Begriff und Definition der Kindesentziehung
Kindesentziehung bezeichnet im deutschen Recht die widerrechtliche Entziehung eines minderjährigen Kindes von einer sorgeberechtigten Person beziehungsweise die Vereitelung der Ausübung des Sorge- oder Umgangsrechts. Der Begriff ist vornehmlich strafrechtlich und familienrechtlich relevant und findet sich im Kern in § 235 Strafgesetzbuch (StGB). Die Kindesentziehung stellt einen massiven Eingriff in das Elternrecht sowie das Kindeswohl dar und ist in verschiedenen Fallgestaltungen rechtlich geregelt.
Strafrechtliche Regelungen
Gesetzliche Grundlage
Die strafrechtliche Norm zur Kindesentziehung findet sich in § 235 StGB. Danach wird bestraft, wer ein Kind, das unter achtzehn Jahren alt ist, den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger widerrechtlich entzieht oder vorenthält. Dies schließt auch Fälle der Vereitelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ein. Die Bestimmung dient dem Schutz des elterlichen Sorgerechts und des kindlichen Wohls.
Tatbestandsmerkmale
Tathandlung
Die Kindesentziehung kann durch verschiedene Handlungen erfolgen, insbesondere durch
- das aktive Wegbringen des Kindes von einer berechtigten Person,
- die Verbringung an einen unbekannten Ort oder ins Ausland,
- die Hinderung am Kontakt mit berechtigten Sorge- oder Umgangspersonen,
- das Verleitung oder Veranlassen zur ungenehmigten Entfernung.
Täterkreis
Als Täter kommen Dritte, der sorgeberechtigte Elternteil selbst oder sonstige Personen (z. B. Verwandte, Bekannte) in Betracht, sofern sie keine eigenen Sorgerechte innehaben und widerrechtlich handeln.
Rechtswidrigkeit
Die Handlung ist dann widerrechtlich, wenn sie gegen die berechtigten Sorgerechte eines Elternteils, Vormunds oder Pflegers verstößt. Eine tatsächliche Gefährdung des Kindeswohls kann hierbei maßgeblich für die Bewertung der Rechtswidrigkeit sein.
Strafmaß und Rechtsfolgen
Kindesentziehung nach § 235 Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Liegen erschwerende Umstände vor, wie das Entziehen gegen Entgelt (§ 235 Abs. 2 StGB) oder das Verbringen ins Ausland, ist auch eine höhere Strafe möglich.
Versuch, Vollendung und Rücktritt
Bereits der Versuch der Kindesentziehung ist strafbar. Ein Rücktritt nach §§ 23, 24 StGB kann eine strafmildernde Wirkung entfalten, sofern der Täter freiwillig von seinem Vorhaben ablässt und das Kind an die berechtigte Person zurückführt.
Familienrechtliche Aspekte
Sorgerecht und Aufenthaltsbestimmungsrecht
Im deutschen Familienrecht ist das Sorgerecht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), insbesondere in den §§ 1626 ff. BGB, geregelt. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht, als Teil des Sorgerechts, ist zentral bei der Beurteilung von Kindesentziehungen.
Berechtigte Personen
- Eltern (insbesondere nach Trennungen/Scheidungen)
- Vormund oder Ergänzungspfleger
- Das Jugendamt bei vorläufiger Inobhutnahme
Umgangsrecht
Auch das Umgangsrecht, geregelt in § 1684 BGB, ist geschützt. Die Entziehung zur Vereitelung des Umgangs eines berechtigten Elternteils kann eine Form der Kindesentziehung darstellen.
Internationale Kindesentziehung (Haager Übereinkommen)
Bei grenzüberschreitenden Fällen, vor allem wenn ein Kind ins Ausland verbracht wird, greift das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ). Ziel ist die schnelle Rückführung des Kindes und die effektive Wiederherstellung des status quo ante. Das HKÜ verpflichtet die Vertragsstaaten zur Zusammenarbeit und schnellen Bearbeitung entsprechender Anträge.
Zuständigkeiten und Verfahren
In Deutschland übernimmt das Bundesamt für Justiz die zentrale Rolle als Anlaufstelle nach dem HKÜ. Die Rückführung muss grundsätzlich unverzüglich, spätestens innerhalb von sechs Wochen, erfolgen, sofern kein Risiko für das Kindeswohl besteht.
Zivilrechtliche und verwaltungsrechtliche Konsequenzen
Die Kindesentziehung kann zivilrechtliche Schritte nach sich ziehen, wie
- Entzug oder Einschränkung des Sorgerechts nach § 1666 BGB,
- Maßnahmen der Gefahrenabwehr durch das Jugendamt nach § 42 SGB VIII,
- Geltendmachung von Umgangsrechten,
- Schadenersatzforderungen gegenüber dem Entziehenden.
Kindeswohl und Schutzmaßnahmen
Eingriffe und Maßnahmen
Gerichte müssen bei drohender Kindesentziehung regelmäßig das Kindeswohl (§ 1697a BGB) vorrangig prüfen. Mögliche Maßnahmen umfassen die Anordnung der Herausgabe des Kindes, Sorgerechtsübertragungen sowie ggf. Anordnung einer Beschränkung des Umgangs- oder Aufenthaltsbestimmungsrechts.
Präventive Schutzinstrumente
Zur Verhinderung von Kindesentziehungen ist unter anderem möglich:
- Anlassbezogene Ausreisebeschränkungen für Kinder (§ 45 PassG)
- Meldung bei Einwohnermeldeämtern und Kinderschutzdiensten
- Einbeziehung von Jugendamt und Polizei bei akuter Gefahr
Abgrenzung zu anderen Delikten
Kindesentziehung ist von verwandten Straftatbeständen abzugrenzen, insbesondere
- § 1541 BGB (Entziehung Minderjähriger im Sinne der Vormundschaft)
- § 239 StGB (Freiheitsberaubung)
- § 234 StGB (Menschenraub bei vollendeter Entführung)
Bedeutung in Rechtsprechung und Praxis
Kindesentziehungen haben regelmäßig hohe praxisrelevanz und werden sowohl strafrechtlich als auch familiengerichtlich intensiv verfolgt. Sie sind oftmals Folge von Trennungskonflikten oder Sorgerechtsstreitigkeiten. Die Gerichte legen hierbei einen besonderen Fokus auf die Wahrung des Kindeswohls und die Sicherstellung unmittelbarer Maßnahmen zur Rückführung des entführten Kindes.
Zusammenfassung
Kindesentziehung ist eine schwerwiegende Verletzung der elterlichen Rechte und des Kindeswohls. Das deutsche Recht bietet mit strafrechtlichen, zivilrechtlichen und internationalen Instrumenten umfassenden Schutz. Maßgebliches Ziel ist stets die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands und der Schutz des betroffenen Kindes vor weiteren Nachteilen.
Literatur und weiterführende Normen
- § 235 StGB – Kindesentziehung
- §§ 1626 ff., 1666, 1684 BGB – Sorgerecht und Umgangsrecht
- Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ)
- § 45 PassG – Ausreisebeschränkungen
- § 42 SGB VIII – Inobhutnahme durch das Jugendamt
Häufig gestellte Fragen
Welche strafrechtlichen Konsequenzen drohen bei Kindesentziehung?
Kindesentziehung stellt nach deutschem Recht eine Straftat dar, die insbesondere im § 235 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt ist. Demnach macht sich strafbar, wer einem Elternteil, dem Sorgerecht oder dem Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind zusteht, das Kind gegen dessen Willen entzieht oder vorenthält. Zu den strafrechtlichen Konsequenzen gehören Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Handelt der Täter sogar in der Absicht, das Kind für längere Zeit oder dauerhaft zu entziehen, oder wird durch die Tat eine Gefahr für das Wohl des Kindes herbeigeführt, kann das Strafmaß erheblich steigen. Außerdem sind auch Versuch und Beihilfe strafbar. Darüber hinaus kann ein Gericht als Nebenfolge weitere Maßnahmen wie ein Annäherungsverbot oder Auflagen im Hinblick auf das Umgangsrecht anordnen.
Welche Maßnahmen können die Behörden bei einem Verdacht auf Kindesentziehung ergreifen?
Bei einem konkreten Verdacht auf Kindesentziehung sind Polizei, Jugendamt und Familiengericht berechtigt und verpflichtet, sehr schnell zu reagieren. Die Polizei kann eine Fahndung nach dem Kind und dem mutmaßlichen Täter einleiten, einschließlich der Ausschreibung zur Fahndung oder – wenn erforderlich – einer internationalen Fahndung (zum Beispiel durch Interpol). Das Jugendamt kann zum Schutz des Kindes vorübergehende Maßnahmen nach § 42 SGB VIII treffen, etwa eine Inobhutnahme. Das Familiengericht kann auf Antrag eines Sorgeberechtigten einstweilige Anordnungen treffen, beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf eine Person übertragen, Ortungsmaßnahmen anordnen oder eine Herausgabeanordnung gegen den Entzieher erlassen. Im internationalen Kontext können auch grenzüberschreitende Maßnahmen wie das Haager Kindesentführungsübereinkommen greifen.
Welche Rolle spielt das Familiengericht bei der Klärung von Kindesentziehungen?
Das Familiengericht ist bei Fällen von Kindesentziehung eine zentrale Instanz. Es kann auf Antrag des sorgeberechtigten Elternteils oder einer Behörde zeitnah eine Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht treffen und gegebenenfalls eine Herausgabeanordnung gemäß § 1632 BGB erlassen. Das Gericht prüft dazu die Umstände des Einzelfalls sorgfältig und ordnet Maßnahmen an, die dem Kindeswohl dienen. Im Rahmen internationaler Entziehungen entscheidet das Familiengericht zudem über die Rückführung eines unrechtmäßig ins Ausland verbrachten Kindes nach internationalen Übereinkommen. Oft werden dabei das Jugendamt, das Auswärtige Amt und weitere Stellen beteiligt. Das Familiengericht sorgt auch für die Durchsetzung seiner Entscheidungen, gegebenenfalls mit Unterstützung der Vollstreckungsorgane.
Welche Bedeutung kommt dem Aufenthaltsbestimmungsrecht bei Kindesentziehung zu?
Das Aufenthaltsbestimmungsrecht ist ein Teil des elterlichen Sorgerechts und von zentraler Bedeutung im Kontext der Kindesentziehung. Es entscheidet darüber, bei welchem Elternteil beziehungsweise an welchem Ort das Kind leben darf. Wird dieses Recht durch eine Kindesentziehung verletzt – also indem ein Elternteil das Kind ohne Zustimmung des berechtigten Elternteils an einen anderen Ort bringt oder dort festhält -, kann dies sowohl zivilrechtliche als auch strafrechtliche Folgen haben. Das Familiengericht kann das Aufenthaltsbestimmungsrecht einem Elternteil entziehen und befristet oder dauerhaft auf den anderen Elternteil übertragen. Dies ist insbesondere im Interesse des Kindeswohls möglich, etwa wenn durch die Entziehung eine Kindeswohlgefährdung festgestellt wird.
Sind grenzüberschreitende Kindesentziehungen anders zu behandeln als innerstaatliche Fälle?
Ja, grenzüberschreitende Kindesentziehungen unterliegen in der Regel einem anderen Verfahrensablauf als innerstaatliche Fälle. Bei internationalen Fällen kommen völkerrechtliche Abkommen wie das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) zur Anwendung. Ziel ist es, das Kind möglichst rasch in das Land zurückzuführen, aus dem es unrechtmäßig verbracht wurde. Die zentrale Behörde in Deutschland – das Bundesamt für Justiz – unterstützt die betroffenen Eltern bei Anträgen und koordinierenden Maßnahmen, um die Rückführung oder Rückgabe zu erwirken. Parallel können auch strafrechtliche Maßnahmen ergriffen und internationale Haftbefehle erlassen werden. Das Verfahren muss beschleunigt behandelt werden; das Kindeswohl bleibt dabei immer oberste Richtschnur.
Wie erfolgt die Rückführung eines unrechtmäßig entführten Kindes?
Die Rückführung eines unrechtmäßig entführten Kindes erfolgt in der Regel über ein gerichtliches Antragsverfahren, insbesondere im internationalen Kontext nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen. Die antragstellende Partei (in der Regel der zurückbleibende Elternteil) wendet sich an die zentrale Behörde des jeweiligen Landes, so in Deutschland das Bundesamt für Justiz. Das zuständige Gericht prüft unter Beachtung der Fristen, ob eine unrechtmäßige Verbringung bzw. ein unrechtmäßiges Zurückhalten im Sinne des HKÜ vorliegt. Liegen keine Ausnahmetatbestände (zum Beispiel schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls oder eigene Zustimmung des Kindes bei entsprechender Reife) vor, wird die Rückführung des Kindes in den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts angeordnet. Auch Gerichtsentscheidungen anderer EU-Mitgliedstaaten können anerkannt und vollstreckt werden (vgl. Brüssel IIa-Verordnung).
Welche Rechte haben betroffene Elternteile im juristischen Verfahren?
Betroffene Elternteile haben im gesamten Verfahren verschiedene, rechtlich verankerte Rechte. Sie können gerichtlichen Rechtsschutz beantragen, zum Beispiel durch Antragstellung auf Erlass einer Herausgabeanordnung beim Familiengericht oder im internationalen Kontext den Antrag bei der zentralen Behörde. Sie haben das Recht auf rechtliches Gehör und anwaltlichen Beistand, auf Akteneinsicht sowie auf faire und zügige Behandlung ihres Falles. Darüber hinaus steht ihnen die Möglichkeit offen, in Eilfällen einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen. Im Strafverfahren können betroffene Elternteile als Nebenkläger auftreten, was ihnen gesonderte Mitwirkungsrechte im Strafprozess sichert. Auch Schadensersatzansprüche können unter bestimmten Voraussetzungen geltend gemacht werden.