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Gefahrenabwehr


Begriff und rechtliche Grundlagen der Gefahrenabwehr

Die Gefahrenabwehr bezeichnet im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland sämtliche Maßnahmen, die dazu dienen, drohende oder bereits eingetretene Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren oder zu beseitigen. Sie stellt einen wesentlichen Teil des Gefahrenabwehrrechts als Unterkategorie des besonderen Verwaltungsrechts dar. Gefahrenabwehr verfolgt das Ziel, Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und sonstige bedeutende Gemeinschaftswerte vor Schaden zu bewahren oder entstandene Schäden zu begrenzen.

Historische Entwicklung

Die Entwicklung des Gefahrenabwehrrechts geht zurück auf das preußische Polizeirecht des 19. Jahrhunderts. Zentrale Begriffe wie „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ sowie die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung entwickelten sich im Lauf der Zeit aus dem Verständnis staatlicher Aufgaben als Daseinsvorsorge.

Gesetzliche Regelungen und Zuständigkeiten

Rechtsquellen der Gefahrenabwehr

Die maßgeblichen gesetzlichen Grundlagen befinden sich überwiegend in den Polizeigesetzen der Bundesländer (Polizeigesetze, z.B. PolG NRW, PolG Bayern), dem Bundes-Verfassungsschutzgesetz, den Brand- und Katastrophenschutzgesetzen sowie dem Bundespolizeigesetz. Hinzu kommen Regelungen im Infektionsschutzgesetz (IfSG) und speziellen Fachgesetzen wie im Umweltrecht.

Polizeirecht

Im Polizeirecht werden die Befugnisse der Polizei geregelt, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Diese Gesetze definieren insbesondere Begrifflichkeiten wie „Gefahr“, „konkrete Gefahr“, „abstrakte Gefahr“ und „Störung“. Die Formulierung und Ausgestaltung der Regelungen erfolgt im Zuge der Länderkompetenz überwiegend landesrechtlich.

Besondere Behörden

Neben der Polizei sind weitere Ordnungsbehörden, wie die Ordnungsämter, die Feuerwehr, Gesundheitsämter oder Katastrophenschutzbehörden, mit Aufgaben der Gefahrenabwehr betraut. Ihre rechtliche Grundlage bildet das allgemeine Ordnungsrecht.

Zuständigkeiten

Die Abwehr von Gefahren ist primär Aufgabe der jeweils zuständigen Gefahrenabwehrbehörden. Das sind in erster Linie die Polizeibehörden, daneben aber auch untere Ordnungsbehörden (städtische oder kommunale Ämter), Kreisverwaltungen sowie im Katastrophenfall die Katastrophenschutzbehörden.

Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen

Begriff der Gefahr

Der zentrale Rechtsbegriff ist die Gefahr. Juristisch meint Gefahr einen Sachverhalt, bei dem im konkreten Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass bei ungehindertem Geschehensablauf ein Schaden für ein rechtlich geschütztes Interesse eintritt.

Konkrete Gefahr

Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn bei ungehindertem Ablauf des erkannten Geschehens Schadenseintritt für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder einzelne Rechtsgüter hinreichend wahrscheinlich ist.

Abstrakte Gefahr

Die abstrakte Gefahr beschreibt eine Sachlage, bei der bei typisierender Betrachtung nach allgemeiner Erfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadenseintritte möglich sind, auch wenn im Einzelfall noch kein unmittelbarer Schaden droht.

Störung

Eine Störung liegt bereits dann vor, wenn das geschützte Rechtsgut beeinträchtigt ist; es handelt sich um ein „Mehr“ gegenüber der Gefahr.

Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung

Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz der Unversehrtheit der Rechtsordnung, des Staates und seiner Einrichtungen sowie der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen. Die öffentliche Ordnung bezeichnet die ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach allgemein anerkannten Auffassungen als unerlässlich für ein geordnetes Zusammenleben gilt.

Maßnahmen der Gefahrenabwehr

Allgemeine und besondere Maßnahmen

Die Behörden verfügen zur Abwehr von Gefahren sowohl über allgemeine Befugnisse (sogenannte Generalklausel) als auch über spezielle Befugnisse, die sich auf bestimmte Situationen oder Maßnahmen beziehen, beispielsweise Platzverweise, Gewahrsamnahmen oder Durchsuchungen.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Alle Maßnahmen der Gefahrenabwehr unterliegen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie müssen erforderlich, geeignet und angemessen sein, das heißt, sie dürfen das betroffene Rechtsgut nicht stärker beeinträchtigen als zum Schutz des übergeordneten Rechtsguts notwendig ist.

Maßnahmen gegenüber Störern und Nichtstörern

Die Behörden dürfen Maßnahmen vorrangig gegen sogenannte Störer richten, also solche Personen, die die Gefahr verursachen oder zu verantworten haben. In Ausnahmefällen ist ein Vorgehen gegen Nichtstörer zulässig, um erheblichen Schaden abzuwenden, wenn Gefahren anders nicht begegnet werden kann (z.B. Inanspruchnahme von Nichtstörern nach polizeirechtlichen Vorschriften).

Gefahrenabwehr und Grundrechte

Grundrechtseingriffe

Maßnahmen der Gefahrenabwehr können zu Grundrechtseingriffen führen, z.B. in die Freiheit der Person, das Eigentum oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Hierbei müssen die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes beachtet werden.

Vorbehalt des Gesetzes und Bestimmtheitsgebot

Nach den Grundsätzen des Vorbehalts des Gesetzes sind Eingriffe in Grundrechte nur auf Grundlage eines formellen Gesetzes zulässig. Das Bestimmtheitsgebot verlangt, dass die gesetzlichen Eingriffsgrundlagen ausreichend bestimmt und vorhersehbar sind.

Gefahrenabwehr und Verhältnis zur Strafverfolgung

Unterscheidung zur repressiven Gefahrenabwehr

Während die Gefahrenabwehr auf die Vermeidung oder Beseitigung von Gefahren gerichtet ist (präventiv), dient die Strafverfolgung der Aufklärung und Verfolgung bereits begangener Straftaten (repressiv). Beide Aufgabenbereiche sind organisatorisch und rechtlich zu unterscheiden.

Doppelstellung der Polizei

Die Polizei nimmt sowohl Aufgaben der Gefahrenabwehr (präventive Maßnahmen) als auch der Strafverfolgung (repressive Maßnahmen) wahr. Die jeweiligen Handlungsgrundlagen sind unterschiedlich geregelt (Polizeigesetze vs. Strafprozessordnung).

Besondere Formen der Gefahrenabwehr

Gefahrenabwehr im Katastrophenschutz

Im Katastrophenfall tritt ein spezielles Gefahrenabwehrrecht in Kraft, das zusätzliche Kompetenzen und Pflichten vorsieht. Hierzu zählen die Koordination verschiedener Behörden, Einberufung von Hilfskräften, Beschlagnahmen und Anordnungen zur Gefahrenreduzierung.

Gefahrenabwehr im Infektionsschutz

Im Bereich des Infektionsschutzes existieren weitreichende Befugnisse zur Abwehr von Gefahren durch übertragbare Krankheiten (z.B. Quarantäne, Schließung von Einrichtungen, Verkehrsbeschränkungen), die insbesondere im Infektionsschutzgesetz geregelt sind.

Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Gefahrenabwehr

Ordentliche und verwaltungsgerichtliche Verfahren

Betroffene von Maßnahmen der Gefahrenabwehr haben die Möglichkeit, im Wege des Verwaltungsrechtsschutzes gegen behördliche Anordnungen vorzugehen. Hierzu stehen Rechtsbehelfe wie Widerspruch und Klage bereit.

Sofortvollzug und einstweiliger Rechtsschutz

Bestimmte Maßnahmen der Gefahrenabwehr können im Falle besonderer Dringlichkeit sofort vollzogen werden, auch wenn sie noch nicht bestandskräftig sind. In solchen Fällen kommt dem einstweiligen Rechtsschutz besondere Bedeutung zu.

Literatur und weiterführende Hinweise

Zur Vertiefung der Thematik Gefahrenabwehr bieten sich umfassende Standardwerke des öffentlichen Rechts, insbesondere aus dem Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts, an. Hier werden die rechtlichen Grundlagen, die Systematik und die aktuelle Rechtsprechung detailliert aufgearbeitet. Wesentliche Entwicklungen ergeben sich zudem regelmäßig aus Urteilen der Verwaltungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts.


Dieser Artikel vermittelt einen fundierten, rechtlich vertieften Überblick über die Gefahrenabwehr mit Schwerpunkt auf die gesetzlichen Grundlagen, Systematik und Rechtsanwendung im Bereich des öffentlichen Rechts.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist nach deutschem Recht zur Gefahrenabwehr zuständig?

Im deutschen Recht richtet sich die Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr nach Landesrecht, da die Gefahrenabwehr im Allgemeinen zur Kompetenz der Länder gehört und in den jeweiligen Polizeigesetzen beziehungsweise Ordnungsbehördengesetzen geregelt ist. In der Regel sind es die Polizei- und Ordnungsbehörden, die zur Gefahrenabwehr berufen sind. Dabei wird nach allgemeiner und besonderer Zuständigkeit unterschieden: Die allgemeine Gefahrenabwehr fällt in den Aufgabenbereich der Polizei- und Ordnungsbehörden, während bei speziellen Gefahren, wie etwa bei Umweltgefahren oder Gesundheitsgefahren, spezielle Fachbehörden (z.B. Gesundheitsamt, Umweltamt) zuständig werden können. Auf Bundesebene bestehen Weisungsrechte nur in Ausnahmefällen, etwa beim Bund-Länder-Katastrophenschutz. Die spezifische Zuständigkeit ergibt sich meist aus dem Wohn- oder Aufenthaltsort der betroffenen Person beziehungsweise dem Ort der Gefahr; Sachnähe spielt eine wichtige Rolle. Das sogenannte Opportunitätsprinzip gibt den Behörden einen Ermessensspielraum, ob und wie sie einschreiten.

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für Maßnahmen der Gefahrenabwehr vorliegen?

Für rechtmäßige Maßnahmen der Gefahrenabwehr müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss eine öffentliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegen, also eine konkrete oder zumindest hinreichend wahrscheinliche Bedrohung von Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum. Maßnahmen dürfen in der Regel nur bei gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden Gefahren eingeleitet werden (Grundsatz der Gegenwärtigkeit). Rechtlich verankert sind diese Voraussetzungen in den Polizeigesetzen der Länder. Darüber hinaus muss bei Eingriffen in Grundrechte das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden: Eine Maßnahme muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Zuständigkeits- und Formvorschriften (wie Anhörung, Begründung, Bekanntgabe von Verwaltungsakten) sind zu beachten. Typischerweise müssen die Behörde oder der handelnde Beamte sich auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stützen können (Vorbehalt des Gesetzes).

Welche Rolle spielen Gefahrengeneigtheit und Verhaltensverantwortlichkeit bei der Gefahrenabwehr?

Bei der Regelung von Verantwortlichkeiten unterscheidet das Gefahrenabwehrrecht zwischen der Verhaltensverantwortlichkeit (§§ 6-12, Musterpolizeigesetz) und der Zustandsverantwortlichkeit (§ 13, Musterpolizeigesetz). Die Verhaltensverantwortlichkeit knüpft daran an, dass jemand durch sein Tun oder Unterlassen eine Gefahr verursacht oder aufrechterhält – typisch ist das Verhalten von Störern. Gefahrengeneigtheit bedeutet, dass bestimmte Handlungen, Einrichtungen oder Zustände von sich aus typischerweise zu einer Gefahr führen können (z.B. der Betrieb einer Chemiefabrik). Die Zustandsverantwortlichkeit betrifft hingegen den Inhaber der tatsächlich gefährlichen Sache oder Anlage, unabhängig davon, ob ihn ein Verschulden trifft. In der Praxis prüft die Behörde, wer als Adressat einer Maßnahme in Betracht kommt („Störerprinzip“) und zieht primär den oder die verantwortlich Handelnden heran.

Welche Rechtsschutzmöglichkeiten stehen Betroffenen gegen Maßnahmen der Gefahrenabwehr zur Verfügung?

Betroffene von Maßnahmen der Gefahrenabwehr können sich auf dem Verwaltungsrechtsweg gegen Entscheidungen wehren. Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen sowohl hinsichtlich des Eingriffsakts selbst (etwa bei Ingewahrsamnahme, Platzverweis, Sicherstellung von Gegenständen) als auch bei belastenden Verwaltungsakten (z.B. Betretungsverbote, Auflagen). Der primäre Rechtsbehelf ist hier der Widerspruch (§ 68 VwGO), dem sich eine Klage vor dem Verwaltungsgericht anschließen kann. Bei besonders eilbedürftigen Fällen ist außerdem einstweiliger Rechtsschutz (§§ 80, 123 VwGO) möglich, womit zum Beispiel die aufschiebende Wirkung einer Klage angeordnet oder ein bestimmtes Verhalten untersagt werden kann. Maßnahmen, die in Grundrechte eingreifen, werden von den Gerichten besonders streng überprüft, insbesondere auf Rechtmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit und Zweckbindung.

Welche Bedeutung hat das Opportunitätsprinzip in der Gefahrenabwehr?

Das Opportunitätsprinzip räumt den Behörden einen Ermessensspielraum bei der Auswahl und Durchführung von Gefahrenabwehrmaßnahmen ein. Es besagt, dass Behörden nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden dürfen, ob (Ob-Ermessen) und wie (Wie-Ermessen) sie eingreifen. Das Opportunitätsprinzip wird durch die jeweiligen Landesgesetze geregelt und bildet das Gegenstück zum Legalitätsprinzip, das etwa im Strafrecht gilt. Bei schwerwiegenden Gefahren (z.B. akute Gefahr für Leib und Leben) reduziert sich das Ermessen auf ein sog. „ermessenreduktion auf Null“: Das Einschreiten wird pflichtgemäß zwingend. Die behördliche Entscheidung muss stets dokumentiert und begründet werden, auch um einer gerichtlichen Nachprüfung Stand zu halten.

Wie werden sogenannte „Nichtstörer“ im Rahmen der Gefahrenabwehr behandelt?

Die Heranziehung von Nichtstörern – also Personen, die weder durch ihr Verhalten noch durch eine gefährliche Sache Verantwortung tragen – ist im Gefahrenabwehrrecht grundsätzlich nur ausnahmsweise möglich. Sogenannte Nichtstörer-Maßnahmen kommen insbesondere dann in Betracht, wenn der eigentliche Störer nicht oder nicht rechtzeitig erreichbar ist und die Gefahr dringend abgewehrt werden muss (§ 7 Abs. 2 PolG BW, § 9 Abs. 2 PolG NRW, etc.). Die Heranziehung unterliegt strengen Voraussetzungen: Sie darf nur temporär erfolgen, muss zwingend erforderlich sein und ist zudem regelmäßig mit einer Entschädigungspflicht verbunden. Nach Wegfall der akuten Gefahr ist die Maßnahme unverzüglich aufzuheben.

Welche Rechtsfolgen haben rechtswidrige Eingriffe in die Rechte Dritter im Rahmen der Gefahrenabwehr?

Rechtswidrige Eingriffe durch Gefahrenabwehrbehörden können zu staatshaftungsrechtlichen Ansprüchen führen, etwa als Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) oder auf Entschädigung nach speziellen Polizeirechtsbestimmungen (§ 39 OBG NRW, § 73 PolG BW, etc.). Voraussetzung ist regelmäßig ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten eines Amtsträgers bei Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit. Die Betroffenen können Ersatz für Sach- oder Vermögensschäden sowie gegebenenfalls Schmerzensgeld verlangen. Zusätzlich kommen Ansprüche auf Unterlassung und Beseitigung rechtswidriger Maßnahmen in Betracht. Der Rechtsschutz erfolgt dabei in der Regel über die Verwaltungsgerichtsbarkeit, gegebenenfalls flankiert durch Anträge im Eilverfahren.