Begriff und Abgrenzung: Kunstfehler, ärztliche
Als „ärztlicher Kunstfehler“ wird umgangssprachlich ein Fehlverhalten in der medizinischen Behandlung bezeichnet, das zu einem Gesundheitsschaden führt. In der rechtlichen Darstellung hat sich dafür der Begriff „Behandlungsfehler“ etabliert. Gemeint sind Abweichungen vom allgemein anerkannten fachlichen Standard in Diagnostik, Therapie, Aufklärung oder Organisation einer Behandlung.
Kein Fehler liegt vor, wenn trotz korrekter Vorgehensweise ein unerwünschtes Ergebnis eintritt. Medizinische Maßnahmen sind mit Risiken verbunden, die auch bei sorgfältigem Handeln nicht immer vermeidbar sind. Entscheidend ist daher nicht das Ergebnis, sondern die Einhaltung des geschuldeten Sorgfaltsmaßstabs.
Maßstab der Sorgfalt und anerkannter Standard
Die Beurteilung, ob ein ärztlicher Kunstfehler vorliegt, richtet sich nach dem zum Behandlungszeitpunkt geltenden fachlichen Standard. Dieser ergibt sich aus dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Praxis, wie er in Lehre, Leitlinien, Fachinformationen und gelebten Behandlungsabläufen zum Ausdruck kommt. Leitlinien haben Orientierungscharakter, sind aber nicht in jedem Fall verbindlich. Maßgeblich ist die konkrete Behandlungssituation, einschließlich Dringlichkeit, verfügbarer Mittel und individueller Patientengegebenheiten.
Unterschieden wird zwischen einfachen und groben Fehlern. Ein grober Fehler ist eine eindeutige, aus objektiver Sicht nicht mehr verständliche Verletzung des Standards und kann besondere rechtliche Folgen für die Beweisführung haben.
Typische Fehlerkategorien
Therapiefehler
Abweichungen bei der Behandlung selbst, etwa falsche Medikation, Unterlassen gebotener Maßnahmen, fehlerhafte Operationstechnik oder unzureichende Überwachung.
Befunderhebungsfehler
Unterlassene oder verspätete Diagnosemaßnahmen, fehlende Kontrolle auffälliger Befunde oder Nichtbeachtung von Warnsignalen. Auch die unzureichende Auswertung erhobener Befunde kann hierunter fallen.
Aufklärungsfehler
Unzureichende Information über Art, Umfang, Risiken, Alternativen und Dringlichkeit eines Eingriffs. Ohne wirksame Einwilligung ist ein Eingriff grundsätzlich rechtswidrig, selbst wenn er fachgerecht ausgeführt wird.
Dokumentationsfehler
Lücken oder Unrichtigkeiten in der Patientenakte, etwa fehlende Aufzeichnungen zu Diagnosen, Maßnahmen, Dosierungen oder Einwilligungen. Die Dokumentation dient als Beweismittel für den Behandlungsablauf.
Organisationsverschulden
Mängel in der Praxis- oder Klinikorganisation, beispielsweise unzureichende Hygiene, fehlerhafte Abläufe, fehlende Notfallstrukturen, unklare Verantwortlichkeiten oder unzureichend geschultes Personal.
Beweisführung und Rolle der Dokumentation
Grundsätzlich muss die geschädigte Person das Vorliegen eines Fehlers, einen Gesundheitsschaden und den ursächlichen Zusammenhang darlegen und beweisen. In bestimmten Konstellationen gibt es Erleichterungen:
- Bei groben Behandlungsfehlern kann sich die Beweislast hinsichtlich der Ursächlichkeit zulasten der Behandelnden verschieben.
- Bei der Aufklärung müssen Behandelnde nachweisen, dass eine wirksame Einwilligung auf Grundlage ausreichender Information vorlag.
- Dokumentationsmängel können zu Beweiserleichterungen führen, wenn wesentliche Behandlungsschritte nicht nachvollziehbar festgehalten wurden.
Die Patientenakte ist ein zentrales Beweismittel. Sie muss vollständig und zeitnah geführt werden und den tatsächlichen Ablauf widerspiegeln.
Haftungsträger und Verantwortungsbereiche
Verantwortlich können sowohl einzelne Behandelnde als auch Einrichtungen sein, etwa Krankenhäuser, Medizinische Versorgungszentren oder Gemeinschaftspraxen. In Einrichtungen sind regelmäßig die Träger für Organisationsfragen zuständig, während angestellte Behandelnde für die fachliche Durchführung einstehen. Haftpflichtversicherungen decken typischerweise die finanziellen Folgen berechtigter Ansprüche.
Bei Teambehandlungen und Delegation bestehen Überwachungs- und Koordinationspflichten. Die Verantwortung verteilt sich nach den jeweiligen Aufgaben und Kompetenzen. Auch bei der Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Behandelnden und Kliniken entstehen abgestufte Zuständigkeiten.
Schäden und Ersatzpositionen
Erfasst werden sowohl materielle als auch immaterielle Folgen. Typische Positionen sind:
- Behandlungskosten, Pflege- und Rehabilitationsaufwand, Fahrtkosten
- Erwerbsschaden und Verdienstausfall
- Haushaltsführungsschaden
- Schmerzensgeld für immaterielle Beeinträchtigungen
- Zukünftige Schäden, wenn mit weiteren Nachteilen zu rechnen ist
- Bei Todesfolgen Ansprüche Hinterbliebener auf bestimmte vermögensrechtliche Leistungen
Neben Leistungen zur Kompensation kommt die Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht in Betracht, wenn Spätfolgen möglich sind.
Verfahrenswege und Streitbeilegung
Konflikte werden häufig außergerichtlich unter Einbeziehung der Haftpflichtversicherer geklärt. Eine medizinische Begutachtung spielt eine zentrale Rolle, sei es durch privat eingeholte Gutachten, durch neutrale Stellen oder im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens. In einem Zivilprozess entscheiden Gerichte auf Basis von Beweisaufnahme, insbesondere Sachverständigengutachten und Urkunden, einschließlich der Patientenakte.
Einvernehmliche Streitbeilegung kann durch Vergleich erreicht werden. In manchen Fällen bieten berufsständische Einrichtungen Verfahren zur Schlichtung oder Begutachtung an.
Fristen und Verjährung
Ansprüche unterliegen zeitlichen Grenzen. Üblich ist eine Frist, die mit Kenntnis von Schaden und möglichem Fehlverhalten beginnt und ab einem bestimmten Zeitpunkt endet. Daneben existieren längere Höchstfristen, die unabhängig von der Kenntnis laufen. Maßgeblich ist die Einordnung des Einzelfalls und der Zeitpunkt des Behandlungsereignisses. Die Fristen können je nach Anspruchsart und Konstellation unterschiedlich sein.
Besondere Konstellationen
Notfälle
In akuten Situationen können Handlungs- und Aufklärungsanforderungen eingeschränkt sein. Maßstab bleibt, was nach Lage der Dinge möglich und geboten war.
Einwilligung und besondere Personengruppen
Bei Minderjährigen oder einwilligungsunfähigen Personen sind Vertretungs- und Einwilligungsfragen zu klären. In bestimmten Situationen ist eine mutmaßliche Einwilligung relevant.
Off-Label-Use und Innovation
Bei neuartigen oder nicht zugelassenen Anwendungen gelten erhöhte Anforderungen an Indikationsstellung, Risikoabwägung und Aufklärung. Dokumentation und Begründung sind hier besonders bedeutsam.
Telemedizin und Delegation
Bei digitaler Behandlung und Aufgabenübertragung sind klare Verantwortlichkeiten, ausreichende Qualifikation und gesicherte Kommunikationswege erforderlich. Der fachliche Standard gilt unabhängig vom Behandlungsformat.
Häufig gestellte Fragen
Was ist unter einem ärztlichen Kunstfehler zu verstehen?
Ein ärztlicher Kunstfehler ist eine Abweichung vom anerkannten fachlichen Standard in Diagnostik, Therapie, Aufklärung oder Organisation, die zu einem Gesundheitsschaden führt. Im rechtlichen Sprachgebrauch wird hierfür überwiegend der Begriff Behandlungsfehler verwendet.
Worin liegt der Unterschied zwischen Behandlungsrisiko und Kunstfehler?
Ein Behandlungsrisiko ist ein unerwünschter, auch bei sorgfältigem Vorgehen möglicher Verlauf. Ein Kunstfehler liegt vor, wenn der geschuldete Standard nicht eingehalten wurde. Maßgeblich ist das Vorgehen, nicht allein das Ergebnis.
Welche Behandlungsbereiche sind besonders fehleranfällig?
Häufig genannt werden Befunderhebung und -auswertung, Aufklärung, Arzneimitteltherapie, operative Eingriffe sowie Organisation und Hygiene. Fehler können jedoch in allen Fachrichtungen auftreten.
Wer muss einen Kunstfehler beweisen?
Grundsätzlich trägt die geschädigte Person die Beweislast für Fehler, Schaden und Ursächlichkeit. Ausnahmen bestehen insbesondere bei groben Behandlungsfehlern, bei Dokumentationsmängeln und bei der Aufklärung, für deren ordnungsgemäße Durchführung die Behandelnden einzustehen haben.
Welche Rolle spielt die Patientenakte?
Die Patientenakte dokumentiert den Behandlungsverlauf und ist ein zentrales Beweismittel. Lücken oder Widersprüche können die Beurteilung eines möglichen Fehlers beeinflussen und Beweiserleichterungen zugunsten der geschädigten Person bewirken.
Wer haftet bei Fehlern im Krankenhaus?
Je nach Konstellation kommen einzelne Behandelnde und der Träger der Einrichtung in Betracht. Neben persönlicher Verantwortung spielt die Verantwortung für Organisation, Abläufe und Auswahl des Personals eine Rolle. Üblicherweise besteht Haftpflichtversicherungsschutz.
Welche Ansprüche können bei einem Kunstfehler bestehen?
In Betracht kommen Ersatz materieller Schäden wie Behandlungskosten, Pflege- und Rehabilitationsaufwand, Verdienstausfall sowie immaterielle Ansprüche wie Schmerzensgeld. Bei Todesfolgen können Hinterbliebene unter bestimmten Voraussetzungen eigene Ansprüche haben.
Welche Fristen sind relevant?
Ansprüche verjähren nach bestimmten Zeiträumen. Üblich ist eine kenntnisabhängige Frist und daneben eine Höchstfrist, die unabhängig von der Kenntnis läuft. Der genaue Beginn und die Dauer richten sich nach Art des Anspruchs und den Umständen des Einzelfalls.