Begriff und Einführung zur Föderalismusreform I
Die Föderalismusreform I bezeichnet eine umfassende Änderung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, die im Jahr 2006 in Kraft trat und den bundesstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland grundlegend neu strukturierte. Ziel der Reform war es, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern zu präzisieren, Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen klarer zu regeln sowie die Effizienz und Handlungsfähigkeit des Föderalismus zu stärken. Die Föderalismusreform I ist in ihrer rechtlichen und politischen Bedeutung eine der weitreichendsten Änderungen des Grundgesetzes seit dessen Inkrafttreten 1949.
Historische Entwicklung und Anlass der Föderalismusreform I
Hintergrund
Seit den 1970er Jahren wurde die Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich der Gesetzgebung als zunehmend problematisch angesehen. Insbesondere in der Gesetzgebungspraxis zeigte sich eine wachsende Zahl von Bundesgesetzen, die einer Zustimmung des Bundesrates bedurften. Dies führte insbesondere dann zu Reformstau und Blockaden, wenn die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat unterschiedlich waren („Politikverflechtung“). Mit dem Ziel einer klareren Kompetenzabgrenzung wurde ein Reformprozess initiiert.
Reformkommission und Zeitplan
2003 konstituierte sich eine „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“. Nach langwierigen Verhandlungen verabschiedeten Bundestag und Bundesrat die Gesetzesvorlagen, sodass die Reform zum 1. September 2006 in Kraft trat.
Inhaltliche Schwerpunkte der Föderalismusreform I
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
Der Kern der Föderalismusreform I lag in der Neuordnung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Ziel war es, die ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen klarer voneinander abzugrenzen und neu zuzuordnen.
Ausschließliche Gesetzgebung
Artikel 71 und Artikel 73 des Grundgesetzes regeln die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes. Hierzu zählen Bereiche wie die Verteidigung, die Währung oder der Luftverkehr.
Konkurrierende Gesetzgebung
Artikel 72 und Artikel 74 GG bestimmen die sogenannten konkurrierenden Gesetzgebungsbereiche, bei denen die Länder das Recht zur Gesetzgebung besitzen, soweit und solange der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht nicht Gebrauch macht. Durch die Föderalismusreform I wurde dieser Bereich ebenfalls neu justiert – zahlreiche Materien wurden von der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes in die alleinige Gesetzgebungskompetenz der Länder überführt, etwa das Versammlungsrecht, das Strafvollzugsrecht und Teile des Abfallrechts.
Abkehr vom „Statusprinzip“
Die Reform verzichtete auf das sogenannte Statusprinzip, worunter die bisher übliche Kopplung von Bundesgesetzgebung und Landesumsetzung (Ausführung von Bundesgesetzen als eigene Angelegenheit) verstanden wurde. Dies stärkte die Eigenverantwortung der Länder.
Zustimmungsgesetze und Verfahren im Bundesrat
Ein bedeutender Aspekt war die Verringerung der Zustimmungspflichtigkeit bundesrechtlicher Vorhaben im Bundesrat. Vor Inkrafttreten der Föderalismusreform I benötigten etwa 60 Prozent aller Bundesgesetze die Zustimmung des Bundesrates, nach der Reform reduzierte sich diese Quote erheblich auf circa 40 Prozent.
Artikel 84 GG – Verwaltungsorganisation
Mit der Überarbeitung des Artikels 84 GG wurde die Gestaltungsfreiheit der Länder in der Ausführung von Bundesgesetzen erweitert: Der Bund kann seither grundsätzlich keine detaillierten Regelungen über deren Ausführung mehr treffen. Staaten und Landesbehörden erhielten dadurch mehr Autonomie.
Finanzverfassungsrecht und Gemeinschaftsaufgaben
Die finanzverfassungsrechtlichen Regeln wurden ebenfalls überarbeitet, wobei der Schwerpunkt darauf lag, die Mitwirkungsrechte der Länder in bundesgesetzlichen Finanzangelegenheiten zu sichern. Eine grundlegende Neuordnung des Finanzausgleichssystems wurde jedoch erst im Rahmen der späteren Föderalismusreform II angegangen.
Abschaffung von Gemeinschaftsaufgaben
Eine wesentliche Neuerung war die Einschränkung bisheriger Gemeinschaftsaufgaben nach Artikel 91a GG. Die Fördertätigkeit des Bundes in Bereichen wie Hochschulbau und Bildungswesen wurde beschränkt, um die Eigenverantwortung der Länder zu betonen.
Rechtliche Auswirkungen der Föderalismusreform I
Auswirkungen auf das Verhältnis von Bund und Ländern
Die Änderungen führten zu einer klareren Trennung der legislativen Kompetenzen und damit zu einer Stärkung der föderalen Struktur. Die Länder erhielten Handlungsspielräume, während die Bundesgesetze mit Zustimmungserfordernis deutlicher eingegrenzt wurden.
Bedeutung für die Praxis
Die Föderalismusreform I hat das politische und rechtliche Alltagsgeschäft auf Ebene von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung nachhaltig beeinflusst. Insbesondere in Bildungsfragen, beim Strafvollzug und in der Umweltgesetzgebung wurde erstmals ein eigenständiger, bundeslandbezogener Regelungsrahmen geschaffen. Dadurch können Unterschiede im Landesrecht entstehen, die vom Bundesverfassungsgericht auf Einhaltung des Rahmens überprüft werden können.
Kritische Würdigung der Föderalismusreform I
Die rechtspolitische Bewertung der Föderalismusreform I fällt unterschiedlich aus. Positiv hervorgehoben wird die deutlichere Kompetenzabgrenzung und die geringere Blockademöglichkeit durch den Bundesrat. Kritisch gesehen wird jedoch, dass zentrale finanzverfassungsrechtliche Aspekte zunächst ungeklärt blieben und regionale Unterschiede, zum Beispiel im Strafvollzugsrecht oder Bildungswesen, zu neuen Herausforderungen führen können.
Weiterentwicklung und Föderalismusreform II
Die Föderalismusreform I bildet den ersten Teil der bundesstaatlichen Neuordnung. Die wichtigsten finanzverfassungsrechtlichen Regelungen wurden im Rahmen der Föderalismusreform II von 2009 weiterentwickelt.
Zusammenfassung
Die Föderalismusreform I von 2006 stellt einen Meilenstein der deutschen Verfassungsentwicklung dar. Sie bewirkte eine weitreichende Neuordnung der Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten und schuf damit eine modernisierte Grundlage für das bundesstaatliche Handeln. Die rechtlichen Änderungen betrafen insbesondere die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die Reduzierung zustimmungspflichtiger Bundesgesetze sowie die stärkere Eigenverantwortung der Länder im Rahmen der föderalen Ordnung.
Stichworte: Föderalismusreform I, Grundgesetz, Gesetzgebungskompetenzen, Bundesrat, Bund, Länder, Bundesstaat, Verwaltungsorganisation, Kompetenzverteilung, Gemeinschaftsaufgaben, Artikel 84 GG, Artikel 91a GG, Finanzausgleich
Häufig gestellte Fragen
Welche verfassungsrechtlichen Änderungen wurden durch die Föderalismusreform I eingeführt?
Die Föderalismusreform I, in Kraft getreten am 1. September 2006, hat zentrale Artikel des Grundgesetzes verändert. Im Kern wurden die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern neu verteilt. Die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes blieb bestehen (Art. 71 GG), jedoch wurde die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72 GG) maßgeblich eingeschränkt: Zahlreiche Gesetzgebungsmaterien – darunter das Besoldungs- und Beamtenrecht, das Ladenschlussrecht und das Versammlungsrecht – wurden vollständig in die Gesetzgebungshoheit der Länder überführt. Zudem wurde das Zustimmungsrecht des Bundesrates reduziert, indem der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze erheblich verringert wurde. Der neue Art. 104a Abs. 4 GG regelt die Finanzierungsabgrenzung für Gemeinschaftsaufgaben, insbesondere wurden die Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, b GG) und die Mischverwaltung stark begrenzt. Ziel war eine klarere Trennung von Verantwortlichkeiten, eine stärkere Eigenständigkeit der Länder und eine verbesserte Effizienz im Gesetzgebungsverfahren unter Wahrung einer effektiven Kontrolle durch den Bundesrat.
Wie wirkt sich die Föderalismusreform I auf das Verhältnis von Bundesrecht und Landesrecht aus?
Die Föderalismusreform I hat das Verhältnis von Bundesrecht zu Landesrecht grundlegend neu geordnet, insbesondere im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Während zuvor der Bund in weiten Teilen das Recht zur Regelung hatte – und Landesrecht wirklich nur dort galt, wo es keine bundesrechtliche Regelung gab -, wurde durch die Reform eine weitgehende Subsidiarität eingeführt: Für zahlreiche Regelungsbereiche wie Ladenschluss, Heimrecht, Beamtenrecht und Strafvollzug ist nunmehr primär Landesgesetzgebung relevant. Nur wo ausdrücklich gesetzlich eine Bundeszuständigkeit eingeräumt bleibt (etwa im Straf- oder Zivilrecht), kann Bundesrecht Vorrang gelten machen. Dies bedeutet, dass der Vorrang des Bundesrechts (Art. 31 GG) in vielen Standardgebieten weniger Bedeutung hat, während die legislative Eigenverantwortlichkeit der Länder gestärkt ist. In praktischer Hinsicht hat dies zu einer stärkeren Ausprägung regional differenzierter Rechtsordnungen innerhalb Deutschlands geführt.
Welche Regelungen betreffen die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen nach der Reform?
Durch die Föderalismusreform I wurde die Zustimmungsbedürftigkeit im Gesetzgebungsverfahren, also das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates zu Bundesgesetzen, auf eine engere Palette von Fällen beschränkt. Zuvor waren schätzungsweise 60 Prozent aller Bundesgesetze zustimmungspflichtig. Nach der Reform gilt eine Zustimmungspflicht nur noch, wenn im Gesetz unmittelbar Rechte und Pflichten der Länder oder Kommunen betroffen sind, insbesondere hinsichtlich ihrer Finanzen (Art. 84, 87 GG). Reine Verwaltungsregelungen ohne Auswirkungen auf die Länderfinanzen erfordern dagegen nur die Kenntnisnahme des Bundesrates (Einspruchsgesetze). So soll die Fähigkeit des Bundes zur Gesetzgebung insgesamt erhöht werden, da Blockademöglichkeiten verringert sind. Allerdings bleibt das Prinzip des bundesstaatlichen Ausgleichs gewahrt, da Kernbereiche föderativer Interessen weiterhin dem Mitentscheidungsrecht der Länder unterworfen sind.
Inwiefern wurde die Gemeinschaftsauftragskompetenz in der Reform eingeschränkt?
Mit der Föderalismusreform I erfolgte eine deutliche Einschränkung der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, 91b GG). Vor 2006 konnten Bund und Länder in zahlreichen Feldern eng zusammenarbeiten, oft mit gemeinsamer Finanzierungsverantwortung und Mischverwaltung (vor allem in Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur). Die Reform reduzierte diese Möglichkeiten auf zentrale Bereiche, etwa bestimmter Großprojekte im Hochschulbereich oder bei der Förderung wirtschaftsnaher Infrastrukturen. Dieser Abbau der Gemeinschaftsaufgaben sollte eigenverantwortliche Landespolitik fördern, die Wirksamkeit gemeinsamer Aufgaben klar abgrenzen und Diskussionen um Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zukünftig vermeiden. Die Kompetenzen des Bundes in schulischen und kulturellen Angelegenheiten wurden nahezu vollständig zurückgenommen.
Welche Übergangsregelungen und Fristen wurden im Kontext der Reform eingeräumt?
Die Reform sah umfangreiche Übergangsbestimmungen vor, um Rechtssicherheit und Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Für zahlreiche Materien, die von der Bundes- auf die Landesebene übergingen, wurde geregelt, dass bestehendes Bundesrecht zunächst weiter gilt, bis es durch Landesrecht ersetzt wird (Art. 125a GG). Dies betrifft insbesondere das Beamtengesetz, das Ladenschlussrecht, den Strafvollzug und Regelungen im Ausbildungsbereich. Die Ländern wurde damit ausreichend Zeit eingeräumt, um eigene Landesgesetze zu schaffen und die jeweiligen Verwaltungsvorschriften anzupassen. Fristen für die Umsetzung solcher Gesetzesarbeiten wurden teilweise individuell nach Materie geregelte Übergangszeiträume vorgesehen, um einen geordneten legislativen Übergang zu garantieren.
Wie wurde das Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung infolge der Föderalismusreform I gestaltet?
Im Zuge der Föderalismusreform I wurde das traditionell im Grundgesetz verankerte Prinzip „Bund erlässt Gesetze – Länder führen aus“ grundlegend überarbeitet. Die Länder erhielten eine erheblich größere Freiheit in der Ausführung sowohl des eigenen als auch des Bundesrechts. Bei der Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG) wurde der Handlungsspielraum erhöht; Kontrollbefugnisse des Bundes gegenüber Ländern bei der Ausführung von Bundesgesetzen sind nur noch in bestimmten Fällen relevant und wurden ansonsten eingeschränkt. Die Länder können daher bei Ausführung und Ausgestaltung von Gesetzen sehr viel eigenständiger agieren, was sich besonders in föderal auseinanderlaufenden Verwaltungspraktiken bemerkbar macht. Ziel war ein Abbau zentralstaatlicher Einflussmöglichkeiten zugunsten föderaler Diversität.