Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht
Definition und rechtliche Einordnung
Das Günstigkeitsprinzip ist ein zentrales Prinzip im Arbeitsrecht und bezeichnet die Regel, dass bei Kollision mehrerer arbeitsrechtlicher Regelungen zugunsten der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers stets die für ihn vorteilhaftere Norm Anwendung findet. Dieses Prinzip sichert Mitarbeitenden eine mindestens gleichbleibende oder verbesserte Rechtsposition und verhindert Verschlechterungen, wenn unterschiedliche Regelungsebenen – etwa Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag – parallel greifen.
Das Günstigkeitsprinzip findet seinen Ursprung im sozialen Schutzgedanken des Arbeitsrechts und trägt zur Herstellung und Wahrung der Arbeitnehmerrechte bei. Es wirkt als Schranke insbesondere beim Rangverhältnis von Normen zugunsten schwächerer Parteien im Arbeitsverhältnis.
Systematische Einordnung im Normengefüge
Rangprinzip vs. Günstigkeitsprinzip
Im Arbeitsrecht existiert ein mehrstufiges Rangprinzip, nach dem höherrangige Regelungen grundsätzlich niedrigrangige verdrängen. Die Hierarchie sieht wie folgt aus:
- Verfassungsrecht (GG, EU-Recht)
- Gesetzesrecht (z. B. Arbeitszeitgesetz)
- Tarifvertrag
- Betriebsvereinbarung
- Arbeitsvertrag
- Arbeitsanweisung / Direktionsrecht
Das Günstigkeitsprinzip durchbricht dieses starre Rangprinzip zugunsten der Arbeitnehmenden: Enthält beispielsweise eine Betriebsvereinbarung günstigere Regelungen als der verschlechternde Tarifvertrag, so findet die günstigere Betriebsvereinbarung Anwendung.
Günstigkeitsvergleich
Der Günstigkeitsvergleich erfolgt im Wege einer umfassenden Interessenabwägung. Dabei ist einerseits eine Gesamtwürdigung zugelassen, andererseits wird überwiegend ein sog. elementweise Günstigkeitsvergleich präferiert: Es wird für jede einzelne Regelung konkret geprüft, welche für die Arbeitnehmerseite vorteilhafter ist. Eine pauschale Gegenüberstellung von Gesamtregelungswerken ist hingegen nicht zulässig. Maßstab ist das subjektive Interesse der betroffenen Mitarbeitenden.
Anwendung des Günstigkeitsprinzips
Tarifvertrag und Arbeitsvertrag
Eine der wichtigsten Anwendungsbereiche ist das Verhältnis von Tarifvertrag zum individuellen Arbeitsvertrag (§ 4 Abs. 3 TVG – Tarifvertragsgesetz). Vereinbaren die Parteien eine arbeitsvertragliche Regelung, die für den/die Mitarbeitende/n günstiger ist als der Tarifvertrag, so findet diese Anwendung. Schlechterstellende Einzelabsprachen sind dagegen grundsätzlich unwirksam.
Beispiel
Ein Arbeitsvertrag sieht eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden und 32 Urlaubstage im Jahr vor, der allgemeinverbindliche Tarifvertrag 39 Stunden und 30 Urlaubstage. Es gilt für die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer der Arbeitsvertrag in Bezug auf Arbeitszeit und Urlaub.
Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag
Eine Betriebsvereinbarung kann eine im Tarifvertrag geregelte Materie nur dann zugunsten der Mitarbeitenden abweichend regeln, soweit diese günstiger ist. § 77 Abs. 3 BetrVG normiert hier das sogenannte Tarifsperrprinzip, das der Betriebsvereinbarung enge Grenzen setzt. Dennoch besteht nach ständiger Rechtsprechung ein Raum für das Günstigkeitsprinzip.
Beispiel
Eine Betriebsvereinbarung sieht für Überstundenarbeit einen Zuschlag von 30 % vor, der Tarifvertrag nur 25 %. Die höhere Vergütung aus der Betriebsvereinbarung ist für Beschäftigte maßgeblich.
Gesetz und vertragliche Vereinbarung
Grundsätzlich gilt der Gesetzesvorrang. Allerdings gestatten viele arbeitsrechtliche Gesetze ausdrücklich oder konkludent Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmenden. Eine vertragliche Vereinbarung, die den gesetzlichen Anspruch beispielsweise auf mehr Urlaubstage erweitert, ist wirksam und genießt Vorrang.
Beispiel
Das Bundesurlaubsgesetz sieht einen Mindesturlaub von 24 Werktagen vor. Ein Arbeitsvertrag, der darüber hinaus 30 Werktage vorsieht, ist im Rahmen des Günstigkeitsprinzips zulässig.
Grenzen des Günstigkeitsprinzips
Zwingendes Recht und Normenhierarchie
Nicht in allen Fällen ist das Günstigkeitsprinzip uneingeschränkt anwendbar. Das gilt insbesondere bei zwingendem Gesetzesrecht, insbesondere bei Schutzvorschriften wie dem Kündigungsschutzgesetz oder bei öffentlich-rechtlichen Arbeitsbedingungen, die nicht zu Lasten öffentlicher Interessen abbedungen werden können.
Tarifdispositives Recht
Es gibt Normen, die ausdrücklich ermöglichen, durch Tarifvertrag von gesetzlichen Vorschriften abzuweichen (tarifdispositives Recht). Hierbei können auch abweichende, aber nicht notwendig günstigere Regelungen für die Arbeitnehmerseite geschaffen werden, sofern Gesetzgeber dies zulässt.
Gesamtbeurteilung vs. Einzelelemente
Das Günstigkeitsprinzip ist auf Einzelfallbetrachtungen ausgerichtet. Versuchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ein Gesamtpaket einzuführen, das Einzelverschlechterungen durch Gesamtvorteile „kompensiert“, ist dies grundsätzlich unwirksam. Eine solche Anwendung widerspräche Sinn und Zweck des Günstigkeitsprinzips.
Bedeutung in der Praxis
Arbeitsvertragsgestaltung
Das Günstigkeitsprinzip beeinflusst maßgeblich die Gestaltung von Arbeitsverträgen. Arbeitgeber sind gehalten, im Rahmen der jeweiligen einschlägigen Gesetze, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen darauf zu achten, dass keine für die Mitarbeitenden schlechteren Regelungen enthalten sind, da diese unwirksam wären.
Kollisionslösung zwischen Normen
Bei Überschneidungen und Kollisionen verschiedener Regelungsbereiche sichert das Günstigkeitsprinzip stets das höhere Schutzniveau, solange dem nicht zwingende gesetzliche Vorschriften entgegenstehen.
Gerichtliche Überprüfung
Arbeitsgerichte greifen bei Streitigkeiten um die Auslegung arbeitsvertraglicher, tariflicher und betriebsverfassungsrechtlicher Regelungen regelmäßig auf das Günstigkeitsprinzip zurück. So wird gewährleistet, dass eine angemessene und faire Lösung für die Arbeitnehmenden gefunden wird.
Literatur und Rechtsprechung
Gesetzliche Grundlagen
- Tarifvertragsgesetz (TVG), insbesondere § 4 Abs. 3 TVG
- Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), insbesondere § 77 Abs. 3 BetrVG
- Bundesurlaubsgesetz (BUrlG)
Wichtige Rechtsprechung
- BAG, Urteil vom 27.01.1997 – 10 AZR 617/96 (Günstigkeitsvergleich)
- BAG, Urteil vom 14.01.2009 – 10 AZR 219/08
Zusammenfassung
Das Günstigkeitsprinzip nimmt innerhalb des Arbeitsrechts eine herausragende Stellung ein. Es schützt Arbeitnehmende vor Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen und stellt sicher, dass bei mehreren konkurrierenden Normen stets die günstigste Regelung Anwendung findet. Seine Relevanz begründet sich aus dem sozialen Schutzgedanken und dem Ziel des Arbeitsrechts, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern herzustellen. Das Prinzip ist jedoch begrenzt durch zwingendes Recht und das Tarifsystem, bleibt jedoch ein Garant für Mindestschutz und Besserstellung im Arbeitsverhältnis.
Häufig gestellte Fragen
Was passiert, wenn mehrere arbeitsrechtliche Regelungen unterschiedlich günstige Bedingungen für den Arbeitnehmer vorsehen?
Unterschieden sich arbeitsrechtliche Regelungen – beispielsweise durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder individuelle Arbeitsverträge – in ihren jeweiligen Regelungsinhalten zugunsten oder zulasten des Arbeitnehmers, ist das sogenannte Günstigkeitsprinzip maßgeblich. Rechtsgrundlage ist insbesondere § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (TVG). Das Günstigkeitsprinzip besagt im Wesentlichen, dass für den Arbeitnehmer stets die für ihn vorteilhaftere Regelung gilt. Dabei wird auf einen unmittelbaren, objektiven Vergleich der betroffenen Regelungen abgestellt. Nicht jede Einzelbestimmung wird isoliert betrachtet, sondern Gruppen inhaltlich zusammengehörender Regelungen – sogenannte Regelungspakete – können einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden. Sollte die Günstigkeit nicht eindeutig bestimmt werden können, weil die eine Regelung z. B. höheren Lohn, die andere aber längeren Urlaub vorsieht, so erfolgt ein umfassender Interessenvergleich im Hinblick auf die konkrete Anwendung im Einzelfall. Die einzelvertraglichen Vereinbarungen dürfen zwar gegenüber tarifvertraglichen Regelungen nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abweichen (Tarifvorbehalt nach § 4 Abs. 3 TVG), wohl aber zu dessen Gunsten. Das Günstigkeitsprinzip findet Anwendung insbesondere bei der Kollision arbeitsvertraglicher und kollektiver arbeitsrechtlicher Vorschriften, wobei stets die bestmögliche Rechtsposition des Arbeitnehmers zu suchen ist.
Gilt das Günstigkeitsprinzip auch bei kollektivrechtlichen Normenkollisionen, etwa zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung?
Das Günstigkeitsprinzip findet grundlegend immer dann Anwendung, wenn verschiedene arbeitsrechtliche Normen in einem Rangverhältnis zueinanderstehen und sich Inhalt und Wirkung auf das Arbeitsverhältnis unterschiedlich auswirken. Zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung besteht grundsätzlich der Grundsatz der Tarifvorrangigkeit (§ 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz – BetrVG): Eine Betriebsvereinbarung darf keine Angelegenheiten regeln, die bereits tariflich festgelegt sind oder üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werden können, außer der Tarifvertrag lässt ausdrücklich abweichende Regelungen zu. In Einzelfällen kann jedoch das Günstigkeitsprinzip greifen, wenn mehrere Tarifverträge oder mehrere Betriebsvereinbarungen existieren. Bei der Kollision zwischen einem Tarifvertrag und einer Betriebsvereinbarung hat jedoch der Tarifvertrag grundsätzlich Vorrang, unabhängig davon, ob die Betriebsvereinbarung günstiger wäre. Das Günstigkeitsprinzip gilt in diesen Konstellationen also nicht uneingeschränkt, sondern unterliegt den Schranken des Tarifvorrangs.
Findet das Günstigkeitsprinzip auch auf öffentlich-rechtliche Vorschriften Anwendung?
Das Günstigkeitsprinzip bezieht sich ausschließlich auf das Verhältnis arbeitsrechtlicher, dispositiver (abdingbarer) Normen untereinander und gegenüber dem Arbeitsvertrag. Öffentlich-rechtliche Vorschriften, insbesondere solche, die dem Arbeitsrecht durch zwingende Schutzbestimmungen Rahmenbedingungen setzen (wie das Arbeitszeitgesetz oder das Bundesurlaubsgesetz), sind hiervon grundsätzlich ausgenommen und bewegen sich auf einer anderen Regelungsebene. Sie können weder durch Tarifvertrag, noch durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag zum Nachteil, aber auch nicht zugunsten des Arbeitnehmers abgeändert werden, soweit es sich um unabdingbare Schutzvorschriften handelt. Lediglich dort, wo öffentlich-rechtliche Regelungen selbst Öffnungsklauseln enthalten, kann das Günstigkeitsprinzip wieder eingreifen, etwa wenn auf tarifvertragliche Reglungen verwiesen wird.
Wie wird die Günstigkeit verschiedener Regelungen im Einzelfall festgestellt?
Die Feststellung, welche Regelung im Sinne des Günstigkeitsprinzips für den Arbeitnehmer die günstigere ist, erfolgt durch einen inhaltlichen Vergleich der jeweils kollidierenden Vorschriften. Es muss nicht jede Einzelbestimmung getrennt bewertet werden; vielmehr sind sogenannte Sachgruppen zu betrachten. Dazu können etwa Arbeitszeit, Urlaub, Entgelt oder Kündigungsschutz gehören. Die Regelung, die in der jeweiligen Sachgruppe dem Arbeitnehmer insgesamt vorteilhaftere Bedingungen verschafft, gilt als günstiger. Besteht ein Regelungskonflikt, bei dem die eine Vorschrift in einem Punkt günstiger, in einem anderen aber ungünstiger ist, ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. In der Praxis wird dabei häufig auf die konkrete wirtschaftliche und persönliche Bedeutung für den betroffenen Arbeitnehmer abgestellt. Die Rechtsprechung stellt hohe Anforderungen an die Vergleichbarkeit und die Feststellung des Günstigkeitsvorrangs, sodass nicht selten eine gerichtliche Klärung erforderlich wird.
Gibt es Situationen, in denen das Günstigkeitsprinzip keine Anwendung findet?
Ja, das Günstigkeitsprinzip ist nicht in allen Konstellationen anwendbar. Es greift nicht bei zwingenden gesetzlichen Vorschriften (etwa im Bereich des Arbeitsschutzes), die weder abweichende noch günstigere Regelungen zulassen. Ebenso bleibt das Prinzip außen vor, wenn speziellere Vorrang- und Sperrregeln greifen, wie etwa der Tarifvorrang gegenüber Betriebsvereinbarungen nach § 77 Abs. 3 BetrVG. Auch bei sogenannten „Mindestarbeitsbedingungen“ gilt nicht das Günstigkeitsprinzip, soweit eine Unterschreitung ausgeschlossen ist, eine Verbesserung aber immer möglich bleibt. Außerdem ist das Günstigkeitsprinzip auch dann nicht anwendbar, wenn sich zwei gleichrangige, aber abgeschlossene Rechtsquellen nicht überschneiden, sondern jeweils andere Regelungsgegenstände betreffen.
Kann das Günstigkeitsprinzip auch zugunsten des Arbeitgebers wirken?
Nein, das Günstigkeitsprinzip greift ausschließlich zugunsten des Arbeitnehmers. Es soll gewährleisten, dass im Falle kollidierender arbeitsrechtlicher Vorschriften der Arbeitnehmer stets die für ihn vorteilhaftere Regelung beanspruchen kann. Eine Anwendung zugunsten des Arbeitgebers ist rechtlich ausgeschlossen. Kollektive Regelungen oder individuelle Vereinbarungen, die vom Günstigkeitsprinzip abweichen und den Arbeitnehmer schlechter stellen würden, sind regelmäßig unwirksam oder nicht anwendbar. Dies korrespondiert mit dem arbeitsrechtlichen Schutzzweck, den das Prinzip verfolgt.
Welche Rolle spielt das Günstigkeitsprinzip nach Beendigung eines Tarifvertrages („Nachwirkung“)?
Nach Ablauf eines Tarifvertrags bleiben dessen Regelungen nach § 4 Abs. 5 TVG „nachwirkend“ weiterhin Bestandteil des Arbeitsverhältnisses, sofern sie nicht durch eine andere Vereinbarung ersetzt oder abgeändert werden. Auch hierbei ist das Günstigkeitsprinzip anwendbar. Erhält der Arbeitnehmer etwa aufgrund einer neuen arbeitsvertraglichen Vereinbarung oder eines neuen Tarifvertrags für bestimmte Arbeitsbedingungen eine günstigere Regelung, tritt diese an die Stelle der nachwirkenden Tarifregelung. Dabei entscheidet auch hier der objektive Günstigkeitsvergleich, wobei im Zweifel dasjenige Regelungspaket übernommen wird, das dem Arbeitnehmer bessere Konditionen zuspricht.