationsgrundlage für die Verweigerung der Anspruchsdurchsetzung bei festgestelltem Rechtsmissbrauch.