Begriff und Einordnung: Leben als Schaden
Der Begriff „Leben als Schaden“ bezeichnet eine rechtlich und ethisch kontrovers diskutierte Fragestellung im Bereich des Schadensrechts. Gemeint ist die Konstellation, in der die Geburt eines Kindes, insbesondere nach einer unerwünschten Schwangerschaft, als ein rechtlich relevanter Schaden angesehen wird. Dies betrifft vor allem Situationen, in denen medizinische Behandlungsfehler, mangelhafte Aufklärung oder unterlassene empfohlene Maßnahmen dazu führen, dass eine Schwangerschaft oder eine Geburt nicht verhindert oder abgebrochen wurde. Die Einordnung, ob das Leben eines Kindes selbst als Schaden im Rechtssinne betrachtet werden kann, ist sowohl in der deutschen Rechtsprechung als auch in anderen europäischen Rechtsordnungen hoch umstritten.
Historischer Hintergrund und Entwicklung
Die Diskussion um das Leben als Schaden entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der zunehmenden Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Frau und des medizinischen Fortschritts, insbesondere im Bereich der Pränataldiagnostik und der Empfängnisverhütung. Klagen betroffener Eltern oder des geborenen Kindes führten dazu, dass Gerichte und Rechtswissenschaften sich intensiv mit der Schadensdefinition und deren Grenzen auseinandersetzen mussten. Entscheidend war dabei die Abgrenzung zwischen Schadensersatzansprüchen wegen des Unterlassens verhütender oder abtreibender Maßnahmen und den ethischen Grenzen, die sich aus dem Schutz des Lebens ergeben.
Arten und Fallgruppen
Wrongful Birth
„Wrongful Birth“ bezeichnet Schadensersatzansprüche der Eltern gegen medizinische Dienstleistende, wenn durch fehlerhafte Beratung, Diagnostik oder Behandlung die Geburt eines Kindes nicht verhindert wurde, obwohl dies gewünscht war, beispielsweise aufgrund einer schweren Erkrankung oder genetischen Disposition. Zentrale Streitfrage ist hier, ob und in welchem Umfang den Eltern ein Vermögensschaden durch das ungeplante Leben des Kindes entstanden ist.
Wrongful Life
Unter „Wrongful Life“ versteht man Ansprüche des geborenen Kindes selbst, das geltend macht, aufgrund einer fehlerhaften medizinischen Behandlung oder Unterlassung überhaupt geboren worden zu sein, obwohl sein Leben – etwa wegen schwerster Behinderung – mit erheblichen Belastungen verbunden ist. Die Frage, ob das Leben selbst als Schaden betrachtet werden kann, ist dabei besonders problematisch und wird überwiegend abgelehnt.
Rechtliche Grundlagen im deutschen Schadensrecht
Anspruchsgrundlagen
Im deutschen Recht bilden vor allem § 823 Abs. 1 BGB (Schadensersatzpflicht bei Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter) und § 826 BGB (sittenwidrige vorsätzliche Schädigung) die Grundlage für Ansprüche, die sich auf die Thematik „Leben als Schaden“ beziehen. Zusätzlich können besondere Regelungen, wie das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) und das Gendiagnostikgesetz (GenDG), relevant sein.
Schadensbegriff und Zurechenbarkeit
Im Zentrum steht die Frage, ob das Leben mit einer Behinderung oder einer nicht gewünschten Geburt objektiv als „Nachteil“ im Sinne des § 249 BGB und damit als Schaden qualifiziert werden kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist dabei beim Wrongful-Birth-Fall zwischen dem Interesse der Eltern an Familienplanung und dem grundrechtlichen Schutz des Lebens abzuwägen.
Aktuelle Rechtsprechung
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH (z. B. BGH, Urteil vom 18. März 1986, VI ZR 223/84) ist das Leben – auch bei schwerster Behinderung – kein Schaden im Rechtssinne. Jedoch können Eltern unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten für den Unterhalt und Mehrbedarf eines schwer behinderten Kindes aus Vermögensschadensgesichtspunkten ersetzt verlangen, sofern sie sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegen die Geburt entschieden hätten. Ansprüche des Kindes selbst werden dagegen abgelehnt.
Internationale Rechtslage
Die rechtliche Bewertung des Lebens als Schaden ist international unterschiedlich ausgestaltet. In vielen Rechtsordnungen – u.a. Frankreich, Großbritannien und den USA – gab es teils spektakuläre „Wrongful Life“-Prozesse mit verschiedenen Ergebnissen. Während in den USA einzelne Bundesstaaten solche Ansprüche anerkennen, lehnen sie die Gerichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz grundsätzlich ab.
Ethik und Grundrechte
Ethische Dilemmata
Aus ethischer Sicht ist die Frage, ob Leben selbst einen Schaden darstellen kann, hoch umstritten. Die Idee, das Leben selbst, selbst in schwierigen Umständen, als Schädigung zu begreifen, widerspricht vielfach dem ethischen Grundkonsens des Lebensschutzes und dem Grundrecht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Grundgesetz).
Verhältnis zu Würde und Lebensschutz
Die Versagung von Schadensersatzansprüchen des Kindes selbst beruht im Wesentlichen auf der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Konzept des Lebensschutzes im deutschen Recht.
Literatur und Diskussion
In der Rechtswissenschaft sind zahlreiche Beiträge zu „Leben als Schaden“ erschienen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Thematik, insbesondere der Abgrenzung von Schadensbegriff, Zurechenbarkeit und ethischen Grenzen, befassen. Kontrovers diskutiert wird auch, in welchen Fällen Eltern unterhaltsbezogene Vermögensschäden geltend machen können und wie sich Ansprüche durch § 253 Abs. 2 BGB oder Deliktstatbestände weiterentwickeln könnten.
Zusammenfassung
Der Begriff „Leben als Schaden“ beschreibt einen komplexen Themenbereich an der Schnittstelle zwischen Schadensrecht, Ethik und Grundrechten. Während Eltern in bestimmten Fällen Schadensersatz für den Unterhalt eines ungeplant geborenen oder schwer behinderten Kindes verlangen können, bleibt das Leben selbst im geltenden Recht in Deutschland grundsätzlich vom Schadensbegriff ausgenommen. Die Rechtsentwicklung wird weiterhin von medizinischen, gesellschaftlichen und ethischen Debatten begleitet.
Häufig gestellte Fragen
Wann wird das Leben als Schaden im rechtlichen Sinne betrachtet?
Im rechtlichen Kontext wird das Leben als Schaden in der Regel dann betrachtet, wenn durch eine unerlaubte Handlung das Leben eines Menschen beeinträchtigt oder beendet wird. Nach deutschem Recht gilt grundsätzlich, dass das Leben eines Menschen ein höchstpersönliches Rechtsgut ist und seine Verletzung – insbesondere im Falle des Todes – einen Schaden im Sinne des § 823 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) darstellen kann. Allerdings ist die Besonderheit, dass das Leben selbst als solches nicht „wiederhergestellt“ werden kann und der Tod unmittelbar keine Schadensersatzansprüche zugunsten des Verstorbenen nach sich zieht, sondern Ansprüche auf Hinterbliebene oder andere Dritte übergehen. Maßgeblich ist, dass die Schädigung nicht rein immateriell bleibt, sondern konkrete vermögensrechtliche, etwa Unterhalts- oder Beerdigungskosten, für Angehörige entsteht. Dennoch wird das „Leben als Schaden“ juristisch oftmals unter der Kategorie Schutzwirkungen zugunsten Dritter bzw. sogenannten Angehörigenschäden verhandelt.
Wer ist im Falle einer Schädigung des Lebens anspruchsberechtigt?
Anspruchsberechtigt sind nach deutschem Recht grundsätzlich die Personen, die durch den Tod eines nahen Angehörigen materiell benachteiligt werden, insbesondere Unterhaltsberechtigte gem. § 844 BGB. Hierzu zählen vor allem Ehegatten, Lebenspartner, minderjährige Kinder oder auch Eltern, sofern ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch bestand. Diese Personen können zum Beispiel Ersatz für den entgangenen Unterhalt oder für zu leistende Beerdigungskosten verlangen. Ein immaterieller Schadensersatz (Schmerzensgeld) wird nach § 844 Abs. 3 BGB den Hinterbliebenen dann zugesprochen, wenn ihnen durch den Tod erhebliche seelische Beeinträchtigungen entstanden sind, allerdings ist dies auf einen engen Personenkreis beschränkt. Der Verstorbene selbst hinterlässt keine eigenen Ansprüche auf Schadensersatz wegen seines Todes, diese können nicht vererbt werden.
Welche Schadensarten werden bei der Verletzung des Lebens unterschieden?
Im Kontext der Verletzung des Lebens werden vor allem folgende Schadensarten juristisch unterschieden: Erstens der sogenannte Unterhaltsschaden (§ 844 Abs. 2 BGB), der etwaigen Unterhaltsberechtigten des Getöteten zugutekommt. Zweitens der Beerdigungsschaden (§ 844 Abs. 1 BGB), das heißt die Übernahme der Beerdigungs- und Bestattungskosten durch den Schädiger. Drittens der sogenannte Schockschaden, der Hinterbliebenen zustehen kann, wenn diese durch den Tod eines Angehörigen eine gesundheitliche (meist psychische) Schädigung erleiden; dieser wird als eigener immaterieller Schaden nach § 823 Abs. 1 BGB geltend gemacht. Schließlich können auch Ansprüche aus dem sogenannten Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB) bestehen, der als pauschaler immaterieller Schadensersatz für nahestehende Personen gezahlt wird. Nicht zuletzt können übergeordnet Rentenansprüche als Ersatz für laufende Unterhaltszahlungen bestehen.
Wie wird der immaterielle Schaden („Schmerzensgeld“) bei Tötung geregelt?
Das Schmerzensgeld bei Tötungsdelikten unterlag lange Zeit erheblichen Einschränkungen. Vor dem im Jahr 2017 eingeführten § 844 Abs. 3 BGB hatten Hinterbliebene grundsätzlich keinen eigenen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen des Todes eines Angehörigen – nur bei einer Gesundheitsverletzung infolge eines Schocks kam ein Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB in Betracht. Seit 2017 bestimmt jedoch § 844 Abs. 3 BGB, dass nahestehende Personen (insbesondere Ehepartner, Eltern und Kinder) wegen des Verlustes eines Menschen durch eine unerlaubte Handlung eine angemessene Geldentschädigung verlangen können. Auch wenn der Gesetzgeber eine starre Bezifferung vermieden hat, spricht die Rechtsprechung regelmäßig Schmerzensgelder im unteren fünfstelligen Bereich zu. Die Höhe bemisst sich nach Art, Intensität und Dauer der erlittenen seelischen Beeinträchtigung sowie dem Näheverhältnis zum Verstorbenen.
Inwieweit ist „Leben als Schaden“ im Versicherungsrecht relevant?
Im Versicherungsrecht, insbesondere bei der Haftpflichtversicherung und der Lebensversicherung, spielt die Anerkennung des Lebens als schadensrechtlich relevanter Tatbestand eine zentrale Rolle. Bei einem versicherten Unfalltod können Hinterbliebene Ansprüche aus der Lebensversicherung, etwa als Bezugsberechtigte, geltend machen. Im Haftpflichtbereich muss der Versicherer jenen Schaden ersetzen, zu dessen Ausgleich der Schädiger verpflichtet ist; dies umfasst insbesondere Unterhaltsschäden und Beerdigungskosten, jedoch nicht den Wert des Lebens selbst. Das Versicherungsrecht sieht zudem besondere Regelungen für Ansprüche bei Tötungshandlungen und Selbsttötungen vor. Nicht versicherbar ist jedoch das „bloße Leben“ als solches – vielmehr kann nur der wirtschaftliche und immaterielle Schaden bei den Anspruchsberechtigten abgedeckt werden.
Welche Besonderheiten bestehen im Unterschied zu anderen Rechtsverletzungen wie Körperverletzung oder Sachschaden?
Die Verletzung des Lebens unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Rechtsgütern. Während bei Körperverletzungen der Geschädigte selbst Inhaber der Schadensersatzansprüche ist und diese auch vererbt werden können, führt der Tod einer Person dazu, dass eigene Ansprüche des Verstorbenen erlöschen. Dritte können dann nur im Rahmen der spezialgesetzlichen Regelungen (etwa § 844 BGB) Ersatzansprüche geltend machen. Bei Sachschäden ist regelmäßig unmittelbarer Ersatz durch Naturalrestitution oder Wertersatz möglich; beim Tod einer Person ist nur der durch Dritte erlittene materielle oder immaterielle Folge- und Aussichtsschaden ersatzfähig. Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Rechtsguts „Leben“ ist der Schutz hier besonders ausgestaltet und gesetzlich normiert.
Gibt es Ausnahmen im Hinblick auf die Ersatzfähigkeit des Lebens als Schaden?
Ja, eine zentrale Ausnahme besteht darin, dass das „Leben als solches“ nicht zum Gegenstand eines Schadensersatzanspruches gemacht werden kann. Der Verstorbene selbst kann keinen eigenen Anspruch auf Ersatz seines Lebens geltend machen; dieser erlischt nicht nur mit dem Tod, sondern ist dogmatisch ausgeschlossen. Einen Anspruch auf „Wiederherstellung des Lebens“ gibt es nicht, sodass einzig die aus dem Verlust resultierenden vermögens- und immateriellen Nachteile bei nahestehenden Personen im Mittelpunkt stehen. Darüber hinaus sind auch Strafzahlungen (sog. punitive damages), wie sie etwa im US-amerikanischen Recht existieren, im deutschen Schadensersatzrecht unzulässig.