Legal Lexikon

Inventur


Begriff und rechtlicher Rahmen der Inventur

Die Inventur ist im deutschen Handels- und Bilanzrecht ein zentrales Instrument zur Erfassung und Bewertung aller Vermögensgegenstände und Schulden eines Unternehmens zu einem bestimmten Stichtag. Sie dient der Ermittlung des tatsächlichen Vermögensbestands und ist gesetzlich vorgeschrieben. Die Durchführung der Inventur bildet die Grundlage für die Erstellung des Inventars sowie der Bilanz und erfüllt wesentliche Nachweis- und Dokumentationspflichten im Rahmen der Rechnungslegung.

Gesetzliche Grundlagen

Handelsgesetzbuch (HGB)

Die wesentlichen Vorschriften zur Inventur finden sich im Handelsgesetzbuch (HGB). Gemäß § 240 Abs. 1 HGB ist jeder Kaufmann verpflichtet, zu Beginn des Handelsgewerbes und für den Schluss eines jeden Geschäftsjahrs ein sogenanntes Inventar aufzustellen, welches sämtliche Vermögensgegenstände und Schulden des Unternehmens nach Art, Menge und Wert einzeln aufführt. Das Inventar muss die Grundlage für die Bilanzierung bilden.

§ 240 HGB – Pflichten zur Inventur

  • Eröffnungsinventur: Zu Beginn der Geschäftstätigkeit, bei Neueröffnung oder Übernahme eines Handelsgeschäfts.
  • Schlussinventur: Für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres.
  • Wertansätze: Die Erfassung muss sich auf Einzelbewertung, Menge, Art und Wert erstrecken.

Steuerrechtliche Vorgaben

Auch das Steuerrecht, insbesondere das Einkommensteuergesetz (EStG) und die Abgabenordnung (AO), schreibt im Rahmen der ordnungsmäßigen Buchführung (§ 140, 141 AO) die Durchführung einer Inventur vor. Für steuerpflichtige Unternehmen gilt dabei die strikte Einhaltung der Inventurvorschriften als Voraussetzung für die Anerkennung der Buchführung.

Formen der Inventur

Stichtagsinventur

Die klassische Form ist die Stichtagsinventur, bei der am Bilanzstichtag oder innerhalb einer zeitlich begrenzten Frist (regelmäßig 10 Tage vor oder nach dem Stichtag) eine vollständige Bestandsaufnahme durchgeführt werden muss.

Permanente Inventur

Bei der permanenten Inventur erfolgt die Erfassung der Bestände laufend während des Geschäftsjahres, sodass der Bestand am Bilanzstichtag aus den Aufzeichnungen ermittelt werden kann. Diese Methode ist unter bestimmten Voraussetzungen zulässig (§ 241 Abs. 2 HGB).

Verlegte und Vor- oder Nachverlegte Inventur

Die verlegte Inventur (auch: vor- oder nachverlegte Inventur) erlaubt es, die Aufnahme der Bestände zu einem von Bilanzstichtag abweichenden Zeitpunkt vorzunehmen, sofern die Bestandsveränderungen zwischen Inventurdatum und Bilanzstichtag ordnungsgemäß dokumentiert und berücksichtigt werden.

Stichprobeninventur

Unter bestimmten Voraussetzungen gestatten die gesetzlichen Regelungen die sogenannte Stichprobeninventur (§ 241 Abs. 1 HGB), die auf mathematisch-statistischen Verfahren basiert und insbesondere bei großvolumigen, gleichartigen Beständen Anwendung findet.

Umfang und Inhalt der Inventur

Inventurpflichtige Vermögensgegenstände und Schulden

Die Inventur umfasst sämtliche zum Unternehmen gehörenden Vermögensgegenstände (z.B. Waren, Rohstoffe, fertige und unfertige Erzeugnisse, Maschinen, Bankguthaben) sowie sämtliche bestehenden Verbindlichkeiten und Rückstellungen. Nicht bilanzierbare Werte oder außerhalb der Bilanz stehende Sachverhalte werden nicht erfasst.

Bewertungsvorschriften

Für die Bewertung der erfassten Bestände sind die Vorschriften des HGB maßgeblich. Dabei kommen für die unterschiedlichen Vermögenspositionen spezielle Bewertungsmaßstäbe zur Anwendung, beispielsweise das Niederstwertprinzip bei Umlaufvermögen und das Anschaffungs- oder Herstellungskostenprinzip bei Anlagevermögen.

Einzelbewertung

Vermögensgegenstände und Schulden sind grundsätzlich einzeln zu bewerten. Nur unter bestimmten Bedingungen (bei gleichartigen Vorräten) kann die Gruppen- oder Sammelbewertung angewandt werden (§ 240 Abs. 3 HGB).

Dokumentationspflichten

Eine ordnungsgemäße Inventur erfordert eine nachvollziehbare und überprüfbare Dokumentation aller Bestände und deren Bewertungen. Die Inventarunterlagen sind gemäß § 257 HGB mindestens 10 Jahre aufzubewahren.

Rechtsfolgen bei Inventurverstoß

Bilanzielle Auswirkungen

Eine fehlerhafte oder unterlassene Inventur führt regelmäßig zu bilanziellen Fehlern („Bilanzberichtigung“) und kann eine fehlerhafte Gewinnermittlung zur Folge haben. Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) verlangen die Vollständigkeit und Richtigkeit der Bestandsaufnahme.

Haftung und Sanktionen

Die Nichtbefolgung der Inventurvorschriften kann sowohl zivilrechtliche als auch steuerrechtliche Konsequenzen haben. Unterlassenes oder mangelbehaftetes Vorgehen kann insbesondere steuerliche Nachforderungen und das Risiko einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung begründen.

Insolvenzrechtliche Bedeutung

Im Insolvenzverfahren hat die Inventur zentrale Bedeutung für die Feststellung der Insolvenzmasse und deren Verwertung. Die Pflicht zur Erstellung eines Inventars trifft auch den Insolvenzverwalter nach § 153 der Insolvenzordnung (InsO).

Sonderregelungen

Inventur im Handelsregisterverfahren

Bei bestimmten Änderungen innerhalb des Unternehmens, wie bei Umwandlungen oder Verschmelzungen nach dem Umwandlungsgesetz (UmwG), kann eine besondere Inventurpflicht bestehen.

Förderung der Digitalisierung

Mit Einführung digitaler und automatisierter Lagerverwaltungssysteme wurden spezifische Anforderungen an die elektronische Erfassung und Verfahrensdokumentation (§ 239 Abs. 4 HGB) präzisiert. Dennoch bleibt die Dokumentationspflicht unberührt.

Fazit

Die Inventur stellt im deutschen Recht eine unverzichtbare Pflicht zur Sicherung der Rechenschaft und Bilanzwahrheit im unternehmerischen Bereich dar. Sie gewährleistet die Transparenz der Vermögens- und Schuldenlage und ist integraler Bestandteil der Rechnungslegungsvorschriften. Die rechtliche Ausgestaltung und die weitreichenden Folgen fehlerhafter Durchführung unterstreichen die erhebliche Bedeutung der Inventur für die Unternehmensführung und für die ordnungsgemäße Bilanzierung nach handels- und steuerrechtlichen Maßgaben.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Fristen sind bei der Durchführung der Inventur zu beachten?

Die rechtlichen Fristen für die Durchführung der Inventur ergeben sich insbesondere aus dem Handelsgesetzbuch (HGB). Nach § 240 Abs. 1 HGB hat jeder Kaufmann zu Beginn seines Handelsgewerbes und zum Ende eines jeden Geschäftsjahres eine Inventur durchzuführen. Diese Termine sind zwingend einzuhalten, wobei die Inventur in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Bilanzstichtag stehen muss. Die sogenannte zeitnahe Inventur ermöglicht eine Durchführung innerhalb von zehn Tagen vor oder nach dem Bilanzstichtag, sofern eine entsprechende Fortschreibung oder Rückrechnung der Bestände erfolgt. Alternativ kann unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen eine permanente Inventur (laufende Erfassung) oder eine verlegte Stichtagsinventur vorgenommen werden, bei der sich der Zeitraum auf drei Monate vor oder zwei Monate nach dem Bilanzstichtag erstreckt. Die Nichteinhaltung dieser gesetzlichen Fristen stellt einen Verstoß gegen handelsrechtliche Vorschriften dar und kann zu Beanstandungen durch das Finanzamt sowie zu Unwirksamkeit der Bilanzierung führen.

Wer ist rechtlich für die ordnungsgemäße Durchführung der Inventur verantwortlich?

Die rechtliche Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung der Inventur trägt primär der Kaufmann beziehungsweise die Geschäftsleitung des betreffenden Unternehmens. Dies ist im HGB geregelt und bezieht sich sowohl auf Einzelunternehmen als auch auf juristische Personen wie GmbHs oder AGs. Die Pflicht zur Überwachung und Umsetzung kann intern zwar delegiert werden (beispielsweise an einen Inventurleiter oder die Buchhaltung), die letztendliche rechtliche Verantwortung verbleibt jedoch unverändert bei der Unternehmensleitung. Mängel oder Fehler bei der Inventur, etwa Bestandsdifferenzen oder fehlende Nachweise, stehen rechtlich in ihrer Konsequenz somit immer im Verantwortungsbereich des Unternehmers beziehungsweise der Geschäftsführung, was haftungsrechtliche Folgen und gegebenenfalls strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen kann.

Welche rechtlichen Konsequenzen drohen bei Fehlern oder Verstößen im Rahmen der Inventur?

Fehler oder Verstöße im Rahmen der Inventur können vielfältige rechtliche Konsequenzen haben. Zum einen können Verstöße gegen die Inventurpflicht oder deren fehlerhafte Durchführung zu Beanstandungen seitens der Finanzbehörden führen, was steuerliche Mehrbelastungen und sogar Schätzungen der Besteuerungsgrundlage zur Folge haben kann (§ 162 AO). Darüber hinaus kann dies als Verletzung handelsrechtlicher Buchführungspflichten gewertet werden (§§ 238 ff. HGB) und zu einer formell oder materiell falschen Bilanz sowie zu zivil- und strafrechtlichen Haftungsfällen führen. Bei groben Verstößen, etwa bei vorsätzlicher Falschbeurkundung oder Bilanzfälschung, greift der Straftatbestand nach § 331 HGB beziehungsweise ggf. auch § 266 StGB (Untreue). Außerdem können Rechtsfolgen durch unternehmensinterne Haftungsregelungen, etwa bei schuldhaftem Verhalten von Mitarbeitern, ausgelöst werden.

Welche rechtlichen Anforderungen bestehen an die Dokumentation der Inventur?

Die Dokumentation der Inventur ist rechtlich streng geregelt und unterliegt sowohl handels- als auch steuerrechtlichen Nachweispflichten. Nach § 257 HGB sowie § 147 AO sind Inventare (detaillierte Bestandsverzeichnisse) so zu dokumentieren, dass sie jederzeit nachvollziehbar, vollständig und richtig sind. Die Unterlagen müssen klar erkennbar machen, wann, in welchem Umfang und durch welche Mitarbeiter die Bestandsaufnahme erfolgt ist. Zudem sind sie mindestens zehn Jahre lang aufzubewahren. Dies betrifft sowohl körperliche Bestandsaufnahmen als auch alle zugehörigen Arbeitsanweisungen, Durchschreibesätze und Korrekturlisten. Eine mangelhafte Dokumentation kann zu einer formell fehlerhaften Buchführung führen, mit allen damit verbundenen steuerrechtlichen und handelsrechtlichen Konsequenzen.

Inwieweit ist die Mitwirkung eines Wirtschaftsprüfers bei der Inventur gesetzlich vorgeschrieben?

Die Mitwirkung eines Wirtschaftsprüfers ist rechtlich grundsätzlich nur bei prüfungspflichtigen Unternehmen – zum Beispiel kapitalmarktorientierten Gesellschaften oder großen Kapitalgesellschaften gemäß §§ 316 ff. HGB – relevant. Ein Wirtschaftsprüfer muss im Rahmen der Abschlussprüfung die Ordnungsmäßigkeit der Inventurprozesse und deren Dokumentation stichprobenartig prüfen und beurteilen, ob die Inventur den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Während die unmittelbare Mitwirkung, etwa durch physische Anwesenheit bei der Bestandsaufnahme, nicht ausdrücklich vom Gesetz gefordert ist, wird dies in der Praxis zur Sicherstellung der Beweisfunktion und zur Absicherung des Bestätigungsvermerks häufig durchgeführt. Die gesetzliche Verpflichtung erstreckt sich primär auf die Kontrolle und die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen im Rahmen der Jahresabschlussprüfung.

Welche speziellen Vorgaben gelten für die Inventur bei besonderen Vermögensarten (z.B. Forderungen, immaterielle Werte)?

Für spezielle Vermögenswerte wie Forderungen, immaterielle Werte oder Beteiligungen bestehen gesonderte rechtliche Vorgaben. Im Unterschied zur körperlichen Bestandsaufnahme ist hier eine sogenannte Buchinventur vorgeschrieben (§ 240 Abs. 2 HGB). Dabei werden die Bestände aus buchhalterischen Aufzeichnungen und Belegen ermittelt; eine körperliche Aufnahme ist nicht möglich. Für Forderungen sind zum Bilanzstichtag beispielsweise Saldenbestätigungen, Mahnlisten oder Einzelwertberichtigungen rechtlich notwendig und revisionssicher zu dokumentieren. Immaterielle Werte (wie Patente oder Lizenzen) müssen durch Verträge, Erklärungen oder Registrierungsunterlagen nachgewiesen werden. Besonders bei Zweifelsfällen ist rechtlich die Plausibilität der Bewertung und Existenz zu belegen, gegebenenfalls durch externe Gutachten. Bei Verstößen kann die Bilanzierung als fehlerhaft angesehen werden, was zu steuerlichen und handelsrechtlichen Konsequenzen führt.

Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen ist eine vereinfachte Inventur zulässig?

Vereinfachte Inventurverfahren (wie Stichprobeninventur, permanente Inventur oder verlegte Inventur) sind unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen zulässig. Sie müssen den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) entsprechen und in ihrer Genauigkeit sowie Nachprüfbarkeit einer vollständigen körperlichen Aufnahme gleichwertig sein (§ 241 HGB). Die Anwendung muss im Rahmen einer Verfahrensdokumentation detailliert geregelt und für Dritte nachvollziehbar sein. Eine Stichprobeninventur darf zum Beispiel nur angewendet werden, wenn dabei anerkannte mathematisch-statistische Methoden eingesetzt und die Ergebnisse sachgerecht dokumentiert werden. Die Voraussetzungen müssen im Vorfeld gegenüber der Finanzverwaltung offengelegt werden, und im Zweifel ist die Zustimmung des Finanzamtes einzuholen. Andernfalls drohen Nachteile im Rahmen einer steuerlichen Außenprüfung oder Schätzungsbefugnisse der Finanzbehörde.