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Marktbeherrschungsvermutungen


Marktbeherrschungsvermutungen im deutschen und europäischen Kartellrecht

Einführung und Begriffserklärung

Marktbeherrschungsvermutungen spielen eine zentrale Rolle im Wettbewerbs- und Kartellrecht. Sie sind gesetzlich normierte Indizien, aufgrund derer unter bestimmten Voraussetzungen angenommen werden kann, dass ein Unternehmen auf einem bestimmten Markt eine marktbeherrschende Stellung innehat. Ziel dieser Regelung ist es, die effektive Durchsetzung des Kartellrechts zu erleichtern, indem die Beweislast für das Vorliegen einer Marktmacht zugunsten der Ermittlungsbehörden und Gerichte im gewissen Umfang umgekehrt oder erleichtert wird.

Rechtsgrundlagen

Deutsches Recht: §§ 18, 19 GWB

Die maßgeblichen Bestimmungen zu Marktbeherrschungsvermutungen finden sich im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Insbesondere §§ 18 und 19 GWB enthalten Definitionen und Kriterien zur Marktbeherrschung sowie die entsprechenden Vermutungstatbestände.

  • § 18 Abs. 4 GWB sieht Vermutungen für Einzelmarktbeherrschung sowie für kollektive Marktbeherrschung (sog. Oligopol-Vermutung) vor.
  • § 19 GWB regelt das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, relevant unter anderem für die Missbrauchskontrolle.
Einzelunternehmen (§ 18 Abs. 4 S. 1 GWB)

Ein Unternehmen wird in der Regel dann als marktbeherrschend vermutet, wenn es einen Marktanteil von mindestens 40 % auf dem relevanten Markt hält. Diese quantitative Schwelle gilt als Kernelement der gesetzlichen Vermutung und ist auf den jeweiligen relevanten Produkt- und Geografischen Markt bezogen.

Kollektive Marktbeherrschung (§ 18 Abs. 6 GWB)

Sind auf einem Markt drei oder weniger Unternehmen tätig, die zusammen einen Marktanteil von mindestens 50 % halten, wird vermutet, dass sie gemeinsam marktbeherrschend sind (oligopolistische Marktbeherrschung). Diese Vermutung kann auch kleinere Zusammenschlüsse betreffen, sofern zwei Unternehmen zusammen mindestens 66,6 % Marktanteil besitzen.

Europäisches Recht: Art. 102 AEUV

Im europäischen Kartellrecht existieren keine ausdrücklichen gesetzlichen Marktbeherrschungsvermutungen wie im deutschen Recht. Die Marktbeherrschung wird vielmehr anhand einer umfassenden Marktanalyse festgestellt. Die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) wenden jedoch in ihrer Spruchpraxis vergleichbare Schwellenwerte an, z.B. liegt nach ständiger Rechtsprechung ab einem Marktanteil von 50 % (in der Regel) eine marktbeherrschende Stellung vor. Diese Werte sind jedoch nicht verbindlich gesetzlich normiert, sondern entwickeln sich aus der Entscheidungspraxis.

Struktur und Wirkung der Marktbeherrschungsvermutungen

Gesetzliche Vermutungswirkung

Die Marktbeherrschungsvermutungen sind widerlegbare gesetzliche Vermutungen. Sie entbinden die Kartellbehörden oder Kläger nicht vollständig von der Pflicht, alle Voraussetzungen einer marktbeherrschenden Stellung darzulegen, erleichtern aber deren Nachweis. Wird die Marktanteilsschwelle erreicht, dreht sich die Darlegungs- und Beweislast um: Das betroffene Unternehmen hat die Möglichkeit, die tatsächliche oder rechtliche Widerlegung dieser Vermutung vorzunehmen. Hierzu können etwa strukturelle Besonderheiten des Marktes, tatsächliche Wettbewerbskräfte oder Marktbeweglichkeit herangezogen werden.

Bedeutung für die Praxis

Marktbeherrschungsvermutungen können erhebliche praktische Auswirkungen entfalten, insbesondere in folgenden Bereichen:

  • Fusionskontrolle: Bereits vor der Genehmigung von Zusammenschlüssen prüfen die Kartellämter, ob die beteiligten Unternehmen nach Vollzug die Schwellenwerte überschreiten und daher eine Marktbeherrschung vermutet werden kann.
  • Missbrauchsaufsicht: Im Rahmen der Kartellaufsicht werden Marktanteile bevorzugt zur Beurteilung herangezogen, ob die Voraussetzungen für ein missbräuchliches Verhalten vorliegen, etwa durch Preismissbrauch, Behinderung oder Ausbeutung.

Abgrenzung der Marktbeherrschungsvermutungen zu weiteren Marktbeherrschungskriterien

Die Marktbeherrschungsvermutungen stellen keine abschließende Definition der Marktbeherrschung dar. Wesentliche weitere Parameter sind:

  • Marktzutrittsschranken
  • Finanzielle Ressourcen
  • Zugang zu Lieferquellen
  • Kundenbindung und Wechselkosten
  • Innovationskraft

Diese und weitere qualitative Kriterien müssen insbesondere in Grenzfällen oder zur Widerlegung der Vermutung von den Parteien oder Behörden analysiert und berücksichtigt werden.

Widerlegung der Marktbeherrschungsvermutungen

Kriterien zur Widerlegung

Zur Widerlegung der Vermutung kann ein Unternehmen insbesondere nachweisen, dass

  • tatsächlich erhebliche Konkurrenzkräfte auf dem Markt herrschen,
  • Nachfrage- und Angebotsflexibilität eine wirksame Wettbewerbsbeschränkung verhindern,
  • potenzielle Wettbewerber ohne größere Hürden in den Markt eintreten können,
  • die Marktanteile irreführend sind (z.B. aufgrund temporärer Marktentwicklungen oder unscharfer Marktdefinition).

Verfahrensrechtliche Aspekte

Die Darlegungs- und Beweislast für die Widerlegung trägt in der Praxis das Unternehmen, dem Marktbeherrschung unterstellt wird. Einfache Behauptungen sind dabei regelmäßig nicht ausreichend; erforderlich sind substantielle und nachvollziehbare Darlegungen, oft gestützt durch Marktdaten, ökonomische Analysen und Gutachten.

Aktuelle Entwicklungen und Reformüberlegungen

Die Diskussion um die Markteinteilung und deren Aussagekraft nimmt mit der fortschreitenden Entstehung neuer Technologien und Märkte eine immer größere Bedeutung ein. Insbesondere bei digitalen Plattformen sowie Märkten mit dynamischem Wettbewerb werden die traditionellen Marktbeherrschungsvermutungen kritisch hinterfragt. Die Behörden und Rechtsprechung entwickeln daher Instrumentarien weiter, um auch qualitative und dynamische Wettbewerbsaspekte stärker in die Beurteilung einfließen zu lassen.

Zusammenfassung

Marktbeherrschungsvermutungen sind ein zentrales Instrument zur Durchsetzung des Kartellrechts und zur Gewährleistung eines funktionsfähigen Wettbewerbs auf den Märkten. Sie erleichtern die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung, indem sie ab bestimmten Marktanteilsschwellen eine Beweislastumkehr bewirken. Dennoch bleibt die tatsächliche Marktstellung stets das Ergebnis einer umfassenden Gesamtbetrachtung, in die auch qualitative Merkmale und Marktdynamiken einzubeziehen sind. Die hohe rechtliche und ökonomische Bedeutung dieser Vermutungen spiegelt sich sowohl im deutschen als auch – in abgewandelter Form – im europäischen Recht wider.

Häufig gestellte Fragen

Wann greift die widerlegliche Vermutung einer Marktbeherrschung gemäß § 18 Abs. 4 GWB?

Die widerlegliche Vermutung der Marktbeherrschung greift gemäß § 18 Abs. 4 GWB dann, wenn ein Unternehmen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt einen Marktanteil von mindestens 40 % hält. Diese Vermutung ist jedoch nicht abschließend, sondern widerleglich. Das bedeutet, dass das betroffene Unternehmen nachweisen kann, dass es trotz des Marktanteils nicht über eine marktbeherrschende Stellung verfügt. Dabei werden unter anderem Faktoren wie der Wettbewerbsdruck durch andere Marktteilnehmer, die Marktzutrittsschranken, die Nachfragemacht der Abnehmer sowie die Marktentwicklung berücksichtigt. Die betroffenen Unternehmen können so etwa argumentieren, dass aufgrund hoher Austauschbarkeit der Produkte, starker Konkurrenz oder kurzfristig wirksamer Markteintritte keine tatsächliche Marktmacht besteht, die missbräuchlich ausgenutzt werden könnte. Das Bundeskartellamt und die Gerichte nehmen eine umfassende Würdigung sämtlicher wettbewerbsrelevanter Umstände vor, weshalb die bloße Überschreitung des Schwellenwerts nicht zwangsläufig zu einer Feststellung der Marktbeherrschung führt.

Welche Bedeutung haben kollektive Marktbeherrschungsvermutungen und wie unterscheiden sie sich von der Einzelmarktbeherrschung?

Kollektive Marktbeherrschungsvermutungen beziehen sich auf den Fall, dass mehrere Unternehmen gemeinsam eine beherrschende Stellung auf einem Markt innehaben. Gemäß § 18 Abs. 6 GWB wird eine solche kollektive Marktbeherrschung vermutet, wenn drei oder weniger Unternehmen zusammen einen Marktanteil von mindestens 50 % oder fünf oder weniger Unternehmen zusammen einen Marktanteil von mindestens zwei Dritteln des relevanten Marktes erreichen. Im Unterschied zur Einzelmarktbeherrschung, bei der ein einziges Unternehmen den Markt maßgeblich kontrolliert, geht es bei der kollektiven Marktbeherrschung um eine oligopolistische Marktsituation, in der einige wenige Unternehmen ihre Wettbewerbsentscheidungen stärker aufeinander abstimmen und den Wettbewerb so weitgehend ausschalten können. Wichtig ist, dass auch diese Vermutung widerleglich ist und durch besondere Marktverhältnisse entkräftet werden kann.

Welche weiteren Indizien neben dem Marktanteil werden bei der Marktbeherrschungsvermutung geprüft?

Neben dem Marktanteil werden im Rahmen der Marktbeherrschungsvermutung zahlreiche weitere wettbewerbsökonomische Faktoren einbezogen. Hierzu zählen insbesondere die finanziellen Mittel der Unternehmen, Zugang zu entscheidenden Produktionsmitteln oder Vorleistungen, technologische Voraussetzungen oder Innovationen, Markenbindung oder Kundentreue, vertikale Integration, Verbund- und Skaleneffekte sowie Marktzutrittsschranken für potentielle Wettbewerber. Auch die Reaktionsfähigkeit von Nachfragern (Nachfragemacht), die Existenz von Ersatzprodukten (Substituierbarkeit) und die Transparenz des Marktes sind maßgebliche Kriterien. Gerichte und das Bundeskartellamt müssen diese Merkmale abwägen, um im Einzelfall zu entscheiden, ob tatsächlich eine marktbeherrschende Stellung besteht oder ob trotz Überschreiten des Marktanteils keine Dominanz vorliegt.

Wie können Unternehmen die Vermutungswirkung in der Praxis widerlegen?

Unternehmen können die Vermutung durch den Nachweis widerlegen, dass trotz hoher Marktanteile keine marktbeherrschende Stellung besteht. Zentrale Ansatzpunkte sind die Darlegung und der Nachweis erheblichen Wettbewerbsdrucks sowohl durch bestehende als auch potentielle Wettbewerber, geringe Marktzutrittsschranken, die hohe Preissensitivität der Nachfrager oder eine ausgeprägte Nachfragemacht der Abnehmer, die es unmöglich machen, sich dauerhaft unabhängig vom Wettbewerb zu verhalten. Dafür können Marktstudien, ökonomische Gutachten und konkrete Marktdaten herangezogen werden. Die Behörden prüfen detailliert, ob Strukturen und Verhaltensweisen auf aktive Wettbewerbskräfte hindeuten und so die tatsächliche Marktmacht der Unternehmen relativieren. Die Widerlegung ist oftmals komplex und erfordert eine gründliche Auseinandersetzung mit sämtlichen Marktumständen.

Welche Rolle spielen Marktbeherrschungsvermutungen bei Fusionskontrollverfahren?

Marktbeherrschungsvermutungen sind zentraler Bestandteil der Fusionskontrolle nach deutschem und europäischem Wettbewerbsrecht. Vor allem untersucht das Bundeskartellamt, ob durch einen Zusammenschluss ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erlangen oder erweitern könnte. Dabei werden die gesetzlichen Vermutungstatbestände als erste Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Wettbewerbs herangezogen. Sind die Marktanteilsschwellen nach § 18 Abs. 4 oder Abs. 6 GWB überschritten, müssen die beteiligten Unternehmen im Rahmen des Fusionskontrollverfahrens umfassend darlegen, dass dennoch funktionierender Wettbewerb verbleibt. Die Marktbeherrschungsvermutung erleichtert somit die Arbeit der Kartellbehörden, verlagert aber gegebenenfalls die Darlegungs- und Beweislast auf die betroffenen Unternehmen.

Gibt es Unterschiede zwischen deutschem und europäischem Recht hinsichtlich der Marktbeherrschungsvermutung?

Im deutschen Recht sind die Schwellenwerte für die Marktbeherrschungsvermutung ausdrücklich normiert (§ 18 Abs. 4 und Abs. 6 GWB). Das europäische Kartellrecht (Art. 102 AEUV) kennt dagegen keine festgelegten Schwellenwerte, sondern beurteilt die Marktbeherrschung anhand einer auf den Einzelfall bezogenen Bewertung unterschiedlicher Faktoren, wobei der Marktanteil als „wichtiger Hinweis“ betrachtet wird. Dennoch orientieren sich auch die europäischen Wettbewerbsbehörden häufig an Marktanteilswerten von etwa 40 % als Indiz für eine marktbeherrschende Stellung, wenngleich diese rechtlich nicht bindend sind. Im Ergebnis ist die deutsche Marktbeherrschungsvermutung spezifischer und führt zu einer gewissen Beweiserleichterung für die Kartellbehörden, während auf europäischer Ebene eine umfassendere, aber individuellere Gesamtbetrachtung erforderlich ist.