Inventur: Bedeutung, Zweck und rechtliche Einordnung
Die Inventur ist die systematische, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen abgegrenzten Zeitraum durchgeführte Erfassung aller Vermögenswerte und Schulden eines Unternehmens. Sie bildet die tatsächliche Grundlage für das Inventar (Bestandsverzeichnis) und die Bilanz. Im deutschen Handels- und Steuerrecht gilt die Inventur als zentrales Instrument der Rechnungslegung, der Dokumentation und der Nachprüfbarkeit wirtschaftlicher Verhältnisse.
Funktionen der Inventur
- Bestandsnachweis: Ermittlung der tatsächlichen Mengen und Werte von Vermögensgegenständen und Schulden.
- Bilanzgrundlage: Bereitstellung der Bestands- und Bewertungsdaten für Jahresabschluss und Lageberichte.
- Steuerliche Relevanz: Ermittlung der Werte, die in die steuerliche Gewinnermittlung einfließen.
- Kontrollfunktion: Aufdeckung von Schwund, Schäden, Fehleinlagerungen oder Bewertungsabweichungen.
- Nachvollziehbarkeit: Belegfunktion gegenüber Aufsichts-, Finanz- und Prüfungseinrichtungen.
Inventurpflicht und Anwendungsbereich
Inventurpflichtig sind grundsätzlich Unternehmen, die Bücher führen und Abschlüsse aufstellen. Die Pflicht umfasst den Beginn der unternehmerischen Tätigkeit, den Schluss jedes Geschäftsjahres sowie besondere Anlässe wie Umwandlungen, Übernahmen oder die Beendigung der Tätigkeit. Für Kleinstunternehmen können gesetzliche Erleichterungen bestehen, die den Umfang der Aufzeichnungspflichten beeinflussen.
Zeitpunkt und Häufigkeit
Die Inventur erfolgt in der Regel jährlich zum Ende des Geschäftsjahres (Stichtagsinventur). Zulässig sind bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen zeitlich vor- oder nachverlegte Inventuren innerhalb eines gesetzlich anerkannten Zeitfensters sowie permanente Inventuren, bei denen über das Jahr hinweg laufend bestandsgeführt wird. Die Wahl der Methode erfordert eine eindeutige Zuordnung zu Stichtag und Periode sowie eine lückenlose Dokumentation.
Arten der Inventur
Körperliche Inventur
Physische Bestandsaufnahme durch Zählen, Messen oder Wiegen von gegenständlichen Vermögenswerten (z. B. Vorräte, Werkzeuge, Anlagegüter). Grundlage sind Inventurlisten oder digitale Erfassungssysteme, die Ort, Menge, Bezeichnung und Identifikationsmerkmale festhalten.
Buchmäßige Inventur
Erfassung nicht körperlicher Positionen (z. B. Forderungen, Bankguthaben, Schulden, Rückstellungen) anhand von Belegen, Kontenabstimmungen und Saldenbestätigungen. Hier steht die Beleg- und Nachweisführung im Vordergrund.
Stichtagsinventur
Erhebung sämtlicher Bestände am Abschlussstichtag. Abgrenzungen für Zugänge und Abgänge, die zeitnah um den Stichtag herum erfolgen, werden dokumentiert und rechnerisch berücksichtigt.
Zeitlich verlegte Inventur
Vor- oder nachgelagerte Bestandsaufnahme in einem engen Zeitraum zum Bilanzstichtag. Erforderlich sind nachvollziehbare Fortschreibungs- oder Rückrechnungen auf den Stichtag.
Permanente Inventur
Laufende mengenmäßige Erfassung im Waren- oder Materialwirtschaftssystem, ergänzt um regelmäßige körperliche Kontrollen. Jede Position wird innerhalb eines Jahres physisch überprüft.
Stichprobeninventur
Statistisch abgesicherte Bestandsaufnahme auf Basis repräsentativer Stichproben. Voraussetzung sind geeignete Verfahren, eine belastbare Datenbasis und eine nachvollziehbare Hochrechnung auf den Gesamtbestand.
Umfang: Was gehört zur Inventur?
Vermögenswerte
Vorräte
Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, unfertige und fertige Erzeugnisse sowie Handelswaren. Zu erfassen sind Art, Menge, Lagerort und Identifikationsmerkmale.
Sachanlagen
Maschinen, technische Anlagen, Betriebs- und Geschäftsausstattung, Grundstücke und Gebäude. Es erfolgt eine Bestands- und Zustandsfeststellung sowie die Zuordnung zu Inventarnummern.
Immaterielle Werte
Beispielsweise Software oder gewerbliche Schutzrechte. Die Erfassung erfolgt buchmäßig anhand von Nachweisen und Verträgen.
Liquide Mittel und Finanzanlagen
Bargeld, Bankguthaben, Beteiligungen und Wertpapiere. Nachweise beruhen auf Kassenberichten, Kontoauszügen und Bestätigungen.
Schulden und sonstige Verpflichtungen
Verbindlichkeiten
Aus Lieferungen und Leistungen, Darlehen sowie sonstige finanzielle Verpflichtungen inklusive ihrer Fälligkeitsstruktur.
Rückstellungen
Ungewisse Verbindlichkeiten und drohende Verluste aus schwebenden Geschäften werden buchmäßig erfasst und begründet dokumentiert.
Besonderheiten bei der Zuordnung
Fremdeigentum und Kommissionsware
Waren Dritter im eigenen Lager sind getrennt zu kennzeichnen und nicht als eigenes Vermögen auszuweisen. Eigene Ware bei Dritten ist aufzunehmen.
Miet-, Leih- und Leasinggüter
Die Zuordnung richtet sich nach den wirtschaftlichen Gegebenheiten und den zugrunde liegenden Verträgen; eine klare Kennzeichnung ist erforderlich.
Eigentumsvorbehalt
Waren unter Eigentumsvorbehalt werden je nach Übergang von Besitz, Gefahr und wirtschaftlicher Zuordnung behandelt und gesondert dokumentiert.
Außenlager und Streckengeschäfte
Bestände in Drittlandslagern, Konsignationslagern oder im Transit werden in die Bestandsfeststellung einbezogen, sofern wirtschaftlich zugehörig.
Bewertung im Rahmen der Inventur
Die Inventur liefert Mengen- und Identifikationsdaten; die Bewertung erfolgt nach den maßgeblichen Rechnungslegungsgrundsätzen. Üblich sind Anschaffungs- oder Herstellungskosten als Ausgangsbasis. Bei Vorräten finden anerkannte Verbrauchsfolgeverfahren (z. B. FIFO, LIFO, Durchschnitt) Anwendung, abhängig von den zulässigen Rechnungslegungsregeln. Für gleichartige Massenartikel können Gruppenbewertungen zulässig sein; für langlebige, in Menge und Wert nur gering schwankende Güter kommen Festwerte in Betracht. Forderungen werden unter Berücksichtigung von Ausfallrisiken wertberichtigt. Bei Anzeichen einer Wertminderung gilt der Grundsatz vorsichtiger Bewertung.
Organisation und Dokumentation
Form der Inventurerfassung
Verwendet werden Inventurlisten in Papierform oder digitale Erfassungssysteme. Erforderlich sind eindeutige Angaben zu Datum, Lagerort, Bezeichnung, Menge, Einheit, Identifikation, Erfassungsweg und die Zuordnung zu verantwortlichen Personen.
Nachweis- und Aufbewahrungspflichten
Die Inventurunterlagen müssen vollständig, richtig, zeitgerecht und nachvollziehbar sein. Änderungen sind kenntlich zu machen und zu begründen. Eine Aufbewahrungsfrist von grundsätzlich zehn Jahren ist vorgesehen, auch für elektronische Unterlagen mit prüfbarer Unveränderbarkeit.
Zuständigkeit und Verantwortung
Die Gesamtverantwortung liegt bei der Unternehmensleitung. Aufgaben können organisatorisch delegiert werden, etwa an eine Inventurleitung und Zählteams. Üblich sind unabhängige Kontrollen, Plausibilitätsprüfungen und das Vier-Augen-Prinzip, um Interessenkonflikte zu vermeiden und die Verlässlichkeit der Ergebnisse zu erhöhen.
Abgrenzung: Inventur, Inventar, Bilanz
Die Inventur ist der Prozess der Bestandsaufnahme. Das Inventar ist das detaillierte, aus der Inventur abgeleitete Verzeichnis aller Vermögenswerte und Schulden. Die Bilanz ist eine zusammengefasste Gegenüberstellung von Vermögen und Kapital zu einem Stichtag in Kontenform mit Bewertung nach den maßgeblichen Grundsätzen.
Folgen von Inventurfehlern oder Pflichtverstößen
Unvollständige oder fehlerhafte Inventuren können zu falschen Beständen und Bewertungen führen und damit Bilanz und steuerliche Ergebnisse beeinträchtigen. Mögliche Folgen sind Beanstandungen in Abschlussprüfungen, Hinzuschätzungen durch Finanzbehörden, Ordnungswidrigkeitenverfahren sowie haftungsrechtliche Risiken bei unrichtiger Berichterstattung. Korrekturen erfolgen grundsätzlich in der Rechnungslegung der betroffenen Periode oder durch Berichtigung in der Folgeperiode, abhängig von Art und Bedeutung der Abweichung.
Besondere Konstellationen
Gründung, Umwandlung und Beendigung
Bei Aufnahme, Umgestaltung oder Beendigung der unternehmerischen Tätigkeit dient die Inventur der Abgrenzung von Vermögenslage und Erfolg zwischen den betroffenen Zeiträumen.
Branchenspezifika
Im Handel spielen Mengenerfassung und Schwundkontrolle eine besondere Rolle; in der Produktion stehen Halbfertigwaren, Eigenleistungen und komplexe Materialflüsse im Fokus.
Digitalisierte Verfahren
Barcode-, RFID- und ERP-gestützte Inventursysteme sind verbreitet. Rechtlich maßgeblich bleiben Nachvollziehbarkeit, Vollständigkeit, Unveränderbarkeit und die Möglichkeit der Prüfung.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wer ist zur Inventur verpflichtet?
Inventurpflichtig sind Unternehmen, die Bücher führen und Abschlüsse erstellen. Dazu zählen regelmäßig kaufmännisch geführte Betriebe. Für kleinere Unternehmen können Erleichterungen bestehen, die den Umfang der Inventur beeinflussen.
Wie oft ist eine Inventur durchzuführen?
Üblich ist die jährliche Durchführung zum Ende des Geschäftsjahres. Zusätzlich ist eine Inventur zu Beginn der Tätigkeit sowie bei besonderen Anlässen wie Umwandlung oder Beendigung der Tätigkeit erforderlich.
Welche Inventurarten sind zulässig?
Zugelassen sind insbesondere die Stichtagsinventur, die zeitlich vor- oder nachverlegte Inventur, die permanente Inventur sowie bei geeigneter statistischer Absicherung die Stichprobeninventur.
Welche Unterlagen müssen aufbewahrt werden und wie lange?
Aufzubewahren sind Inventurlisten, Bewertungsnachweise, Abstimmungsunterlagen, Protokolle und Verfahrensdokumentationen. Die Aufbewahrungsfrist beträgt grundsätzlich zehn Jahre, auch für elektronische Unterlagen.
Wie sind Vorräte rechtlich zu bewerten?
Vorräte werden grundsätzlich zu Anschaffungs- oder Herstellungskosten angesetzt. Bei zulässigen Verfahren kommen FIFO, LIFO oder Durchschnittsbewertung in Betracht. Bei Wertminderungen ist eine vorsichtige Bewertung zu beachten.
Wie sind fremde Waren im Lager zu behandeln?
Fremde Waren sind getrennt zu kennzeichnen und nicht als eigenes Vermögen zu erfassen. Eigene Ware bei Dritten ist aufzunehmen, sofern sie wirtschaftlich zuzuordnen ist.
Welche Folgen hat eine fehlerhafte oder fehlende Inventur?
Fehlerhafte oder fehlende Inventuren können zu unzutreffenden Abschlüssen und steuerlichen Konsequenzen führen. Mögliche Folgen sind Beanstandungen, Hinzuschätzungen und ordnungsrechtliche Maßnahmen.
Ist eine Stichprobeninventur anerkannt?
Eine Stichprobeninventur ist anerkannt, wenn ein geeignetes statistisches Verfahren eingesetzt wird, das repräsentative Ergebnisse liefert und die Hochrechnung auf den Gesamtbestand nachvollziehbar macht.