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Integriertes Gemeinschaftsrecht


Begriff und Entwicklung des Integrierten Gemeinschaftsrechts

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht bezeichnet das zusammengeführte und verflochtene Rechtssystem der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedstaaten. Der Begriff steht für die besondere rechtliche Qualität und Wirkkraft des Unionsrechts, das sich aus den Verträgen über die Europäische Union sowie den darauf basierenden Rechtsakten entwickelt hat und innerhalb der Mitgliedstaaten eigenständig und unmittelbar gilt. Diese Eigenständigkeit hebt das Integrierte Gemeinschaftsrecht von anderen internationalen Rechtsordnungen ab.

Rechtsquellen und Grundlagen

Primärrecht

Das Primärrecht bildet die grundsätzliche Rechtsquelle des Integrierten Gemeinschaftsrechts. Hierzu zählen insbesondere:

  • Der Vertrag über die Europäische Union (EUV)
  • Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
  • Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union
  • Protokolle, Änderungsverträge und Beitrittsverträge

Diese Verträge werden von den Mitgliedstaaten ratifiziert und bilden somit das „Verfassungsrecht” der Europäischen Union.

Sekundärrecht

Das Sekundärrecht umfasst die von den EU-Organen erlassenen Rechtsakte, zu denen insbesondere gehören:

  • Verordnungen (unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gültig)
  • Richtlinien (verpflichten die Mitgliedstaaten zur Umsetzung in nationales Recht)
  • Beschlüsse (an bestimmte Adressaten gerichtet)
  • Empfehlungen und Stellungnahmen (unverbindlich)

Das Sekundärrecht findet auf Basis und innerhalb der Grenzen des Primärrechts Anwendung.

Charakteristika des Integrierten Gemeinschaftsrechts

Autonomie und Vorrang

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht ist durch eine eigenständige Autonomie und den Vorrang gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten geprägt. Dieser Vorrang gewährleistet, dass das Unionsrecht bei Konflikten stets den nationalen Normen vorgeht. Nationales Recht, das dem EU-Recht widerspricht, ist daher unanwendbar.

Unmittelbare Wirkung

Zahlreiche Bestimmungen des Integrierten Gemeinschaftsrechts entfalten unmittelbare Wirkung. Dies bedeutet, dass Einzelpersonen und Unternehmen sich direkt auf Unionsrecht berufen können, sofern die jeweilige Norm hinreichend klar, genau und unbedingt ist. Die unmittelbare Wirkung wurde insbesondere durch grundlegende Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geprägt.

Anwendung in den Mitgliedstaaten

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht gilt in allen Mitgliedstaaten einheitlich. Nationale Gerichte und Behörden sind zur vorrangigen und einheitlichen Anwendung des Unionsrechts verpflichtet. Bei Zweifeln an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts steht das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV zur Verfügung.

Rechtsanwendung und Durchsetzung

Durchsetzung durch nationale Gerichte und Behörden

Nationale Gerichte sind gehalten, bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts den Vorgaben des Integrierten Gemeinschaftsrechts zu folgen. Kommt es zu Kollisionen zwischen nationalem Recht und Unionsrecht, hat das Unionsrecht Vorrang. Gerichte können gegebenenfalls verpflichtet sein, gegenläufiges nationales Recht unangewendet zu lassen.

Durchsetzung durch Unionsorgane

Neben der nationalen Rechtsdurchsetzung sind auch die europäischen Organe aktiv. Insbesondere die Europäische Kommission kann als „Hüterin der Verträge” Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einleiten, wenn diese ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht nicht einhalten. Der EuGH entscheidet letztverbindlich über solche Streitigkeiten.

Grundrechte und Individualrechtsschutz

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht wahrt grundlegende Rechte. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union entfaltet im Anwendungsbereich des Unionsrechts verbindliche Wirkung. Einzelpersonen und Unternehmen können Schutzmaßnahmen gegen unionsrechtswidrige Handlungen und Rechtsakte einlegen, unter anderem durch Klage zum Europäischen Gericht (EuG) oder zum EuGH.

Verhältnis zum nationalen Recht

Kollisionsregeln

Das Spannungsverhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht ist durch die sogenannten Kollisionsregeln geprägt. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts verpflichtet die Mitgliedstaaten, entgegenstehende nationale Normen nicht anzuwenden und erforderlichenfalls anzupassen oder aufzuheben.

Transformation und Umsetzung

Richtlinien bedürfen der nationalen Umsetzung, während Verordnungen unmittelbar gelten. Soweit Richtlinien nicht fristgerecht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt werden, kann deren unmittelbare Wirkung geltend gemacht werden, sofern sie hinreichend bestimmt und unbedingt sind.

Einfluss auf die nationale Rechtsprechung

Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte beeinflusst maßgeblich die Auslegung und weitere Entwicklung des nationalen Rechts. Nationale Richter sind verpflichtet, das Unionsrecht in Einklang mit der europäischen Judikatur auszulegen.

Bedeutung und Funktion des Integrierten Gemeinschaftsrechts

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht schafft die Grundlage für die Rechtsangleichung innerhalb der EU und gewährleistet eine effektive und gleichwertige Rechtsdurchsetzung. Es stellt sicher, dass europäische Normen in sämtlichen Mitgliedstaaten einheitlich verstanden und angewendet werden, fördert somit die Rechtssicherheit und das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihren jeweiligen Rechtsordnungen.

Sicherung von Grundfreiheiten und Binnenmarkt

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht bildet das Fundament für die Gewährleistung der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes:

  • Freier Warenverkehr
  • Freizügigkeit der Arbeitnehmer
  • Dienstleistungsfreiheit
  • Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit

Rechtsstaatliche Prinzipien und Rechtsentwicklung

Es sorgt für die Umsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien wie Rechtsschutz, Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung innerhalb der EU. Die Weiterentwicklung des Unionsrechts erfolgt in einem dynamischen Rechtsraum durch Legislative, Exekutive und Judikative auf europäischer und nationaler Ebene.

Literatur und weiterführende Hinweise

  • Streinz, Rudolf: Europarecht. 10. Auflage, München 2023.
  • Calliess/Ruffert: EUV/AEUV – Das Recht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, Kommentar, 6. Auflage, 2022.
  • Schwarze, Jürgen: Europäische Integration und Unionsrecht, Baden-Baden 2021.
  • Europarecht – Handbuch, Hrsg. Grabitz/Hilf/Nettesheim, München

Mit seiner Eigenständigkeit, unmittelbaren Anwendung, Vorrangwirkung und ständigen Fortentwicklung bildet das Integrierte Gemeinschaftsrecht das Rückgrat der europäischen Rechtsordnung, indem es eine verlässliche und einheitliche Anwendung europäischer Normen in den Mitgliedstaaten sicherstellt und gleichzeitig einen effektiven Rechtsschutz für Einzelpersonen ermöglicht.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung kommt dem Integrierten Gemeinschaftsrecht im Verhältnis zum nationalen Recht zu?

Das Integrierte Gemeinschaftsrecht stellt einen eigenständigen Rechtsbereich dar, der ursprünglich aus dem Recht der Europäischen Gemeinschaften hervorging und heute maßgeblich durch das Unionsrecht geprägt wird. Im Verhältnis zum nationalen Recht kommt dem Integrierten Gemeinschaftsrecht eine Vorrangstellung zu. Dieser Anwendungsvorrang gilt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), so auch in Deutschland. Durch diesen Vorrang sind nationale Gerichte verpflichtet, nationales Recht im Konfliktfall unangewendet zu lassen, sofern dieses mit Gemeinschaftsrecht kollidiert. Das betrifft sowohl formelle Gesetze als auch Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften. Ziel ist es, die einheitliche Wirksamkeit und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Diese Rechtswirkung wurde in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) etabliert und sichert die Durchsetzung und Wirksamkeit der Union sowohl im innerstaatlichen als auch im supranationalen Kontext.

Welche Rolle spielt die unmittelbare Anwendbarkeit im System des Integrierten Gemeinschaftsrechts?

Die unmittelbare Anwendbarkeit (direkte Wirkung) zählt zu den zentralen Prinzipien des Integrierten Gemeinschaftsrechts. Sie bedeutet, dass bestimmte Normen des Gemeinschaftsrechts Rechte und Pflichten für Einzelne und Behörden unmittelbar begründen können, ohne dass es der Umsetzung durch ein nationales Gesetz bedarf. Vor allem Verordnungen, aber auch klar gefasste und hinreichend bestimmte primärrechtliche Vorschriften (etwa aus den EU-Verträgen) und teils auch Bestimmungen von Richtlinien können unmittelbar anwendbar sein. Ist eine unmittelbare Anwendbarkeit gegeben, können sich Einzelne direkt auf die betreffende Norm berufen, insbesondere gegenüber Behörden und Gerichten. Diese Durchgriffswirkung soll die Effektivität des Gemeinschaftsrechts sicherstellen und die Rechtsstellung der Unionsbürger stärken.

Inwieweit besteht eine unmittelbare Durchsetzbarkeit der Rechte aus dem Integrierten Gemeinschaftsrecht für den Einzelnen?

Eine der wichtigsten Errungenschaften des Integrierten Gemeinschaftsrechts ist die Möglichkeit für Einzelpersonen, sich in bestimmten Fällen unmittelbar auf Normen des Gemeinschaftsrechts berufen zu können. Dies betrifft insbesondere Verordnungen sowie bestimmte primärrechtliche Regelungen (z.B. die Grundfreiheiten aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV). Die unmittelbare Durchsetzbarkeit hängt von der inhaltlichen Bestimmtheit, Klarheit und Unbedingtheit der jeweiligen Norm ab. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können sich Einzelne sowohl im gerichtlichen Verfahren als auch in Verwaltungsverfahren darauf berufen. In Streitfällen haben nationale Gerichte unionsrechtliche Vorgaben zu beachten und das nationale Recht gegebenenfalls unangewendet zu lassen, sofern es im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht steht.

Wie wird die einheitliche Anwendung des Integrierten Gemeinschaftsrechts innerhalb der EU-Mitgliedstaaten sichergestellt?

Die einheitliche Anwendung des Integrierten Gemeinschaftsrechts in der Europäischen Union wird primär durch zwei Mechanismen gesichert: Zum einen durch den Anwendungsvorrang, der von den nationalen Gerichten zu beachten ist, und zum anderen durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Letzteres verpflichtet nationale Gerichte, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Auslegung oder zur Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen, wenn solche im Rahmen eines Rechtsstreits entscheidungserheblich sind. Das Vorabentscheidungsverfahren sichert, dass das Integrierte Gemeinschaftsrecht in sämtlichen Mitgliedstaaten nach denselben Maßgaben ausgelegt und angewandt wird. Zusätzlich überwacht die Europäische Kommission als sogenannte „Hüterin der Verträge” die korrekte Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts und kann im Fall von Verstößen Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV einleiten.

Welche Auswirkung haben völkerrechtliche Verträge der EU auf das Integrierte Gemeinschaftsrecht?

Völkerrechtliche Verträge, die von der Europäischen Union abgeschlossen werden, sind Bestandteil des Integrierten Gemeinschaftsrechts und treten nach Maßgabe von Art. 216 AEUV in Kraft. Solche Übereinkommen binden sowohl die Organe der EU als auch die Mitgliedstaaten. Sie sind in der Hierarchie des Gemeinschaftsrechts unterhalb des primären Unionsrechts (der Verträge) angesiedelt, stehen aber grundsätzlich über dem abgeleiteten Recht (Sekundärrecht). Völkerrechtliche Verträge können ggf. auch unmittelbare Wirkung entfalten, wenn deren Bestimmungen inhaltlich hinreichend bestimmt, klar und unbedingt sind. Dies kann Einzelnen erlauben, sich direkt auf diese Bestimmungen zu berufen. Außerdem sind die nationalen Gerichte verpflichtet, dem völkerrechtlichen Vertrag Vorrang gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht einzuräumen, sofern dieser Vorrang auch im Verhältnis des Integrierten Gemeinschaftsrechts zu nationalem Recht gilt.

Wie werden Konflikte zwischen nationalem Verfassungsrecht und Integriertem Gemeinschaftsrecht aufgelöst?

Konflikte zwischen nationalem Verfassungsrecht und Integriertem Gemeinschaftsrecht stellen eine besondere Herausforderung dar. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs betont den uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Nationalen Verfassungsgerichten kommt jedoch insoweit Bedeutung zu, als sie in Ausnahmefällen überprüfen, ob Grundprinzipien der nationalen Verfassung (Kernbestand der Verfassungsidentität) durch das Gemeinschaftsrecht beeinträchtigt werden. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht hierzu die sogenannten „Identitätskontrolle” und die „Ultra-vires-Kontrolle” entwickelt. In der Praxis werden Konflikte vorwiegend im Dialog zwischen EuGH und dem nationalen Verfassungsgericht beigelegt, wobei sich in aller Regel nationale Gerichte und Behörden an die unionsrechtlichen Vorgaben halten müssen, um die Einheit, Kohärenz und Wirksamkeit des Integrierten Gemeinschaftsrechts im gesamten Unionsraum sicherzustellen.

Welche Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen bei Verstößen gegen das Integrierte Gemeinschaftsrecht?

Bei Verstößen gegen das Integrierte Gemeinschaftsrecht stehen dem Einzelnen sowie betroffenen Staaten und Organen mehrere Rechtsschutzmöglichkeiten offen. Einzelpersonen können sich an die nationalen Gerichte wenden und die unmittelbare Anwendung und Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht verlangen. Nationale Gerichte sind befugt und teilweise verpflichtet, dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts vorzulegen. Darüber hinaus existieren Vertragsverletzungsverfahren, die von der Europäischen Kommission oder von Mitgliedstaaten beim EuGH gegen andere Mitgliedstaaten eingeleitet werden können (Art. 258 ff. AEUV). Für Unionsorgane und Staaten steht ferner die Nichtigkeitsklage gegen Gemeinschaftsrechtsakte (Art. 263 AEUV) zur Verfügung. Schließlich kann im Fall eines Schadens, der aus einem Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht resultiert, unter bestimmten Umständen eine Staatshaftungsklage (nach den Grundsätzen aus der Francovich-Entscheidung des EuGH) erhoben werden.