Finanzgerichtsbarkeit
Die Finanzgerichtsbarkeit ist ein eigenständiger Zweig der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der sich mit der Überprüfung von steuerrechtlichen Streitigkeiten zwischen Bürgern und Behörden befasst. Sie gewährleistet die rechtmäßige Anwendung und Auslegung des Steuerrechts und ist ein wesentliches Element im Rechtsstaat zur Durchsetzung des Steuerrechts. Ihr Aufgabenbereich erstreckt sich über sämtliche öffentlich-rechtliche Abgabenangelegenheiten, insbesondere nach dem Einkommensteuer-, Umsatzsteuer-, Körperschaftsteuer-, Erbschaftsteuer- und Abgabenordnungsrecht.
Rechtsgrundlagen
Gesetzliche Grundlagen
Die Finanzgerichtsbarkeit ist im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) verankert. Nach Artikel 95 Absatz 1 GG bestehen Bundesgerichte eigener Art, zu denen auch der Bundesfinanzhof gehört. Für den Aufbau, die Aufgaben und Verfahren der Finanzgerichte gelten in erster Linie die Vorschriften der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Im Einzelnen beruht die Tätigkeit der Finanzgerichte auf folgenden Gesetzen:
- Finanzgerichtsordnung (FGO)
- Abgabenordnung (AO)
- Einkommensteuergesetz (EStG)
- Körperschaftsteuergesetz (KStG)
- Umsatzsteuergesetz (UStG)
- sowie weiterer steuerrechtlicher Spezialgesetze
Abgrenzung zu anderen Gerichtsbarkeiten
Die Finanzgerichtsbarkeit ist von der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivil- und Strafgerichte), der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit abzugrenzen. Sie befasst sich ausschließlich mit Streitigkeiten öffentlich-rechtlicher Art über steuerliche Angelegenheiten, beispielsweise gegen Steuerbescheide, Haftungsbescheide nach der AO oder gegen Maßnahmen der Steuerfahndung. Für Strafverfahren in Steuersachen – etwa bei einer Steuerhinterziehung – bleiben jedoch die Strafkammern der ordentlichen Gerichte ausschließlich zuständig.
Organisation der Finanzgerichtsbarkeit
Instanzenzug
Die Finanzgerichtsbarkeit ist zweistufig aufgebaut:
- Finanzgerichte (FG): Sie sind die Gerichte der ersten Instanz in Finanzsachen der Bundesländer.
- Bundesfinanzhof (BFH): Als oberstes Gericht der Finanzgerichtsbarkeit fungiert der Bundesfinanzhof mit Sitz in München. Er entscheidet als Revisions- und Beschwerdeinstanz.
Finanzgerichte der Länder
In jedem Bundesland sind mindestens ein, zum Teil aber auch mehrere Finanzgerichte eingerichtet. Die Gliederung der Finanzgerichte erfolgt in Senate, die jeweils mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt werden (§ 16 FGO). Die Zuordnung der örtlichen Zuständigkeit bei den Finanzgerichten ergibt sich regelmäßig aus der Abgabenordnung und landesrechtlichen Bestimmungen.
Richter und Ehrenamtliche Richter
Neben den hauptamtlichen Berufsrichtern wirken an den Finanzgerichten auch ehrenamtliche Richter mit. Diese sollen als Vertreter gesellschaftlicher Gruppen zur Wahrheitsfindung beitragen und die öffentliche Akzeptanz der Rechtsprechung erhöhen.
Zuständigkeit der Finanzgerichtsbarkeit
Sachliche Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit der Finanzgerichte umfasst sämtliche öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten auf dem Gebiet der Steuern (einschließlich Steuervergütungen, Steuererstattungen und Haftungsbescheide), der Zölle, der Verbrauchsteuern und der Kindergeldangelegenheiten nach dem Einkommensteuergesetz. Nicht erfasst sind hingegen Streitigkeiten über privatrechtliche Ansprüche, etwa zwischen Steuerpflichtigen und Steuerberatern.
Funktionelle Zuständigkeit
Funktionell sind die Finanzgerichte für die erstinstanzliche Überprüfung der angefochtenen Verwaltungsakte oder sonstigen Maßnahmen der Finanzbehörden zuständig. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs betreffen in der Regel die Revision gegen Urteile oder Beschlüsse der Finanzgerichte oder werden auf Vorlageverfahren nach Artikel 100 GG gefällt.
Abgrenzung zu den Verwaltungsgerichten
Streitigkeiten mit Kommunen oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, die keine Abgaben im Sinne des Steuerrechts betreffen – etwa im Bereich der kommunalen Beiträge und Gebühren ohne Steuercharakter – fallen in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte.
Verfahren vor der Finanzgerichtsbarkeit
Klagearten
Zu den wichtigsten Verfahrensarten zählen:
- Anfechtungsklage (gerichtet auf die Aufhebung eines Verwaltungsakts, etwa eines Steuerbescheids)
- Verpflichtungsklage (gerichtet auf den Erlass oder die Änderung eines Verwaltungsakts)
- Feststellungsklage (gerichtet auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses)
- Allgemeine Leistungsklage (gerichtet auf die Vornahme oder Unterlassung einer Handlung durch die Finanzbehörde)
Einleitung des Verfahrens
Das Verfahren vor dem Finanzgericht wird in der Regel durch die Erhebung einer Klage eingeleitet. Voraussetzung ist meist ein vorangegangenes Einspruchsverfahren bei der Finanzbehörde. Erst wenn über den Einspruch abschließend entschieden wurde (Einspruchsentscheidung) oder nach Erlöschen einer Untätigkeitsfrist (§ 46 FGO), steht der Verwaltungsrechtsweg zu den Finanzgerichten offen.
Verfahrensgrundsätze
Die Verfahren vor der Finanzgerichtsbarkeit sind geprägt von folgenden Grundsätzen:
- Mündlichkeitsgrundsatz: In der Regel wird mündlich verhandelt.
- Amtsermittlungsgrundsatz: Das Gericht ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen (§ 76 FGO).
- Grundsatz der Öffentlichkeit: Die Verhandlungen sind grundsätzlich öffentlich, Ausnahmen bedürfen besonderer Gründe.
- Rechtliches Gehör: Jede Partei erhält ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme.
Rechtsmittelverfahren
Gegen Urteile der Finanzgerichte ist grundsätzlich die Zulassung der Revision an den Bundesfinanzhof möglich. Daneben gibt es weitere Rechtsmittel wie die Beschwerde, Nichtzulassungsbeschwerde sowie bestimmte Ausnahmeverfahren wie die Sprungrevision.
Bedeutung der Finanzgerichtsbarkeit im Rechtssystem
Die Finanzgerichtsbarkeit gewährleistet die Kontrolle der Steuerverwaltung und eine unabhängige rechtliche Überprüfung von belastenden Maßnahmen der Finanzbehörden. Ihre Entscheidungen tragen zur Rechtsfortbildung im Steuerrecht bei. Der Bundesfinanzhof als höchstrichterliche Instanz wahrt die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und sorgt für die Auslegung und Fortentwicklung des deutschen Steuerrechts.
Reformbedarf und aktuelle Entwicklungen
Im Zuge zunehmender Digitalisierung und der Komplexität des Steuerrechts steht die Finanzgerichtsbarkeit laufend vor neuen Herausforderungen. Hierzu zählen etwa die elektronische Aktenführung, die umfassende Nutzung digitaler Technik bei Verhandlungen und bei der Einreichung von Schriftsätzen (z. B. ELSTER), aber auch die Anpassung an neue europarechtliche Vorgaben und internationale Steuerrechtsentwicklungen.
Literatur und weiterführende Informationen
- Finanzgerichtsordnung (FGO)
- Bundesfinanzhof (www.bundesfinanzhof.de)
- Jahresberichte der Bundes- und Landesfinanzgerichte
- Kommentierungen zum Einkommensteuergesetz, zur Abgabenordnung und zu anderen steuerlichen Hauptgesetzen
Hinweis: Der Artikel stellt eine allgemeine, umfassende Darstellung der Finanzgerichtsbarkeit dar und berücksichtigt die aktuelle Rechtslage zum Stand Juni 2024.
Häufig gestellte Fragen
Wann und warum ist der Rechtsweg zu den Finanzgerichten eröffnet?
Der Rechtsweg zu den Finanzgerichten ist eröffnet, wenn es um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art auf dem Gebiet der Abgabenordnung und der sie ergänzenden Steuergesetze geht (§ 33 FGO). Darunter fallen insbesondere Streitigkeiten über die Festsetzung, Erhebung und Vollstreckung von Steuern und steuerlichen Nebenleistungen sowie über Verwaltungsakte, die auf der Grundlage der Abgabenordnung, des Einkommensteuergesetzes, Umsatzsteuergesetzes oder anderer Steuerrechtstexte erlassen wurden. Der Rechtsweg beginnt typischerweise, wenn ein Steuerpflichtiger gegen einen ihn belastenden Verwaltungsakt (z. B. Steuerbescheid) Einspruch einlegt, dieser jedoch durch die Finanzbehörde zurückgewiesen wird. Erst nach Abschluss des außergerichtlichen Vorverfahrens (dem sogenannten Einspruchsverfahren) ist die Klage vor dem Finanzgericht zulässig. Der Sinn und Zweck der Anrufung der Finanzgerichte liegt darin, dem Steuerpflichtigen einen effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Finanzverwaltung zu gewährleisten, indem eine unabhängig entscheidende Stelle die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme überprüft.
Welche Klagearten gibt es vor den Finanzgerichten und wie unterscheiden sie sich?
Das Finanzgerichtsverfahren kennt im Wesentlichen drei grundlegende Klagearten: Die Anfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 FGO), die Verpflichtungsklage und die allgemeine Leistungsklage. Die Anfechtungsklage richtet sich darauf, einen belastenden Verwaltungsakt (z. B. Steuerbescheid) aufzuheben. Die Verpflichtungsklage ist auf den Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen begünstigenden Verwaltungsaktes gerichtet, beispielsweise wenn eine Steuervergünstigung beantragt und abgelehnt wurde. Die allgemeine Leistungsklage ist subsidiär und kommt in Betracht, wenn der begehrte Rechtsschutz nicht durch eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erlangt werden kann, etwa bei der Geltendmachung eines Herausgabeanspruchs oder eines Schadensersatzes. Jede Klageart hat eigene formelle und materielle Zulässigkeitsvoraussetzungen, die der Kläger erfüllen muss, darunter insbesondere das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses.
Welche Besonderheiten bestehen beim Vorverfahren im Finanzgerichtsprozess?
Das finanzgerichtliche Verfahren ist durch das zwingende Vorverfahren (§ 44 FGO) geprägt. Bevor der Rechtsschutz vor den Finanzgerichten gesucht werden kann, ist in den meisten Fällen gegen den zunächst ergangenen Verwaltungsakt ein Einspruch bei der Ausgangsfinanzbehörde einzulegen. Diese überprüft ihre Entscheidung im Rahmen des Einspruchsverfahrens erneut und erlässt einen Einspruchsbescheid, der entweder den ursprünglichen Bescheid aufhebt, ändert oder bestätigt. Erst wenn der Steuerpflichtige mit dieser Entscheidung weiterhin nicht einverstanden ist, kann gegen den Einspruchsbescheid Klage beim Finanzgericht erhoben werden. Das Vorverfahren dient der Entlastung der Gerichte, der Selbstkontrolle der Verwaltung und soll eine außergerichtliche Beilegung des Streits ermöglichen.
Welche Rolle spielt der Grundsatz der Amtsermittlung im finanzgerichtlichen Verfahren?
Im Gegensatz zum Zivilprozess gilt im finanzgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 76 FGO). Das Finanzgericht ist nicht an das Vorbringen der Parteien gebunden, sondern verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen vollständig und umfassend aufzuklären. Dies bedeutet, dass das Gericht sämtliche notwendigen Beweise erhebt, Zeugen und Sachverständige anhört sowie Unterlagen anfordert, um alle für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen zu ermitteln. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die materielle Wahrheit ermittelt und die rechtliche Beurteilung auf einer sachgerechten und vollständigen Basis erfolgt. Der Grundsatz der Amtsermittlung dient vor allem der Wahrung des öffentlichen Interesses an einer gesetzmäßigen Besteuerung.
Wie ist das Rechtsmittelverfahren in der Finanzgerichtsbarkeit geregelt?
Das finanzgerichtliche Verfahren sieht grundsätzlich die Berufung nicht vor, sondern kennt primär das Rechtsmittel der Revision (§ 115 FGO) sowie die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 FGO) zum Bundesfinanzhof (BFH). Nach dem erstinstanzlichen Urteil des Finanzgerichts kann die Revision beim BFH eingelegt werden, soweit sie durch das Finanzgericht im Urteil ausdrücklich zugelassen wurde. Die Revision ist auf die Überprüfung der Rechtsanwendung beschränkt und ermöglicht keine umfassende neue Tatsachenfeststellung. Wird die Revision nicht zugelassen, kann der Kläger Beschwerde zum BFH erheben (sog. Nichtzulassungsbeschwerde). Das Revisionsverfahren stellt sicher, dass die einheitliche Anwendung und Fortbildung des Steuerrechts gewährleistet bleibt und schwerwiegende Rechtsfehler im finanzgerichtlichen Erkenntnisverfahren korrigiert werden können.
Welche Bedeutung hat der Grundsatz der Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren?
Der Grundsatz der Akteneinsicht (§ 78 FGO) sichert dem Beteiligten das Recht, die dem Gericht vorliegenden Akten und Unterlagen, soweit sie für das Verfahren von Bedeutung sind, einzusehen. Dieses Recht ist ein zentraler Bestandteil des rechtlichen Gehörs und ermöglicht es dem Kläger, sich umfassend über den Stand des Verfahrens, die Beweisführung und die dem Gericht bekannten Tatsachen zu informieren. Die Akteneinsicht kann nur in Ausnahmefällen, insbesondere zum Schutz öffentlicher oder schutzwürdiger privater Interessen, teilweise oder vollständig versagt werden. In der Praxis geschieht dies beispielsweise bei der Gefährdung von Steuergeheimnissen oder aus Gründen der Staatssicherheit. Die Akteneinsicht wird in der Regel formlos beantragt und ist in den Räumen des Gerichts zu gewähren.