Begriff und Grundfrage: Was bedeutet „Leben als Schaden“?
„Leben als Schaden“ bezeichnet eine rechtliche Streitfrage, ob und inwieweit das bloße Leben eines Menschen – etwa die Geburt eines Kindes oder das Fortbestehen des Lebens nach einem medizinischen Eingriff – als ersatzfähiger Schaden angesehen werden kann. Der vorherrschende Grundsatz verneint dies: Das Leben gilt als höchstrangiges Rechtsgut und wird nicht als schädlicher Zustand bewertet. Stattdessen wird danach differenziert, ob ersatzfähige Folgen aus einer Pflichtverletzung resultieren, etwa gesundheitliche Beeinträchtigungen, Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts oder finanzielle Mehrbelastungen, die nicht das Leben als solches, sondern konkrete Folgen betreffen.
Abgrenzung: Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung
Rechtlich wird zwischen dem Leben als wertmäßig unantastbarem Gut und konkreten Schäden unterschieden:
- Gesundheitsschaden: körperliche oder seelische Beeinträchtigungen, die kausal auf einen Eingriff oder ein Unterlassen zurückgehen.
- Eingriff in die Fortpflanzungs- und Patientenautonomie: Missachtung von Aufklärungs- oder Einwilligungserfordernissen mit belastenden Folgen.
- Wirtschaftlicher Schaden: konkret messbare Aufwendungen, die durch eine Pflichtverletzung verursacht wurden (z. B. Mehrbedarf, Pflege, Behandlungskosten).
Die Geburt eines Kindes oder das Fortbestehen des Lebens werden damit grundsätzlich nicht als Schaden eingestuft. Ersatzfähig sind jedoch die belastenden Folgen einer Pflichtverletzung, sofern sie zurechenbar sind und im Schutzbereich der verletzten Norm liegen.
Typische Fallgruppen
1) Ungewollte Schwangerschaft nach fehlgeschlagener Empfängnisverhütung („wrongful conception“)
Kommt es etwa nach einer fehlgeschlagenen Sterilisation oder fehlerhafter Verordnung von Verhütungsmitteln zu einer ungewollten Schwangerschaft, stellt sich die Frage, welche Folgen ersatzfähig sind. Üblicherweise sind dies insbesondere Aufwendungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sowie gegebenenfalls immaterielle Beeinträchtigungen. Die gewöhnlichen Unterhaltskosten für ein gesundes Kind werden überwiegend nicht als ersatzfähig angesehen, weil das Leben selbst nicht als Schaden bewertet wird und diese Kosten nicht dem Schutzbereich der verletzten Pflicht zugerechnet werden.
Grenzen der Ersatzfähigkeit
- Zurechnung: Nicht jede kausal verursachte Folge ist zurechenbar; maßgeblich ist der Schutzzweck der verletzten Pflicht.
- Vorteilsausgleichung: Positive immaterielle Aspekte des Eltern-Kind-Verhältnisses werden nicht in Geld bewertet und daher nicht gegengerechnet.
2) Fehlende oder fehlerhafte Aufklärung in der Schwangerschaft („wrongful birth“)
Unterbleibt eine erforderliche pränatale Aufklärung oder Diagnostik, oder wird nicht ordnungsgemäß informiert, kann dies dazu führen, dass Eltern eine Schwangerschaft fortsetzen, die sie bei korrekter Information anders entschieden hätten. In diesem Zusammenhang ist die Anerkennung eines Anspruchs auf Ersatz der besonderen Mehrkosten verbreitet, die aufgrund einer Behinderung des Kindes entstehen. Es geht dabei nicht um das Leben des Kindes als solches, sondern um die durch die Pflichtverletzung verursachte besondere wirtschaftliche Belastung.
Elternansprüche und Umfang des Ersatzes
- Erfasst werden in der Regel der behinderungsbedingte Mehrbedarf (z. B. Pflege, Hilfsmittel, Therapien), nicht jedoch die allgemeinen Unterhaltskosten eines Kindes.
- Neben materiellen Schäden können immaterielle Beeinträchtigungen der Mutter im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt berücksichtigt werden.
3) Ansprüche des Kindes („wrongful life“)
Die Auffassung, das Kind könne wegen seiner Existenz als solcher Ersatz verlangen, wird im Grundsatz abgelehnt. Es gilt als unvertretbar, das Dasein selbst als negativen Vergleichsmaßstab zu verwenden. Das Kind kann jedoch Ansprüche geltend machen, wenn es vor oder bei der Geburt eine eigenständige gesundheitliche Beeinträchtigung erleidet, die kausal auf eine Pflichtverletzung zurückzuführen ist. Dann steht der Gesundheitsschaden im Vordergrund, nicht das Leben an sich.
Alternative Anspruchsperspektiven des Kindes
- Eigenständige Gesundheitsschäden (z. B. fehlerhafte Geburtshilfe, vermeidbare pränatale Schädigung).
- Materielle und immaterielle Folgen, soweit sie auf der Pflichtverletzung beruhen und zurechenbar sind.
4) Lebensverlängernde Behandlung gegen den Willen der betroffenen Person („Überleben als Schaden“)
Auch hier wird das Leben nicht als Schaden angesehen. Gleichwohl können Schäden entstehen, wenn Maßnahmen ohne wirksame Einwilligung durchgeführt oder gegen den erklärten Willen fortgesetzt werden und dadurch Belastungen entstehen. Ersatzfähig sind dann die Folgen der rechtswidrigen Behandlung, etwa Schmerzen, Leidensverlängerung oder wirtschaftliche Aufwendungen. Im Vordergrund stehen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Integrität, nicht die Tatsache des Weiterlebens.
Schadensarten in diesem Kontext
- Immateriell: Schmerz, Leid, Beeinträchtigung der Lebensqualität.
- Materiell: Pflege-, Behandlungs- und Betreuungsaufwand, soweit sie auf der pflichtwidrigen Maßnahme beruhen.
Haftungsrechtliche Kernfragen
Kausalität und hypothetische Entscheidung
In Fällen der ungewollten Schwangerschaft oder unterlassenen Aufklärung ist häufig entscheidend, wie sich die Betroffenen bei pflichtgemäßem Verhalten entschieden hätten. Die Frage der hypothetischen Einwilligung oder Verhaltensalternative spielt eine zentrale Rolle für die Kausalität.
Zurechnung und Schutzbereich
Nicht alle kausal verursachten Folgen sind zurechenbar. Maßgeblich ist, ob die verletzte Pflicht gerade vor den eingetretenen Belastungen schützen sollte. So werden allgemeine Unterhaltskosten eines gesunden Kindes regelmäßig nicht erfasst, während behinderungsbedingte Mehrbedarfe eher dem Schutzbereich pränataler Aufklärungs- und Sorgfaltspflichten zugeordnet werden.
Immaterieller Schaden
Immaterielle Nachteile wie Schmerzen, seelische Belastungen oder Leidensverlängerung können je nach Fallgestaltung ausgleichsfähig sein. Entscheidend ist, dass die Beeinträchtigung auf einer rechtswidrigen und zurechenbaren Pflichtverletzung beruht.
Materieller Schaden: Mehrbedarf, Pflege und Aufwendungen
Materielle Schäden betreffen etwa Pflege-, Therapie- und Hilfsmittelkosten, behinderungsbedingten Mehrbedarf oder zusätzliche Betreuungsaufwendungen. Die gewöhnlichen Lebenshaltungskosten eines gesunden Kindes fallen überwiegend nicht darunter.
Vorteilsausgleichung und Anrechnung Dritter
Sachleistungen oder Zahlungen Dritter (z. B. Kostenträger im Gesundheits- oder Pflegebereich) können die Höhe des zu ersetzenden Schadens beeinflussen. Positive ideelle Aspekte werden grundsätzlich nicht in Geld bewertet. Eine genaue Anrechnung hängt von den Umständen des Einzelfalls und der Zielrichtung der jeweiligen Leistungen ab.
Grundsätzliche Wertungen
Menschenwürde und Unverfügbarkeit des Lebens
Das Leben wird nicht als negative Größe behandelt. Diese Grundentscheidung prägt die Ablehnung, das Dasein als solches als schädlich zu qualifizieren. Der Ausgleich richtet sich auf konkrete, zurechenbare Folgen von Pflichtverletzungen, nicht auf die Existenz selbst.
Differenzierung nach Gesundheit, Selbstbestimmung und Verantwortung
Die rechtliche Bewertung knüpft vorrangig an Gesundheitsschäden, Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts und wirtschaftliche Mehrbelastungen an. Die elterliche Verantwortung und die besondere Schutzwürdigkeit des Kindes fließen in die normative Zurechnung ein, etwa bei der Abgrenzung zwischen allgemeinem Unterhalt und behinderungsbedingtem Mehrbedarf.
Internationale Perspektiven
Unterschiedliche Lösungswege
Rechtsordnungen gehen mit „Leben als Schaden“ unterschiedlich um. Teilweise werden Unterhaltskosten für ein gesundes ungewollt geborenes Kind umfassender ersetzt, teilweise strikter abgelehnt. Ansprüche des Kindes wegen seiner bloßen Existenz werden international überwiegend nicht anerkannt.
Gemeinsame Leitgedanken
Gemeinsam ist vielen Ansätzen: Das Leben selbst ist keine Schadensposition; ersatzfähig sind spezifische, zurechenbare Folgen einer Pflichtverletzung. Besonders geschützt sind Gesundheit und Selbstbestimmung, was sich in der Anerkennung von Mehrbedarfen, immateriellen Nachteilen und Behandlungs- bzw. Pflegekosten zeigt.
Praktische Auswirkungen
Medizinische Aufklärung und Dokumentation
Die Pflicht, vor Eingriffen und in der Schwangerschaft verständlich und vollständig zu informieren, dient der Entscheidungsfreiheit. Dokumentation hilft, Entscheidungen und Alternativen nachvollziehbar zu machen. In Streitfällen kommt es maßgeblich auf Inhalte, Umfang und Zeitpunkt der Aufklärung an.
Versicherung und Kostentragung
In Betracht kommen insbesondere Haftpflicht- und Krankenversicherungen sowie Leistungsträger im Gesundheits- und Pflegebereich. Deren Leistungen können die Schadensbilanz beeinflussen und werden bei der Berechnung vielfach berücksichtigt.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was bedeutet „Leben als Schaden“ im rechtlichen Sinn?
Der Begriff beschreibt die Frage, ob die bloße Existenz eines Menschen als ersatzfähiger Schaden gelten kann. Die überwiegende Auffassung verneint dies. Ersatzfähig sind nicht das Leben, sondern konkret zurechenbare Folgen einer Pflichtverletzung, etwa gesundheitliche Beeinträchtigungen, Verletzungen der Selbstbestimmung oder wirtschaftlicher Mehrbedarf.
Können Eltern die allgemeinen Unterhaltskosten eines ungewollt geborenen gesunden Kindes ersetzt verlangen?
Überwiegend werden allgemeine Unterhaltskosten nicht ersetzt. Begründet wird dies damit, dass das Leben selbst nicht als Schaden gilt und die gewöhnliche elterliche Unterhaltspflicht außerhalb des Schutzbereichs der verletzten Pflicht liegt. Erstattungsfähig sind regelmäßig nur Schwangerschafts- und Geburtsfolgen sowie in besonderen Konstellationen spezifische Mehrbelastungen.
Sind behinderungsbedingte Mehrkosten nach unterbliebener pränataler Aufklärung ersatzfähig?
Ja, vielfach werden die besonderen, behinderungsbedingten Mehrkosten als ersatzfähig angesehen, wenn die Unterlassung der Aufklärung ursächlich dafür war, dass eine von den Eltern gewünschte Entscheidung unterblieb. Es geht um die zusätzlichen Aufwendungen, nicht um die allgemeinen Lebenshaltungskosten.
Hat ein Kind eigene Ansprüche mit der Begründung, sein Leben sei ein Schaden („wrongful life“)?
Solche Ansprüche werden im Grundsatz abgelehnt, weil das Leben nicht als negativ bewertet wird. Eigene Ansprüche des Kindes kommen in Betracht, wenn es unabhängige Gesundheitsschäden erlitten hat, die auf eine Pflichtverletzung vor oder bei der Geburt zurückgehen.
Gibt es Ansprüche bei lebensverlängernder Behandlung gegen den erklärten Willen?
Das Weiterleben wird nicht als Schaden behandelt. Gleichwohl können Schäden aus der rechtswidrigen Maßnahme selbst entstehen, etwa Schmerzen, Leidensverlängerung oder wirtschaftliche Belastungen. Im Mittelpunkt stehen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Integrität.
Wie wird die Kausalität in diesen Fällen geprüft?
Häufig ist zu klären, wie die Betroffenen sich bei ordnungsgemäßem Verhalten entschieden hätten (hypothetische Entscheidung). Ersatz setzt voraus, dass die Pflichtverletzung ursächlich war und die eingetretenen Folgen im Schutzbereich der verletzten Pflicht liegen.
Werden positive Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung gegen den Schaden aufgerechnet?
Ideelle Vorteile wie Freude oder Zuneigung werden nicht in Geld bewertet und daher grundsätzlich nicht gegengerechnet. Maßgeblich sind konkrete, messbare Belastungen, die kausal und zurechenbar auf der Pflichtverletzung beruhen.
Wie wirken sich Leistungen von Dritten auf den Schaden aus?
Leistungen Dritter, etwa Kostenträger im Gesundheits- oder Pflegebereich, können die Höhe der zu ersetzenden Aufwendungen beeinflussen. Die Anrechnung richtet sich nach Zweck und Ausgestaltung der jeweiligen Leistungen und folgt anerkannten Grundsätzen der Vorteilsausgleichung.