Begriff und Bedeutung der Marktabgrenzung
Die Marktabgrenzung ist ein zentraler Begriff im Wettbewerbs- und Kartellrecht. Sie beschreibt die wirtschaftsrechtlich und ökonomisch fundierte Bestimmung des relevanten Marktes, auf dem Unternehmen tätig sind oder miteinander in Wettbewerb stehen. Die genaue Bestimmung des Marktes ist notwendig, um die Wirkungen wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen, Unternehmenszusammenschlüsse sowie den Grad von Marktmacht und Wettbewerbsintensität beurteilen zu können.
Funktion und Bedeutung im Wettbewerbsrecht
Die Marktabgrenzung stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung zentraler Normen des Kartellrechts dar, insbesondere im Zusammenhang mit der Kontrolle von Zusammenschlüssen sowie der Missbrauchsaufsicht marktbeherrschender Unternehmen (§§ 18 ff. GWB, Art. 102 AEUV). Sie schafft den Bezugsrahmen, innerhalb dessen Marktanteile berechnet und Marktmacht festgestellt werden.
Zweck der Marktabgrenzung
- Ermittlung der Marktstellung: Die Beurteilung, ob ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung innehat, verlangt die vorherige Abgrenzung des sachlich, räumlich und ggf. zeitlich relevanten Marktes.
- Prüfung von Zusammenschlüssen: Im Rahmen der Fusionskontrolle wird die Marktabgrenzung zur Prognose potenzieller Wettbewerbswirkungen benötigt.
- Analyse von Wettbewerbsbeschränkungen: Die Feststellung kartellrechtswidriger Vereinbarungen oder des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung setzt die Bestimmung des betroffenen Marktes voraus.
Komponenten der Marktabgrenzung
Die Marktabgrenzung erfolgt dreistufig unter Berücksichtigung des sachlich, räumlich und gegebenenfalls zeitlich relevanten Marktes.
Sachliche Marktabgrenzung
Die sachliche Marktabgrenzung definiert, welche Waren oder Dienstleistungen als austauschbar oder substituierbar angesehen werden. Ausgangspunkt ist das Nachfrageverhalten, ergänzt um funktionelle, technische und preisliche Gemeinsamkeiten. Die Austauschbarkeit wird häufig mit Hilfe des SSNIP-Tests (Small but Significant Non-transitory Increase in Price) überprüft: Gibt es genügend Kunden, die auf einen vergleichbaren Wettbewerber ausweichen würden, wenn das betreffende Produkt um einen geringen Prozentsatz im Preis erhöht wird?
Kriterien der sachlichen Marktabgrenzung:
- Bedarfs- bzw. Nachfrageorientierung: Substituierbarkeit aus Sicht der Nachfrager.
- Angebotsorientierung: Berücksichtigung der Möglichkeit, das Angebot rasch umzustellen.
- Produktmerkmale: Technische, physische oder funktionale Eigenschaften.
Räumliche Marktabgrenzung
Die räumliche Marktabgrenzung beschreibt das geographische Gebiet, in dem die jeweiligen Unternehmen im Wettbewerb stehen. Entscheidend ist, inwieweit Nachfrager und Anbieter in einem bestimmten Gebiet aufeinander treffen und ob der Wettbewerb national, regional oder international wirkt. Dies kann sich je nach Marktstruktur, Logistikkosten, Regelungen oder Kundenpräferenzen unterscheiden.
Relevante Gesichtspunkte:
- Transport- und Lieferkosten
- Sprachliche oder rechtliche Markteintrittsbarrieren
- Regulierung und Zollschranken
Zeitliche Marktabgrenzung
In besonderen Fällen kann auch eine zeitliche Marktabgrenzung erforderlich sein, etwa bei saisonalen Märkten (z.B. Weihnachtsbäume, Ernteprodukte) oder bei Märkten mit spezifischen Angebots- und Nachfragesituationen.
Rechtliche Grundlagen der Marktabgrenzung
Europäisches Recht
Im europäischen Recht ist die Marktabgrenzung insbesondere für die Anwendung der Art. 101 und Art. 102 AEUV sowie der Fusionskontrollverordnung (VO (EG) Nr. 139/2004) von zentraler Bedeutung. Die Europäische Kommission hat hierzu eine eigene Mitteilung zur Definition des relevanten Marktes im Sinn des Wettbewerbsrechts abgegeben (Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, 1997/C 372/03).
Deutsches Recht
Im deutschen Recht ist die Marktabgrenzung in den §§ 18, 19 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) geregelt. Dort erfolgt eine Unterscheidung zwischen sachlich, räumlich und zeitlich relevanten Märkten, um Eingriffe wie die Zusammenschlusskontrolle (§§ 35 ff. GWB) oder die Missbrauchsaufsicht (§ 19 Abs. 4 GWB) sachgerecht vornehmen zu können. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und die Praxis des Bundeskartellamts nehmen auf diese Begriffsdefinitionen regelmäßig Bezug.
Methoden und Verfahren der Marktabgrenzung
Nachfrageseitige Substituierbarkeit
Der SSNIP-Test stellt das zentrale methodische Instrument dar, um nachfrageseitige Austauschbarkeit zu prüfen. Hierbei wird simuliert, ob die Nachfrager bei einer Preiserhöhung eine Ausweichmöglichkeit (Substitutionsgüter) wählen würden.
Angebotsseitige Substituierbarkeit
Neben der Nachfrageseite kann auch die Angebotsseite, das heißt die Fähigkeit und Bereitschaft von Unternehmen, kurzfristig auf einen Markt zu wechseln und Produkte anzubieten, zur Marktabgrenzung herangezogen werden.
Marktanalysen und empirische Verfahren
Regelmäßig werden Marktstudien und empirische Daten, wie Preisverläufe, Nachfragemengen oder Kundenumfragen, als Belege für die Abgrenzung herangezogen.
Bedeutung in der Fusionskontrolle und Missbrauchsaufsicht
Zusammenschlusskontrolle
Im Rahmen von Unternehmenszusammenschlüssen erfolgt die Marktabgrenzung, um die Auswirkungen des Zusammenschlusses auf die Marktstruktur, insbesondere im Hinblick auf die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung (§ 36 GWB, Art. 2 Abs. 3 FKVO), zu prüfen.
Missbrauchsaufsicht
Bei der Missbrauchsaufsicht werden marktrelevante Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens auf ihre Vereinbarkeit mit dem Kartellrecht geprüft. Auch hier ist die Marktabgrenzung zur Feststellung der Marktmacht Grundvoraussetzung.
Rechtsprechung und Praxis
Die Marktabgrenzung wird von Behörden wie dem Bundeskartellamt, der Europäischen Kommission und den Gerichten anhand der o. g. Methoden vorgenommen. Sie ist häufig Gegenstand umfangreicher wirtschaftsanalytischer Untersuchungen und wird im Einzelfall an Marktbedingungen angepasst.
Wichtige Urteile und Entscheidungen:
- EuGH, Rs. 27/76 – United Brands/Kommission: Grundsatzentscheidung über die Kriterien zur sachlichen Marktabgrenzung in der Europäischen Union.
- BGH, Beschl. v. 6.11.2001, KVR 25/00 – Gasversorgung Süddeutschland: Definition und Anwendung der räumlichen Marktabgrenzung.
Relevanz und aktuelle Entwicklungen
Die Bedeutung der Marktabgrenzung hat mit der Digitalisierung und der Entstehung neuer Märkte, insbesondere im Plattformbereich und der Datenwirtschaft, weiter zugenommen. Neue Geschäftsmodelle stellen die traditionelle Marktabgrenzungslogik teils in Frage und erfordern eine Anpassung bewährter Methoden an digitale Märkte, Netzwerk- und Plattformeffekte.
Literatur und weiterführende Hinweise
- Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.): Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Kommentar.
- Europäische Kommission: Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft (97/C 372/03).
- Bundeskartellamt: Leitlinien zur Marktdefinition.
Dieser Artikel bietet eine umfassende Übersicht zur Marktabgrenzung im rechtlichen Kontext und behandelt deren Grundlagen, rechtliche Verankerung, Methoden sowie die praktische Bedeutung unter Einbeziehung aktueller Entwicklungen.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Methoden zur Marktabgrenzung werden in der Praxis angewandt?
Die rechtliche Marktabgrenzung orientiert sich primär an wettbewerbsrechtlichen Vorgaben, insbesondere nach deutschem und europäischem Kartellrecht (insb. § 18 GWB und Art. 102 AEUV). Häufig kommen die Bedarfsmarktmethode, die funktionale Substitutionsprüfung und das sogenannte SSNIP-Test-Verfahren („Small but Significant and Non-transitory Increase in Price“-Test) zur Anwendung. Dabei wird rechtlich festgelegt, welche Produkte, Dienstleistungen oder Regionen als austauschbar gelten, indem geprüft wird, ob ein hinreichender Wettbewerbsdruck besteht. Gerichte und Kartellbehörden nutzen dafür ökonomische Analysen, Nachfrage- und Angebotselastizitäten sowie empirische Daten zum Käuferverhalten. Dabei wird streng darauf geachtet, dass die Abgrenzung sog. Wettbewerbs- und Missbrauchsanalysen ermöglicht und als Grundlage für kartellrechtliche Ermittlungen und Entscheidungen dient.
Welche Rolle spielt die Marktabgrenzung in Fusionskontrollverfahren?
Die Marktabgrenzung ist ein zentrales Element bei der rechtlichen Prüfung von Unternehmenszusammenschlüssen. Sie bestimmt, auf welchem Markt die Auswirkungen eines Zusammenschlusses geprüft werden müssen. Nach § 36 GWB und Art. 2 FKVO (Fusionskontrollverordnung) wird geprüft, ob durch den Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird. Die präzise Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes ist daher Voraussetzung, um die Marktmacht der beteiligten Unternehmen zu bewerten und die wettbewerblichen Auswirkungen, wie Preissteigerungen oder Einschränkungen des Wettbewerbs, einschätzen zu können. Fehlerhafte Marktabgrenzungen können zu fehlerhaften Bewertungen und damit zu rechtswidrigen Genehmigungen oder Untersagungen führen. Die Prüfinstanzen sind daher verpflichtet, methodisch sauber und nachvollziehbar abzugrenzen.
Wie werden digitale Märkte rechtlich abgegrenzt?
Digitale Märkte stellen aufgrund starker Netzwerkeffekte, Mehrseitigkeit und komplexem Plattformverhalten besondere Anforderungen an die Marktabgrenzung. Rechtlich wird auf die Austauschbarkeit von Plattformen, Dienstleistungen oder digitalen Technologien abgestellt. Wichtige Aspekte sind die Wechselkosten der Nutzer, Interdependenzen zwischen Nutzergruppen sowie die Bedeutung von Daten als Wettbewerbsfaktor. Die deutsche und europäische Rechtsprechung sowie die Behörden (z.B. Bundeskartellamt, Europäische Kommission) orientieren sich an spezifischen Leitlinien, um Marktdefinitionen den Besonderheiten digitaler Plattformmärkte anzupassen. Unter anderem werden Parameter wie Zugangsbeschränkungen, Interoperabilität und Innovationsdynamik herangezogen.
Welche Bedeutung hat die geografische Marktabgrenzung im Kartellrecht?
Im Rahmen der geografischen Marktabgrenzung wird rechtlich untersucht, auf welchen räumlich abgegrenzten Märkten Unternehmen tatsächlich im Wettbewerb stehen. Dies ist essenziell, weil Wettbewerbsbedingungen regional unterschiedlich ausgeprägt sein können. Die Behörden definieren in der Regel einen lokalen, nationalen oder internationalen relevanten Markt, wobei sie auf Faktoren wie Transportkosten, staatliche Regulierung, Verbraucherpräferenzen und Marktstruktur abstellen. Beispielsweise kann der Absatzmarkt für Frischmilch lokal begrenzt sein, während der Markt für Elektronikbauteile global abgegrenzt wird. Die geografische Marktabgrenzung bestimmt das Prüffeld für wettbewerbsrechtliche Eingriffe und ist besonders bei Fusionen, Marktmissbrauchsverfahren und der Sektoruntersuchung von Bedeutung.
Können Unternehmen die Marktabgrenzung rechtlich anfechten?
Unternehmen können die Marktabgrenzung im Rahmen kartellrechtlicher Verfahren anfechten, sowohl im Ermittlungsverfahren vor den Wettbewerbsbehörden als auch im gerichtlichen Hauptsacheverfahren. Häufig erfolgt dies durch das Vorbringen ökonomischer Gegengutachten, die alternative Marktabgrenzungen oder abweichende Märkte nahelegen. Rechtlich müssen die Behörden ihre Marktabgrenzung nachvollziehbar und sachlich begründen. Unternehmen können Mängel in der Methodik, Datengrundlage oder im Bewertungsmaßstab rügen. Die Gerichte überprüfen die Entscheidungen der Behörden daraufhin in rechtlicher Hinsicht, wobei sie einen Beurteilungsspielraum der Behörden anerkennen, aber keine Ermessensfehler, Verfahrensfehler oder nachvollziehbare Sachverhaltsirrtümer zulassen.
Welche Bindungswirkung hat die Marktabgrenzung in nachfolgenden Verfahren?
Die im Rahmen eines Ermittlungs-, Fusions- oder Missbrauchsverfahrens vorgenommene Marktabgrenzung entfaltet grundsätzlich keine absolute Bindungswirkung für andere Verfahren. Vielmehr wird in jedem Verfahren eine einzelfallbezogene Marktabgrenzung vorgenommen, da sich marktrelevante Sachverhalte, rechtliche Rahmenbedingungen oder die Marktdynamik zwischenzeitlich ändern können. Es besteht jedoch eine faktische Vorprägung, insbesondere wenn Sachverhalte und Marktstrukturen identisch fortbestehen. In der Praxis greifen Behörden und Gerichte auf frühere Marktabgrenzungen zurück, sofern diese für den aktuellen Fall weiterhin passend erscheinen und sich keine relevanten Änderungen ergeben haben.
Welche Beweise und Daten sind im Zusammenhang mit der rechtlichen Marktabgrenzung von Bedeutung?
Im Rahmen der rechtlichen Marktabgrenzung sind verschiedenste Beweise und Daten heranzuziehen. Zu den wichtigsten zählen Marktforschungsstudien, empirische Nachfragedaten, Unternehmensumsätze nach Produktgruppen und Regionen, Preisentwicklungen, Angebots- und Nachfragesubstitutionstests sowie interne Unternehmensunterlagen (z.B. Marketingunterlagen, Vertriebsstatistiken). Darüber hinaus spielen Aussagen von Marktteilnehmern (z.B. Kundenbefragungen, Stellungnahmen von Wettbewerbern) eine erhebliche Rolle. Die Behörden werten diese Beweise umfassend aus und ziehen dabei auch ökonometrische Modelle zurate, um fundierte und tragfähige Entscheidungen über die Marktdefinition zu treffen.