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Invalidenversicherung

Begriff und rechtliche Einordnung

Die Invalidenversicherung (IV) ist ein öffentlich-rechtliches Sozialversicherungssystem, das Personen absichert, deren Erwerbsfähigkeit oder Fähigkeit zur Verrichtung des gewohnten Aufgabenbereichs infolge von gesundheitlichen Beeinträchtigungen dauerhaft und erheblich eingeschränkt ist. Sie verfolgt das Ziel, die Folgen solcher Beeinträchtigungen sozial abzufedern und die Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben sicherzustellen. Zentrales Leitmotiv ist dabei die Eingliederung vor Rente: Vorrangig werden Massnahmen zur Wiederherstellung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit geprüft; Geldleistungen treten ergänzend oder nachrangig hinzu, wenn Eingliederung ganz oder teilweise nicht möglich ist.

Zielsetzung und Grundprinzipien

  • Eingliederung vor Rente: Vorrang der beruflichen und medizinisch-beruflichen Massnahmen vor dauerhaften Renten.
  • Subsidiarität und Koordination: Leistungen greifen in abgestimmtem Verhältnis zu anderen Sozialversicherungen und vermeiden Überentschädigungen.
  • Angemessenheit und Verhältnismässigkeit: Massnahmen und Leistungen richten sich nach Art und Schwere der Beeinträchtigung sowie nach der individuellen Situation.
  • Gleichbehandlung: Einheitliche Beurteilung der Invalidität nach anerkannten Methoden für erwerbstätige und nichterwerbstätige Personen.

Abgrenzung zu anderen Systemen

Die Invalidenversicherung ist Teil der obligatorischen sozialen Sicherung. Sie ist von der Krankenversicherung (Behandlung akuter und chronischer Erkrankungen), der Unfallversicherung (gesundheitliche Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten) sowie der beruflichen Vorsorge (Invaliditätsleistungen der Pensionskassen) abzugrenzen. Private Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitsdeckungen bestehen daneben vertraglich und ergänzen den Schutz, ohne den öffentlich-rechtlichen Charakter der Invalidenversicherung zu verändern.

Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich

Versicherter Personenkreis

In der Regel sind Personen mit Wohnsitz im Inland sowie Erwerbstätige, die im Inland arbeiten, versichert. Dazu zählen auch Grenzgängerinnen und Grenzgänger sowie bestimmte im Ausland wohnhafte Personen mit enger versicherungsrechtlicher Anbindung. Der Versicherungsschutz erfasst sowohl erwerbstätige als auch nichterwerbstätige Personen, darunter Kinder, Studierende und Personen, die unentgeltliche Betreuungs- oder Haushaltstätigkeiten ausüben.

Versicherte Risiken und Ursachen

Leistungen der Invalidenversicherung setzen eine gesundheitlich begründete, voraussichtlich dauerhafte oder länger andauernde Beeinträchtigung voraus, die zu einem Verlust der Erwerbsfähigkeit oder der Fähigkeit zur Bewältigung des gewohnten Aufgabenbereichs führt. Erfasst werden insbesondere Folgen von Krankheit, Geburtsgebrechen und – soweit nicht vorrangig durch andere Sozialversicherungen gedeckt – auch Folgen von Unfällen. Nicht versichert sind rein arbeitsmarktbedingte Schwierigkeiten ohne gesundheitliche Ursache.

Leistungsarten

Eingliederungsmassnahmen

Berufliche Massnahmen

  • Berufsberatung, Arbeitsvermittlung und Eignungsabklärungen
  • Umschulung, Ausbildungsergänzung und Weiterbildung
  • Arbeitsversuche, Belastbarkeitstrainings und Integrationsmassnahmen

Hilfsmittel und Unterstützung

  • Hilfsmittel zur Fortbewegung, Kommunikation oder Erwerbstätigkeit
  • Bauliche Anpassungen und technische Vorkehrungen am Arbeitsplatz
  • Reisekosten und notwendige Begleitmassnahmen im Rahmen der Eingliederung

Geldleistungen

Taggelder

Während bestimmter Eingliederungsmassnahmen besteht Anspruch auf Taggelder, die den Ausfall von Erwerbseinkommen oder die Teilnahme an Eingliederungen teilweise kompensieren.

Invalidenrenten und Kinderrenten

Besteht trotz Eingliederung eine anhaltende Invalidität, kann eine Invalidenrente zugesprochen werden. Die Rentenhöhe richtet sich nach dem Invaliditätsgrad und kennt abgestufte Leistungsstufen. Für unterhaltsberechtigte Kinder können ergänzende Kinderrenten vorgesehen sein.

Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag

Bei dauerhafter Beeinträchtigung in den alltäglichen Lebensverrichtungen kann eine Hilflosenentschädigung ausgerichtet werden. Zusätzlich kann ein Assistenzbeitrag die selbstbestimmte Lebensführung unterstützen, sofern die persönlichen Voraussetzungen vorliegen.

Anspruchsvoraussetzungen und Verfahren

Anmeldung und Abklärung

Das Verfahren beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Stelle. Es folgen medizinische und berufliche Abklärungen, unter Einbezug ärztlicher Berichte, Gutachten und versicherungsinterner Beurteilungen. Die IV prüft Eingliederungsmöglichkeiten sowie den Umfang und die Dauer von Massnahmen.

Feststellung der Invalidität

Erwerbstätige: Einkommensvergleich

Bei Erwerbstätigen wird die Invalidität grundsätzlich anhand eines Vergleichs zwischen dem mutmasslichen Einkommen ohne Gesundheitsschaden und dem zumutbar erzielbaren Einkommen mit Gesundheitsschaden festgestellt. Die prozentuale Differenz ergibt den Invaliditätsgrad.

Nichterwerbstätige: Betätigungsvergleich und gemischte Methode

Bei nichterwerbstätigen Personen erfolgt die Beurteilung nach dem Ausmass der Einschränkung im üblichen Aufgabenbereich (z. B. Haushalt, Betreuung). Üben Personen teils Erwerbsarbeit, teils Haushaltstätigkeit aus, wird die gemischte Methode angewandt, die beide Bereiche gewichtet.

Wartezeiten und Rentenbeginn

Für Renten ist in der Regel eine gewisse Mindestdauer der Arbeitsunfähigkeit und der daraus resultierenden Invalidität erforderlich. Der Rentenbeginn richtet sich nach dem Eintritt und der Dauer der gesundheitlichen Beeinträchtigung sowie nach dem Abschluss zumutbarer Eingliederungsmassnahmen.

Dauer, Revision und Aufhebung

Invalidenrenten und andere Leistungen unterliegen der Revision. Ändern sich Gesundheitszustand, Erwerbsmöglichkeiten oder familiäre Verhältnisse, kann eine Erhöhung, Reduktion, Aussetzung oder Aufhebung erfolgen. Periodische Überprüfungen sichern die Aktualität der Leistungsbemessung.

Koordination mit anderen Sozialversicherungen

Leistungen werden mit solchen der Unfallversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung und der beruflichen Vorsorge koordiniert. Dabei gelten Anrechnungs- und Verrechnungsregeln, um Doppelleistungen zu vermeiden. Die Invalidenversicherung ist häufig primär für Eingliederungsmassnahmen zuständig; Rentenleistungen werden mit Invaliditätsleistungen der Pensionskassen abgestimmt.

Finanzierung und Organisation

Finanzierungsquellen

Die Invalidenversicherung wird überwiegend durch einkommensabhängige Beiträge von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden sowie durch Beiträge der öffentlichen Hand finanziert. Zusätzliche Mittel können über zweckgebundene Abgaben bereitgestellt werden.

Träger und Zuständigkeiten

Die Durchführung obliegt den regionalen Durchführungsstellen, die Abklärungen treffen und Verfügungen erlassen. Eine übergeordnete Ebene sorgt für Planung, Aufsicht und einheitliche Anwendung der Grundsätze.

Grenzüberschreitende Aspekte

Export von Leistungen

Unter bestimmten Voraussetzungen können Geldleistungen ins Ausland exportiert werden. Eingliederungsmassnahmen und Hilfsmittel sind typischerweise an den Wohn- oder Arbeitsort gebunden. Die Exportfähigkeit richtet sich nach Staatsangehörigkeit, Wohnsitz und zwischenstaatlichen Vereinbarungen.

Zwischenstaatliche Koordinierung

Mit Staaten der EU/EFTA und weiteren Ländern bestehen Koordinierungsregeln. Sie regeln unter anderem die Zuständigkeit, die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten sowie den Leistungsexport. Doppelansprüche werden durch Anrechnungs- und Prioritätsregeln vermieden.

Rechte und Pflichten der versicherten Personen

Mitwirkung, Schadenminderung, Meldepflichten

Versicherte wirken bei Abklärungen mit, informieren über Änderungen der relevanten Verhältnisse und nutzen zumutbare Eingliederungsmöglichkeiten. Diese Pflichten sichern eine sachgerechte Leistungsprüfung und -anpassung.

Datenschutz und Akteneinsicht

Personenbezogene Daten werden vertraulich behandelt. Betroffene haben Anspruch auf Information und Einsicht in die entscheidrelevanten Unterlagen, soweit schutzwürdige Interessen gewahrt bleiben.

Rechtsmittel

Verfügungen der Invalidenversicherung können mit den vorgesehenen Rechtsmitteln angefochten werden. Das Verfahren ist mehrstufig und dient der gerichtlichen Überprüfung von Sachverhaltsermittlung und Rechtsanwendung.

Abgrenzung zur privaten Invaliditätsabsicherung

Private Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitsversicherungen beruhen auf individuellen Verträgen und Bedingungen. Sie können den Schutz der Invalidenversicherung ergänzen, unterscheiden sich jedoch in Anspruchsvoraussetzungen, Leistungsumfang, Wartezeiten und Beweislast. Koordinationsregeln verhindern Überentschädigungen und regeln das Zusammenspiel mit öffentlichen Leistungen.

Häufig gestellte Fragen

Wer gilt rechtlich als invalid?

Als invalid gilt, wer aufgrund eines gesundheitlichen Schadens dauerhaft oder für lange Zeit wesentlich in der Erwerbsfähigkeit oder im üblichen Aufgabenbereich eingeschränkt ist. Massgeblich ist die Auswirkung des Gesundheitsschadens auf die zumutbare Tätigkeit, nicht allein die Diagnose.

Wie wird der Invaliditätsgrad bestimmt?

Bei Erwerbstätigen erfolgt die Bestimmung durch einen Vergleich des mutmasslichen Einkommens ohne Gesundheitsschaden mit dem zumutbar erzielbaren Einkommen mit Gesundheitsschaden. Bei Nichterwerbstätigen wird die Einschränkung im Aufgabenbereich beurteilt; bei gemischter Tätigkeit werden beide Bereiche gewichtet.

Welche Leistungen kommen bei Invalidität in Betracht?

Vorgesehen sind insbesondere Eingliederungsmassnahmen (Berufsberatung, Umschulung, Integrationsmassnahmen), Hilfsmittel, Taggelder während Massnahmen, Invalidenrenten mit abgestufter Höhe, Kinderrenten sowie Hilflosenentschädigung und gegebenenfalls ein Assistenzbeitrag.

Ab wann entsteht ein Rentenanspruch?

Ein Rentenanspruch entsteht erst, wenn trotz zumutbarer Eingliederungsmassnahmen eine anhaltende Invalidität besteht und eine Mindestdauer der gesundheitlich bedingten Arbeitsunfähigkeit erreicht ist. Der Beginn richtet sich nach der individuellen Verlaufslage und den verfahrensrechtlichen Voraussetzungen.

Können Leistungen ins Ausland exportiert werden?

Geldleistungen können unter bestimmten Voraussetzungen ins Ausland exportiert werden. Dies hängt von Staatsangehörigkeit, Wohnsitz und anwendbaren zwischenstaatlichen Regeln ab. Eingliederungsmassnahmen sind in der Regel nicht exportfähig.

Wie erfolgt die Koordination mit der beruflichen Vorsorge und der Unfallversicherung?

Leistungen werden abgestimmt, um Doppelleistungen zu vermeiden. Invaliditätsrenten der beruflichen Vorsorge und Renten der Invalidenversicherung werden koordiniert; Leistungen der Unfallversicherung haben bei unfallbedingter Invalidität eine vorrangige Rolle. Anrechnungs- und Kürzungsregeln bestimmen die Gesamthöhe.

Werden laufende Renten überprüft?

Laufende Renten unterliegen der Revision. Verbessert oder verschlechtert sich die Erwerbsfähigkeit oder ändern sich relevante Verhältnisse, kann die Rente angepasst, ausgesetzt oder aufgehoben werden. Periodische Überprüfungen sind zulässig.

Welche Mitwirkungspflichten bestehen im Verfahren?

Versicherte müssen an medizinischen und beruflichen Abklärungen teilnehmen, erforderliche Auskünfte erteilen, Unterlagen beibringen und zumutbare Massnahmen akzeptieren. Änderungen der Verhältnisse sind der zuständigen Stelle mitzuteilen.