Interesse (positives und negatives): Bedeutung und Grundgedanke
Im Zivilrecht bezeichnet das „Interesse“ die wirtschaftliche Stellung, die eine Person ohne eine Pflichtverletzung oder ein anderes schädigendes Ereignis innehätte. Es dient als Maßstab zur Berechnung von Schadensersatz. Unterschieden wird vor allem zwischen dem positiven Interesse (Erfüllungsinteresse) und dem negativen Interesse (Vertrauensschaden). Beide Begriffe beschreiben unterschiedliche Vergleichszustände, anhand derer geprüft wird, in welchem Umfang Vermögensnachteile auszugleichen sind.
Positives Interesse (Erfüllungsinteresse)
Das positive Interesse stellt darauf ab, wie die Vermögenslage bei ordnungsgemäßer Erfüllung einer Verpflichtung gewesen wäre. Es zielt darauf, den Gläubiger so zu stellen, als wäre der Vertrag vereinbarungsgemäß erfüllt worden. Typisch sind Ausgleich für den Differenzschaden (z. B. teurer Deckungskauf), entgangenen Gewinn und zusätzliche zur Leistungserreichung erforderliche Aufwendungen.
Negatives Interesse (Vertrauensschaden)
Das negative Interesse erfasst den Vertrauensschaden. Es stellt darauf ab, wie die Vermögenslage ohne das Vertrauen auf das Bestehen oder die Gültigkeit eines Vertrages bzw. ohne die schädigende Vertrauensveranlassung wäre. Typisch sind vergebliche Aufwendungen für Vertragsverhandlungen oder Vorbereitung, Kosten der Rückabwicklung und Nachteile daraus, dass eine günstigere Alternative nicht verfolgt wurde.
Leitidee der Schadenskompensation
Leitend ist der Gedanke der Gleichstellung: Ersetzt wird der Nachteil, der im konkreten Fall durch die Pflichtverletzung, das Vertrauen oder das Ausbleiben der Leistung entstand. Es erfolgt kein Strafschadensersatz, sondern ein wirtschaftlicher Ausgleich im Rahmen der allgemeinen Zurechnungsgrundsätze.
Abgrenzung und Verhältnis der Interessen
Alternativität und Kappungsgrenze
Positives und negatives Interesse stehen regelmäßig alternativ nebeneinander; eine doppelte Kompensation desselben Nachteils findet nicht statt. Das negative Interesse darf in der Regel das positive Interesse nicht überschreiten. Damit wird verhindert, dass jemand besser steht als bei ordnungsgemäßer Vertragserfüllung.
Verhältnis zu Rücktritt, Anfechtung und Rückabwicklung
Wird ein Vertrag rückabgewickelt, richtet sich der Ausgleich häufig nach dem negativen Interesse (z. B. Ersatz vergeblicher Aufwendungen oder Vertrauensschäden). Wird dagegen Schadensersatz statt der Leistung beansprucht, ist maßgeblich das positive Interesse, also der wirtschaftliche Zustand, der bei ordnungsgemäßer Erfüllung bestünde. Welche Interessensart Anwendung findet, hängt vom jeweiligen Haftungsgrund und der gewählten Rechtsfolge ab.
Vorvertragliche Situationen und Vertrauensschutz
Wird Vertrauen in die Aufnahme, das Fortführen oder den Abschluss von Vertragsverhandlungen in zurechenbarer Weise enttäuscht, steht typischerweise das negative Interesse im Vordergrund. Geschützt wird das berechtigte Vertrauen darauf, nicht in unvertretbarer Weise zu Aufwendungen veranlasst zu werden.
Anwendungsbereiche und typische Fallgruppen
Leistungsstörungen im bestehenden Vertrag
Bei Unmöglichkeit, Verzug oder Schlechtleistung kommt das positive Interesse in Betracht. Dazu zählen Mehrkosten eines Deckungsgeschäfts, entgangener Gewinn aufgrund verspäteter oder mangelhafter Leistung sowie Folgekosten, die zur Erreichung des Leistungserfolgs erforderlich werden.
Abbruch oder Scheitern von Vertragsverhandlungen
Wer in berechtigter Erwartung eines Vertragsschlusses Aufwendungen tätigt und diese aufgrund eines zurechenbaren Abbruchs verliert, kann sein negatives Interesse geltend machen. Erfasst werden etwa Reise-, Planungs- und Beratungskosten sowie Nachteile, weil Alternativen nicht verfolgt wurden.
Irrtum, Täuschung und Aufklärungspflichten
Wer durch irreführende Angaben oder das Unterlassen gebotener Aufklärung zum Vertrauen auf einen Vertrag oder eine Rechtslage veranlasst wird, kann regelmäßig das negative Interesse beanspruchen. Ersetzt werden die Nachteile aus dem enttäuschten Vertrauen; eine Überkompensation über die Vorteile ordnungsgemäßer Erfüllung hinaus wird vermieden.
Ermittlung und Berechnung
Differenzhypothese
Grundlegend ist die Differenzhypothese: Verglichen werden die tatsächliche Vermögenslage mit der hypothetischen Lage, die ohne Pflichtverletzung bzw. ohne Vertrauensveranlassung bestünde. Die Differenz bildet den ersatzfähigen Schaden, der dem positiven oder dem negativen Interesse zugeordnet wird.
Ermittlung des positiven Interesses
- Preis- und Kostenunterschiede eines Deckungsgeschäfts
- Entgangener Gewinn aus dem erwarteten Geschäft
- Zusatzaufwendungen, die bei ordnungsgemäßer Erfüllung nicht angefallen wären
- Kosten der Mangelbeseitigung oder Nachbesserung
Ermittlung des negativen Interesses
- Vergebliche Verhandlungs-, Prüf- und Vorbereitungskosten
- Rückabwicklungs- und Umstellungskosten
- Nachteile, weil eine günstigere Alternative nicht gewählt oder rechtzeitig verfolgt wurde
- Sonstige Vertrauensdispositionen, soweit zurechenbar veranlasst
Entgangener Gewinn und Aufwendungen
Entgangener Gewinn kann Bestandteil des positiven Interesses sein, wenn der Gewinn bei ordnungsgemäßer Erfüllung angefallen wäre. Beim negativen Interesse kommt er in Betracht, sofern das Vertrauen kausal zur Nichtverfolgung einer profitablen Alternative geführt hat und dies zurechenbar ist.
Vorteilsausgleich und Anrechnung
Vorteile, die infolge des schädigenden Ereignisses entstehen (z. B. ersparte Aufwendungen, anderweitige Verwertung), sind anzurechnen, wenn dies dem Zweck des Ausgleichs entspricht. Damit wird verhindert, dass der Geschädigte besser steht als ohne den schädigenden Umstand.
Zeitpunkt der Bewertung
Maßgeblich ist grundsätzlich der Zeitpunkt, zu dem sich der Schaden realisiert. Spätere Entwicklungen können berücksichtigt werden, wenn sie typischerweise in der Schadensanlage angelegt sind und dem Zurechnungsrahmen entsprechen.
Rechtliche Grenzen und Zurechnung
Kausalität und Adäquanz
Ersetzt werden nur Schäden, die auf das haftungsbegründende Ereignis ursächlich zurückgehen und nicht völlig atypisch sind. Reine Zufallsfolgen außerhalb des allgemeinen Lebensrisikos sind nicht zuzurechnen.
Schutzzweck
Der Ausgleich beschränkt sich auf Schäden, deren Eintritt vom Schutzzweck der verletzten Pflicht umfasst ist. Nicht jeder durch eine Pflichtverletzung verursachte Nachteil fällt darunter, wenn er außerhalb des geschützten Risikobereichs liegt.
Mitverantwortung und Schadensminderung
Eine Kürzung kommt in Betracht, wenn der Geschädigte zur Entstehung oder Erhöhung des Schadens beigetragen hat oder naheliegende Begrenzungen des Schadens unterlassen wurden. Maßgeblich ist der Vergleich zu einem vernünftigen Verhalten in eigener Sache.
Vorhersehbarkeit und Risikosphären
Je nach Lage dürfen nur solche Schäden berücksichtigt werden, die für den Schädiger erkennbar oder typischerweise vorhersehbar waren. Zudem spielt die Zuweisung bestimmter Risiken zu einer Partei eine Rolle.
Beweisfragen
Beweislast
Die anspruchstellende Person trägt grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für Pflichtverletzung, Schaden, Kausalität und die hypothetische Vergleichslage (Erfüllungssituation oder vertrauensfreie Situation). Pauschale Behauptungen genügen nicht.
Schätzung und Plausibilität
Gerichte können die Höhe des Schadens schätzen, wenn der Grund feststeht und eine exakte Bezifferung nicht möglich ist. Voraussetzung sind nachvollziehbare Anknüpfungstatsachen, etwa Marktpreise, Branchenkennzahlen oder vergleichbare Geschäfte.
Dokumentation
Rechnungen, Kalkulationen, Korrespondenz sowie Markt- und Preisnachweise erhöhen die Nachvollziehbarkeit der Berechnung des positiven oder negativen Interesses.
Vergleichende Einordnung
Die Unterscheidung von Erfüllungs- (positives Interesse) und Vertrauensschaden (negatives Interesse) findet sich in ähnlicher Form auch in anderen Rechtsordnungen. Im anglo-amerikanischen Raum wird oft vom „expectation interest“ (Erwartungsinteresse) und „reliance interest“ (Vertrauensinteresse) gesprochen. Gemeinsam ist die Ausrichtung am wirtschaftlichen Ausgleich innerhalb anerkannter Zurechnungsgrenzen.
Beispiele
Beispiel zum positiven Interesse
Eine bestellte Maschine wird nicht geliefert. Der Käufer beschafft eine gleichwertige Maschine teurer am Markt. Ersetzt werden kann die Preisdifferenz und der entgangene Gewinn aus der geplanten Produktion, soweit zurechenbar.
Beispiel zum negativen Interesse
Eine Partei bricht Vertragsverhandlungen in einer Weise ab, die berechtigtes Vertrauen enttäuscht. Ersetzt werden können vergebliche Reise-, Planungs- und Beratungskosten sowie Nachteile daraus, dass eine aussichtsreiche Alternative nicht verfolgt wurde.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet „positives Interesse“?
Es bezeichnet den Ausgleich für den Zustand, der bei ordnungsgemäßer Erfüllung einer Verpflichtung bestünde. Erfasst werden etwa Mehrkosten eines Deckungsgeschäfts, entgangener Gewinn und weitere zur Leistungserreichung erforderliche Aufwendungen.
Was bedeutet „negatives Interesse“?
Es beschreibt den Vertrauensschaden. Ausgeglichen wird der Zustand, der bestünde, wenn nicht auf die Gültigkeit oder das Zustandekommen eines Vertrags vertraut worden wäre. Typisch sind vergebliche Aufwendungen für Verhandlungen und Vorbereitung sowie Nachteile aus nicht verfolgten Alternativen.
Wann kommt welches Interesse zur Anwendung?
Bei Leistungsstörungen eines bestehenden Vertrags steht regelmäßig das positive Interesse im Vordergrund. Bei Rückabwicklung, Anfechtung oder bei vorvertraglichen Vertrauensenttäuschungen ist typischerweise das negative Interesse maßgeblich. Maßgeblich ist der jeweilige Haftungsgrund und die gewählte Rechtsfolge.
Können positives und negatives Interesse gleichzeitig verlangt werden?
In der Regel nicht. Beide Ansätze sind Alternativen zur Bestimmung der auszugleichenden Vermögenslage. Eine doppelte Kompensation derselben Position ist ausgeschlossen. Häufig gilt zudem, dass das negative Interesse das positive Interesse nicht übersteigen darf.
Wie wird das Interesse berechnet?
Maßgeblich ist der Vergleich zwischen der tatsächlichen und der hypothetischen Vermögenslage (Differenzhypothese). Beim positiven Interesse wird die Erfüllungssituation zugrunde gelegt, beim negativen Interesse die vertrauensfreie Situation. Vorteile werden angerechnet, vermeidbare Schäden nicht ersetzt.
Gehört entgangener Gewinn zum ersatzfähigen Interesse?
Ja, soweit er bei ordnungsgemäßer Erfüllung angefallen wäre (positives Interesse) oder wenn zurechenbar eine profitablere Alternative nicht verfolgt wurde (negatives Interesse). Erforderlich ist eine nachvollziehbare Darlegung der Wahrscheinlichkeit und Höhe.
Wer trägt die Beweislast?
Grundsätzlich die anspruchstellende Person. Sie muss Pflichtverletzung, Schaden, Kausalität und die hypothetische Vergleichslage darstellen und belegen. Eine gerichtliche Schätzung ist möglich, wenn die Grundlagen substantiiert dargelegt sind.