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Herstellungsanspruch, sozialrechtlicher


Herstellungsanspruch (sozialrechtlicher) – Definition und Rechtsgrundlagen

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist ein besonderer öffentlich-rechtlicher Anspruch, der im deutschen Sozialrecht entstanden ist. Er richtet sich gegen Sozialleistungsträger, wenn infolge einer Pflichtverletzung des Trägers für den Versicherten oder Leistungsberechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil eintritt, der durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln hätte vermieden werden können. Das Ziel dieses Anspruchs besteht darin, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger seinen Beratungspflichten oder sonstigen sozialrechtlichen Pflichten ordnungsgemäß nachgekommen wäre.

Gesetzliche Verankerung und Rechtsquellen

Obwohl der Herstellungsanspruch nicht explizit im Gesetz genannt wird, ist er durch die Rechtsprechung als allgemeiner Grundsatz im Sozialverwaltungsrecht anerkannt. Seine rechtliche Grundlage wird aus den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches (SGB), insbesondere aus den §§ 13 bis 15 SGB I (Beratung, Auskunft, Belehrung) sowie dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB analog) abgeleitet. Die maßgebliche Entwicklung und Konkretisierung des Herstellungsanspruchs erfolgte durch die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere durch das Bundessozialgericht (BSG).

Wesen und Funktion des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs

Anspruchsziel und Anwendungsbereich

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch bezweckt die Korrektur einer infolge fehlerhaften Verwaltungshandelns oder fehlender Beratung des Sozialleistungsträgers entstandenen Rechtslage. Die Funktion besteht darin, den Nachteil des Versicherten oder Leistungsberechtigten auszugleichen, indem der Zustand wie bei rechtmäßigem Handeln der Verwaltung hergestellt wird.

Unterscheidung zu anderen Ansprüchen

Der Herstellungsanspruch ist abzugrenzen von anderen Ausgleichs- oder Ersatzansprüchen wie dem Schadensersatzanspruch aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG oder dem sozialrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch. Während der Schadensersatzanspruch auf den Ersatz materieller Schäden gerichtet ist, verlangt der Herstellungsanspruch die Herstellung einer rechtmäßigen, hypothetischen Situation, die bei rechtmäßiger Verwaltungsführung bestünde.

Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs

Für das Eingreifen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs müssen folgende Voraussetzungen vorliegen:

  1. Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers: Beispielsweise fehlerhafte, unzureichende oder fehlende Beratung, Auskunft oder Belehrung.
  2. Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Nachteil: Der sozialrechtliche Nachteil muss durch die Pflichtverletzung ursächlich herbeigeführt worden sein.
  3. Rechtswidrige Unterlassung oder Handlung: Die Verwaltung hätte mit rechtmäßigem Verhalten den Nachteil verhindern müssen.
  4. Kein Ausschluss durch den Beteiligten: Der Nachteil darf nicht auf einem eigenen maßgeblichen Verschulden oder auf Mutwilligkeit des Betroffenen beruhen.
  5. Rechtswidrigkeit: Es darf keine spezialgesetzliche Anspruchsgrundlage für einen anderen Rechtbehelf bestehen; der Herstellungsanspruch ist subsidiär.

Inhalt und Rechtsfolgen des Herstellungsanspruchs

Art der Anspruchserfüllung

Der Sozialleistungsträger ist verpflichtet, die Verhältnisse so zu gestalten, als wäre die Pflichtverletzung nicht erfolgt. Dies kann insbesondere geschehen durch die rückwirkende Bewilligung von Leistungen oder die Nachholung von Verwaltungsakten. Allerdings darf die Herstellung nur im Rahmen des rechtlich Möglichen erfolgen; bleibt der rechtlich hypothetische Anspruch aus anderen Gründen ausgeschlossen, besteht kein Anspruch auf Herstellung.

Grenzen des Herstellungsanspruchs

Der Herstellungsanspruch ist ausgeschlossen oder begrenzt, wenn:

  • Die Nachholung der Maßnahme aus tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich ist.
  • Der Eintritt des Schadens auf ein überwiegendes Eigenverschulden des Betroffenen oder eine verspätete Geltendmachung zurückzuführen ist.
  • Die Rechtslage durch zwingende gesetzliche Ausschlussgründe (z. B. Ausschlussfristen) eine Herstellung nicht mehr zulässt.

Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen

Der Herstellungsanspruch ist vorrangig gegenüber rein schuldrechtlichen Schadenersatzansprüchen, jedoch nachrangig, wenn spezialgesetzliche Vorschriften eine abschließende Regelung bieten. Ein Herstellungsanspruch ist regelmäßig im sozialgerichtlichen Verfahren geltend zu machen und unterliegt den allgemeinen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung für das sozialrechtliche Verfahren.

Anwendungsbeispiele und Rechtsprechung

Klassische Fallgestaltungen

Typische Anwendungsfälle des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind etwa:

  • Versäumte Antragstellung: Wenn ein Sozialleistungsträger einen Versicherten nicht oder falsch hinsichtlich einer notwendigen Antragstellung berät und diesem dadurch ein Leistungsanspruch entgeht (z.B. Rententräger weist nicht auf die Notwendigkeit eines Reha-Antrags hin).
  • Fehlende Aufklärung über Rechtsmittel: Unterbleibt der Hinweis auf bestehende Rechtsmittelmöglichkeiten und Rechtsmittelfristen.
  • Nicht gegebene Auskunft über erforderliche Unterlagen: Wenn der Träger versäumt, auf fehlende Unterlagen oder Nachweise hinzuweisen, so dass ein Antrag bearbeitet oder bewilligt werden kann.

Leitentscheidungen des Bundessozialgerichts

Das Bundessozialgericht hat in zahlreichen Entscheidungen die Voraussetzungen und Grenzen des Herstellungsanspruchs konkretisiert. Zu den grundlegenden Entscheidungen gehört das Urteil vom 23.02.1982 (BSG SozR 1200 § 14 Nr. 6), das die Reichweite der Beratungspflichten in Bezug auf den Herstellungsanspruch präzisiert.

Praktische Bedeutung und Kritik

Bedeutung im Sozialverwaltungsrecht

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch steht im Zentrum des sozialrechtlichen Vertrauensschutzes und dient dem Ausgleich der typischen Wissensungleichheiten zwischen Bürger und Verwaltung. Er trägt maßgeblich zur rechtsstaatlichen Absicherung der Leistungsansprüche bei und fördert die Vertrauensbildung in die Sozialversicherungsträger.

Kritikpunkte und Entwicklungslinien

Kritisiert wird teils die durch Rechtsprechung geprägte, nicht ausdrücklich gesetzlich geregelte Natur des Herstellungsanspruchs, was zu Unsicherheiten im Anwendungsbereich führen kann. Moderne Vorschläge zielen auf eine Kodifizierung und präzisere gesetzliche Verankerung dieses Anspruchs im Sozialgesetzbuch.

Zusammenfassung

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist ein bedeutendes Instrument des deutschen Sozialverwaltungsrechts. Er verpflichtet die Sozialleistungsträger, Nachteile aus pflichtwidrigem Verwaltungshandeln gegenüber Versicherten durch die nachträgliche Herstellung eines rechtmäßigen Zustands auszugleichen. Die Anspruchsgrundlagen ergeben sich aus dem sozialrechtlichen Beratungs-, Auskunfts- und Belehrungsrecht sowie den Grundsätzen von Treu und Glauben. Die Entwicklung des Anspruchs ist maßgeblich von der Rechtsprechung geprägt und dient dem Schutz der Leistungsberechtigten vor Nachteilen durch Verwaltungshandeln.

Häufig gestellte Fragen

Welche Voraussetzungen müssen für die Durchsetzung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vorliegen?

Für die Durchsetzung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs müssen mehrere kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss ein sozialrechtliches Schuldverhältnis zwischen dem Betroffenen und dem zuständigen Sozialleistungsträger bestehen, etwa im Rahmen der gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall- oder Pflegeversicherung. Weiterhin muss eine Pflichtverletzung des Leistungsträgers vorliegen, die darin bestehen kann, dass er eine ihm obliegende Amtspflicht oder Hinweis- und Beratungspflicht nach § 14 bis § 15 SGB I verletzt hat. Erforderlich ist zudem, dass aufgrund dieses Fehlverhaltens dem Leistungsberechtigten ein rechtlicher Nachteil entstanden ist, beispielsweise in Form einer versäumten Frist zur Geltendmachung von Ansprüchen, die ihm infolgedessen nicht mehr oder nur noch eingeschränkt zustehen. Schließlich muss feststellbar sein, dass ohne das pflichtwidrige Verhalten ein anderweitiger, günstigere Anspruch realisiert worden wäre und die fehlende Anspruchswahrung durch aktive Mitwirkung des Sozialleistungsträgers hätte verhindert werden können. Die Geltendmachung des Herstellungsanspruchs setzt regelmäßig ein entsprechendes Verwaltungsverfahren voraus, gegebenenfalls verbunden mit einer Klage vor den Sozialgerichten nach §§ 54 ff. SGG.

In welchen Fällen greift der sozialrechtliche Herstellungsanspruch typischerweise?

Typische Anwendungsfälle des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs finden sich insbesondere bei Verletzungen der Beratungspflichten durch Sozialversicherungsträger. Häufige Konstellationen sind beispielsweise Fehlinformationen hinsichtlich Antragsfristen, die dem Leistungsberechtigten nicht rechtzeitig oder nicht in ausreichendem Maße kommuniziert wurden, oder Fälle, in denen der zuständige Träger der gesetzlichen Rentenversicherung nicht auf die Notwendigkeit eines lückenlosen Versicherungsverlaufs – etwa durch freiwillige Beitragszahlungen – hingewiesen hat. Ebenso treten Herstellungsansprüche im Zusammenhang mit dem Übergang von Arbeitslosigkeit zur Rente auf, wenn der Leistungsträger seine Hinweispflichten zu den Folgen einer verspäteten Antragstellung vernachlässigt. Auch bei der Überleitung von Ansprüchen auf andere Sozialleistungsträger und hierbei unterbliebener Hinweise auf erforderliche Mitwirkungshandlungen kann sich ein Herstellungsanspruch ergeben. Dabei bildet stets die unterlassene, fehlerhafte oder verspätete Erfüllung der Beratungspflichten durch den Leistungsträger die Anspruchsgrundlage.

Wie unterscheidet sich der Herstellungsanspruch von einem regulären Schadensersatzanspruch gegenüber Sozialleistungsträgern?

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist vom gewöhnlichen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch zu unterscheiden. Während der Schadensersatzanspruch – insbesondere nach Amtshaftungsgrundsätzen (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) – auf Ausgleich eines Vermögensschadens durch Leistung von Geld abzielt, ist der Herstellungsanspruch auf die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands durch die Gewährung einer Sozialleistung oder einen sonstigen sozialrechtlichen Vorteil gerichtet, der dem Anspruchsteller ohne Pflichtverletzung des Leistungsträgers zugestanden hätte. Es handelt sich um einen spezifisch sozialrechtlichen Anspruch eigener Art, der auf die Herstellung derjenigen Rechtsfolge gerichtet ist, die bei korrektem Verwaltungshandeln entstanden wäre. Ausgeschlossen sind hingegen tatsächliche oder wirtschaftliche Schäden, die nicht in der Vorenthaltung einer Sozialleistung bestehen. Der Herstellungsanspruch ergänzt somit die Systematik der sozialrechtlichen Beziehungen und greift, sofern ein Schaden nicht durch zivilrechtliche Ansprüche abgedeckt wird oder eine Rückgängigmachung der Pflichtverletzung aus Verwaltungsrecht möglich ist.

Welche Rolle spielt das Verschulden des Sozialleistungsträgers beim Herstellungsanspruch?

Im Gegensatz zum regulären Schadensersatzanspruch ist beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ein Verschulden des Sozialleistungsträgers grundsätzlich nicht erforderlich. Entscheidend ist allein das objektive Vorliegen einer Pflichtverletzung, das heißt die unterlassene oder fehlerhafte Erfüllung einer gesetzlichen Hinweis- oder Beratungspflicht. Es kommt weder auf Vorsatz noch auf Fahrlässigkeit des handelnden Bediensteten an. Die Verantwortung des Trägers ergibt sich aus seiner Rolle als Garant für die Verwirklichung sozialrechtlicher Ansprüche im Verwaltungsverfahren. Das Fehlen eines Verschuldenserfordernisses erleichtert dem Betroffenen den Anspruchsnachweis, da er nicht beweisen muss, dass die Pflichtverletzung auf einem individuellen Fehlverhalten beruhte, sondern dass objektiv eine Beratung, Auskunft oder Betreuung unterblieben ist, die zur Anspruchsverwirklichung notwendig gewesen wäre.

Welche Bedeutung kommt dem Verursachungszusammenhang beim Herstellungsanspruch zu?

Ein wesentlicher Aspekt des Herstellungsanspruchs ist der kausale Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem eingetretenen Nachteil. Es muss ein sogenannter Ursachenzusammenhang bestehen: Der Betroffene muss darlegen und, sofern strittig, beweisen, dass er bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Pflichten durch den Träger die versäumte Handlung – etwa eine fristwahrende Antragstellung – vorgenommen und dadurch den sozialrechtlichen Vorteil erlangt hätte. Dabei genügt keine bloße Wahrscheinlichkeit; vielmehr ist eine nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilende Feststellung der hypothetischen Kausalität erforderlich. Zweifel hieran gehen jedoch nach gefestigter Rechtsprechung zulasten des Sozialleistungsträgers. Im Einzelfall kann eine Mitverantwortung des Betroffenen zu einer Minderung oder gar zum Ausschluss des Anspruchs führen, insbesondere wenn der Betroffene selbst grob fahrlässig oder vorsätzlich gegen sozialrechtliche Obliegenheiten verstößt.

Ist der sozialrechtliche Herstellungsanspruch befristet oder unterliegt er bestimmten Ausschlussfristen?

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch selbst ist an keine eigenständige Ausschlussfrist gebunden, wohl aber an allgemeine verwaltungsrechtliche Verjährungs- und Bestandskraftregelungen. Der Anspruch kann nur so lange geltend gemacht werden, wie eine Korrektur im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren noch möglich ist. Wurde ein Verwaltungsakt bestandskräftig oder ist eine Bewilligungsentscheidung unanfechtbar geworden, kann der Herstellungsanspruch nur noch innerhalb der Fristen zur Rücknahme oder Änderung von Verwaltungsakten nach §§ 44, 48 SGB X oder innerhalb der einschlägigen Überprüfungsfristen verfolgt werden. Die konkrete Geltendmachung sollte daher möglichst zeitnah erfolgen, um keine Rechtsverluste hinsichtlich Nachzahlung oder Leistungsgewährung zu riskieren.

Besteht eine Mitwirkungspflicht des Betroffenen bei der Geltendmachung des Herstellungsanspruchs?

Auch bei Vorliegen aller Voraussetzungen für einen Herstellungsanspruch ist der Betroffene grundsätzlich zur Mitwirkung verpflichtet. Das bedeutet, er muss alle zur Aufklärung des Sachverhalts beitragenden Informationen und Unterlagen vorlegen, wahrheitsgemäße Angaben machen und auf behördliche Auskunftsersuchen reagieren (§ 60 SGB I). Versäumt der Leistungsberechtigte es, trotz entsprechender Aufforderung des Trägers, notwendige Mitwirkungshandlungen vorzunehmen oder fehlen substanzielle Angaben, die zur Anspruchsdurchsetzung unabdingbar sind, kann dies zur Versagung oder Einschränkung des Herstellungsanspruchs führen. Die Mitwirkungsobliegenheiten entsprechen dabei jenen allgemeinen Anforderungen, die im Sozialverwaltungsverfahren gelten, und sichern eine sachgerechte Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für den Herstellungsanspruch.