Begriff und rechtliche Grundstruktur der gewerblichen Berufsgenossenschaften
Die gewerblichen Berufsgenossenschaften (BG) sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts in Deutschland. Sie fungieren als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für Beschäftigte in Gewerbebetrieben. Die Rechtsgrundlagen ergeben sich maßgeblich aus dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Ziel der gewerblichen Berufsgenossenschaften ist der Schutz der Arbeitnehmenden vor den Folgen von Arbeitsunfällen, Wegeunfällen und Berufskrankheiten sowie die Prävention von Unfall- und Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz.
Gesetzliche Grundlagen und Aufgaben
Gesetzliche Verankerung
Die Rechtsstellung, Aufgaben und Organisationsform der gewerblichen Berufsgenossenschaften sind im SGB VII geregelt:
- §§ 114 ff. SGB VII: Hier werden Aufgaben, Struktur, Finanzierung und Aufsicht geregelt.
- §§ 125-176 SGB VII: Diese Abschnitte enthalten Bestimmungen zu Organisation, Rechtsaufsicht, Finanzierung und Selbstverwaltung.
Daneben gelten spezielle Unfallverhütungsvorschriften (UVV), die von den Berufsgenossenschaften eigenständig erlassen werden.
Zentrale Aufgaben
Zu den gesetzlichen Aufgaben der gewerblichen Berufsgenossenschaften zählen insbesondere:
- Prävention von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren durch Beratung, Überwachung der Betriebe und Erlass von Unfallverhütungsvorschriften (§ 14 SGB VII).
- Rehabilitation und Entschädigung der Versicherten nach Eintritt des Versicherungsfalls (§ 13 SGB VII).
- Durchführung der Versicherungspflicht, Beitragserhebung und Verwaltung des Versicherungssystems.
Organisation und Selbstverwaltung
Aufbau
Gewerbliche Berufsgenossenschaften sind als Selbstverwaltungskörperschaften organisiert. Ihre Organe bestehen aus Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitgeber und Versicherten, die jeweils paritätisch besetzt sind:
- Vertreterversammlung: Oberstes Organ, vergleichbar mit einem Parlament.
- Vorstand: Führt die laufende Verwaltung und überwacht den Geschäftsführer.
- Geschäftsführung: Zuständig für die alltägliche Leitung und Umsetzung der Aufgaben.
Die Selbstverwaltung garantiert eine gleichberechtigte Mitbestimmung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite über wesentliche Entscheidungen.
Aufsicht
Die gewerblichen Berufsgenossenschaften unterliegen der Rechtsaufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS).
Versicherungsschutz und Versicherte
Versicherungspflicht
Gemäß § 2 SGB VII sind alle abhängig Beschäftigten in gewerblichen Betrieben gesetzlich unfallversichert. Der Versicherungsschutz umfasst auch besondere Personengruppen, wie Auszubildende, Schüler während betrieblicher Praktika und in bestimmten Fällen ehrenamtlich Tätige.
Umfang des Versicherungsschutzes
Der Versicherungsschutz der gewerblichen Berufsgenossenschaften erstreckt sich auf:
- Arbeitsunfälle (Unfälle infolge einer versicherten Tätigkeit)
- Wegeunfälle (Unfälle auf dem direkten Weg zur oder von der Arbeitsstätte)
- Berufskrankheiten (im Anhang zur Berufskrankheiten-Verordnung gelistete Krankheiten, die durch berufliche Tätigkeit verursacht werden)
Leistungen der gewerblichen Berufsgenossenschaften
Prävention
Ein zentrales Element der gewerblichen Berufsgenossenschaften ist die Präventionsarbeit. Dazu zählen:
- Sicherheitsunterweisungen und Schulungen
- Betriebsbegehungen und Überwachungen
- Beratung zu Arbeits- und Gesundheitsschutz
- Erlass und Durchsetzung von Unfallverhütungsvorschriften
Rehabilitation und Entschädigung
Im Schadensfall übernehmen die gewerblichen Berufsgenossenschaften umfangreiche Leistungen nach dem sogenannten „SGB VII-Prinzip: Rehabilitation vor Rente“. Die Leistungen umfassen:
- Heilbehandlungskosten
- Medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation (Reha-Management)
- Verletztengeld und Übergangsgeld während der Arbeitsunfähigkeit
- Rentenleistungen bei dauerhafter Minderung der Erwerbsfähigkeit
- Hinterbliebenenleistungen im Todesfall
Finanzierung der gewerblichen Berufsgenossenschaften
Die Finanzierung erfolgt überwiegend durch Umlagen, die von den Unternehmern der versicherten Betriebe entsprechend der Gefahrklasse und Lohnsumme entrichtet werden. Staatliche Zuschüsse werden nicht gewährt, da das System als Umlageverfahren organisiert ist.
Die Beiträge werden jährlich neu berechnet. Grundlage für die Beitragsbemessung sind die Gefahrtarife, die von der jeweiligen Berufsgenossenschaft aufgestellt werden. Die Beitragshöhe orientiert sich an der jeweiligen Gefahrenlage des Unternehmens und kann durch wirksame Präventionsmaßnahmen positiv beeinflusst werden.
Mitgliederstruktur und Zuständigkeit
Abgrenzung nach Wirtschaftsbereichen
Jede gewerbliche Berufsgenossenschaft ist für eine oder mehrere Branchen bzw. Gewerbezweige zuständig. Die Mitgliedschaft ergibt sich kraft Gesetzes mit der Aufnahme einer gewerblichen Tätigkeit. Die wichtigsten gewerblichen Berufsgenossenschaften sind in der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) als Spitzenverband organisiert.
Einige Beispiele:
- Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU)
- Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM)
- Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW)
Zuständigkeitsabgrenzung
Neben den gewerblichen Berufsgenossenschaften existieren eigenständige Unfallversicherungsträger für den öffentlichen Dienst und die Landwirtschaft. Die Zuordnung richtet sich in der Regel nach der Art des Gewerbes, wie sie im Betrieb aufgenommen wird.
Rechtsschutz und Rechtsweg
Entscheidungen der gewerblichen Berufsgenossenschaften sind Verwaltungsakte. Gegen diese können betroffene Personen oder Unternehmen Widerspruch einlegen und im weiteren Verlauf Klage vor den Sozialgerichten erheben (Sozialgerichtsbarkeit).
Streitigkeiten betreffen häufig die Anerkennung eines Versicherungsfalls oder die Höhe der Rentenleistungen.
Reformen und Reformbedarf
Die Reform der gesetzlichen Unfallversicherung 2008 führte zur Reduzierung und Umstrukturierung der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Ziel war es, die Verwaltungsstruktur zu verschlanken und den Versichertenschutz weiter zu verbessern. Übergreifend werden die Aufgabenfelder Prävention und Gesundheitsförderung weiterhin ausgebaut, insbesondere im Hinblick auf neue Arbeitsformen und digitale Arbeitswelten.
Bedeutung und Praxisrelevanz
Gewerbliche Berufsgenossenschaften nehmen als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eine zentrale Rolle im deutschen Sozialversicherungssystem ein. Sie gewährleisten den gesetzlichen Arbeitsschutz, die betriebliche Prävention und die soziale Absicherung von Millionen Beschäftigten. Ihr Wirken ist maßgeblich für die Verhütung und Bewältigung berufsbedingter Risiken in der Arbeitswelt.
Quellenhinweis: Die vorstehenden Ausführungen orientieren sich an den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen sowie den Veröffentlichungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und den Berufsgenossenschaften.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Pflichten haben Unternehmen gegenüber der gewerblichen Berufsgenossenschaft?
Unternehmen sind gemäß § 192 SGB VII (Siebtes Buch Sozialgesetzbuch) gesetzlich verpflichtet, sich unverzüglich nach Aufnahme einer gewerblichen Tätigkeit bei der zuständigen gewerblichen Berufsgenossenschaft anzumelden. Diese Meldepflicht besteht unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer beschäftigt werden oder ob bereits andere Sozialversicherungen bestehen. Mit der Anmeldung wird das Unternehmen Mitglied der Berufsgenossenschaft und ist verpflichtet, für alle Arbeitnehmer und – unter bestimmten Voraussetzungen – auch für mitarbeitende Unternehmer selbst Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung zu entrichten. Darüber hinaus sind Unternehmen verpflichtet, verdächtige oder tatsächliche Arbeitsunfälle sowie Berufskrankheiten unverzüglich der Berufsgenossenschaft zu melden (Anzeigepflicht gem. § 193 SGB VII). Zusätzlich müssen Unternehmen gesetzliche Vorgaben zum Arbeitsschutz und zur Unfallverhütung beachten – dazu zählen insbesondere die Umsetzung der Unfallverhütungsvorschriften (UVV) der jeweiligen Berufsgenossenschaft sowie die Bereitstellung und Dokumentation entsprechender Maßnahmen im Betrieb. Verstöße gegen diese rechtlichen Pflichten können zu erheblichen Bußgeldern oder sogar strafrechtlichen Konsequenzen führen.
Wie gestaltet sich das Beitragsverfahren bei der gewerblichen Berufsgenossenschaft rechtlich?
Nach §§ 157 ff. SGB VII erfolgt die Erhebung der Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung durch die gewerbliche Berufsgenossenschaft als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Höhe des Beitrags wird nach dem Umlageverfahren berechnet, wobei sich der Beitrag am Arbeitsentgelt der Beschäftigten sowie an der Gefahrklasse der jeweiligen Unternehmensbranche orientiert. Unternehmen sind verpflichtet, bis zum 16. Februar eines jeden Jahres eine sogenannte Entgeltnachweisung bei der Berufsgenossenschaft einzureichen, in der sämtliche beitragspflichtigen Entgelte des Vorjahres aufgeführt werden. Auf dieser Basis ergeht ein Beitragsbescheid. Gegen diesen Bescheid kann das Unternehmen innerhalb der gesetzlichen Frist Widerspruch einlegen. Eigenständige Versicherungen außerhalb dieses Pflichtsystems sind rechtlich nicht zulässig, da die gesetzliche Unfallversicherung als obligatorisches System ausgestaltet ist. Kommt ein Unternehmen seinen Beitragspflichten nicht nach, kann die Berufsgenossenschaft die Beiträge im Wege der Zwangsvollstreckung einziehen.
Welche besonderen Rechte stehen Versicherten im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung zu?
Versicherte, also Arbeitnehmer bzw. unter bestimmten Voraussetzungen mitarbeitende Unternehmer, haben im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung umfassende Leistungsansprüche gegenüber der gewerblichen Berufsgenossenschaft. Im Falle eines Arbeits- oder Wegeunfalls oder dem Eintritt einer Berufskrankheit bestehen insbesondere ein Anspruch auf Heilbehandlung, medizinische und berufliche Rehabilitation sowie auf Verletztengeld und, im Falle einer dauerhaften Beeinträchtigung, auf Rente (Leistungen nach §§ 26 ff. SGB VII). Die Durchsetzung dieser Ansprüche erfolgt auf Antrag, wobei die Berufsgenossenschaft sowohl zur Ermittlung des Sachverhalts als auch zur Beratung und Aufklärung der Versicherten verpflichtet ist (vgl. §§ 21 und 67 SGB X). Sollte die Berufsgenossenschaft einen Antrag ablehnen, kann gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt werden, und im weiteren Schritt ist eine sozialgerichtliche Klage möglich.
Welche Rechtsmittel stehen Unternehmen bei Streitigkeiten mit der Berufsgenossenschaft zur Verfügung?
Im Falle von Streitigkeiten, insbesondere hinsichtlich Beitragsbescheiden, Anerkennung von Unfällen oder der Einstufung in Gefahrenklassen, stehen Unternehmen die üblichen sozialrechtlichen Rechtsmittel zur Verfügung. Nach Erhalt eines belastenden Verwaltungsakts (z.B. Beitragsbescheid oder Gefahrenklassenbescheid) kann innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe des Bescheides schriftlich oder zur Niederschrift bei der Berufsgenossenschaft Widerspruch eingelegt werden (§ 84 SGG). Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, erlässt die Berufsgenossenschaft einen Widerspruchsbescheid. Hiergegen kann das Unternehmen Klage beim zuständigen Sozialgericht erheben (§ 87 SGG). Der Weg über Schlichtungsverfahren vor einer Einigungsstelle ist daneben ebenfalls möglich, sofern solche Verfahren von der jeweiligen Berufsgenossenschaft vorgesehen werden. Die Einleitung dieser Verfahren hemmt in der Regel nicht die Fristen für die gerichtlichen Rechtsmittel.
Wie erfolgt die Zuordnung eines Unternehmens zur zuständigen Berufsgenossenschaft und was sind die rechtlichen Folgen einer fehlerhaften Zuordnung?
Die Zuordnung eines Unternehmens zu einer bestimmten Berufsgenossenschaft richtet sich nach der wirtschaftlichen Haupttätigkeit des Betriebes. Die entsprechenden Wirtschaftszweige sind in der Anlage 1 zur DGUV Vorschrift 1 – „Grundsätze der Prävention“ bzw. in ergänzenden Rechtsverordnungen geregelt. Im Zweifel entscheidet die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) oder die Aufsichtsbehörde. Eine fehlerhafte Zuordnung kann weitreichende rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen: Beitragsforderungen der tatsächlich zuständigen Berufsgenossenschaft, gegebenenfalls sogar rückwirkend, oder Leistungsablehnungen bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, wenn ein Versicherungsfall nicht anerkannt werden kann. Unternehmen sind daher verpflichtet, bei Änderungen der Haupttätigkeit oder anderen relevanten Änderungen diese unverzüglich der Berufsgenossenschaft anzuzeigen, um eine korrekte Zuordnung sicherzustellen.
Welche gesetzlichen Meldeverpflichtungen bestehen gegenüber der Berufsgenossenschaft im laufenden Betrieb?
Über die Erstanmeldung hinaus bestehen für Unternehmen zahlreiche Meldeverpflichtungen. Diese umfassen die jährliche Entgeltnachweisung für die Beitragsberechnung (§ 165 SGB VII), die unverzügliche Meldung von Arbeitsunfällen oder Wegeunfällen, die zu mehr als drei Tagen Arbeitsunfähigkeit führen (§ 193 SGB VII), sowie die Meldung von (Verdachts-)Fällen von Berufskrankheiten (§ 202 SGB VII). Änderungen im Betrieb, wie die Aufnahme neuer Tätigkeiten, eine Betriebsverlegung oder ein Wechsel der Rechtsform, sind ebenfalls zeitnah mitzuteilen. Verstöße gegen Meldepflichten können Bußgelder nach sich ziehen oder im Schadensfall zu einer Leistungsverweigerung führen.
Inwieweit sind Geschäftsführer oder andere Betriebsverantwortliche persönlich haftbar bei Verstößen gegen berufsgenossenschaftliche Vorschriften?
Geschäftsführer, Inhaber oder andere Betriebsverantwortliche sind verpflichtet, die berufsgenossenschaftlichen Vorschriften und alle mit dem Arbeitsschutz zusammenhängenden gesetzlichen Regeln einzuhalten. Bei Verstößen, insbesondere wenn Weisungen zur Unfallverhütung unterlassen oder erforderliche Schutzmaßnahmen nicht umgesetzt werden, kann neben einer Ordnungswidrigkeit auch eine strafrechtliche Haftung eintreten (§§ 209, 210 SGB VII i.V.m. § 130 OWiG und § 823 BGB). Die persönliche Haftung umfasst dabei sowohl finanzielle Folgen im Bereich Bußgelder als auch mögliche Regressforderungen der Berufsgenossenschaft. Im Rahmen von Personenschäden können unterlassene Präventionsmaßnahmen zudem zu einer sog. Durchgriffshaftung führen, wodurch das Privatvermögen der Geschäftsführer in Anspruch genommen werden kann. Auch eine Mitschuld bei Arbeitsunfällen und eine strafrechtliche Verfolgung (z.B. wegen fahrlässiger Körperverletzung) sind in der Folge nicht ausgeschlossen.