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Europäisches Gemeinschaftsrecht


Begriff und Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts

Das Europäische Gemeinschaftsrecht bezeichnet das Rechtsregime, das im Rahmen der supranationalen Organisationen der Europäischen Gemeinschaften (EG)- darunter insbesondere die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)- geschaffen wurde. Es bildet die rechtliche Grundlage für die Integration und Zusammenarbeit in Europa. Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung der Europäischen Union (EU) wurde das Europäische Gemeinschaftsrecht – insoweit es auf die Europäische Gemeinschaft als Rechtsnachfolgerin der EWG und später in der EU – weitgehend vom sogenannten Unionsrecht abgelöst. Die Entwicklung verläuft somit von der Gründung der Gemeinschaften über zahlreiche Vertragsänderungen bis hin zum Vertrag von Lissabon, durch welchen die Europäische Gemeinschaft 2009 in der Europäischen Union aufging.

Trotz dieser Änderungen bleibt der Begriff „Europäisches Gemeinschaftsrecht“ in wissenschaftlicher, historischer und praktischer Hinsicht von zentraler Bedeutung für das Verständnis des heutigen Europarechts und wurde in zahlreichen Rechtsakten, Rechtsprechungen und wissenschaftlichen Debatten geprägt.


Systematik und Quellen des Europäischen Gemeinschaftsrechts

Primärrecht

Das Primärrecht beinhaltet die Gründungsverträge, Änderungsverträge und Beitrittsverträge der Europäischen Gemeinschaften. Zu den wichtigsten Verträgen zählen:

  • Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag, später EG-Vertrag)
  • Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG-Vertrag)
  • Fusionsvertrag von 1965 (Zusammenführung der Organe)
  • Einheitliche Europäische Akte
  • Vertrag von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon

Das Primärrecht steht an der Spitze des Normgefüges und legt die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaften fest. Es regelt etwa die Kompetenzen, das institutionelle Gefüge und die Entscheidungsverfahren.

Sekundärrecht

Das Sekundärrecht umfasst die von den Organen der Europäischen Gemeinschaften (später Europäischen Union) auf Grundlage des Primärrechts erlassenen Rechtsakte. Dies sind insbesondere:

  • Verordnungen (unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gültig und verbindlich)
  • Richtlinien (verpflichten die Mitgliedstaaten zur Umsetzung bestimmter Ziele in nationales Recht)
  • Entscheidungen (verbindlich für die jeweils benannten Adressaten)
  • Empfehlungen und Stellungenahmen (rechtlich unverbindlich)

Inhaltlich regelt das Sekundärrecht zahlreiche Lebensbereiche, darunter Zoll, Wettbewerb, Handel, Verbraucherschutz, Umwelt und vieles mehr.

Richterrecht und Allgemeine Rechtsgrundsätze

Das Europäische Gemeinschaftsrecht wird zudem durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze geprägt. Hierzu zählen etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz der Rechtssicherheit sowie der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes.


Verhältnis zum innerstaatlichen Recht und Durchsetzung

Anwendungsvorrang und unmittelbare Wirkung

Ein wesentliches Merkmal des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist der von der Rechtsprechung des EuGH entwickelte Vorrang vor nationalem Recht: Das Gemeinschaftsrecht hat im Kollisionsfall Anwendungsvorrang vor den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten.

Die unmittelbare Wirkung besagt, dass bestimmte Vorschriften des Gemeinschaftsrechts unmittelbar Rechte und Pflichten für Einzelne begründen, auf die sich Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen vor nationalen Gerichten berufen können.

Umsetzung und Kontrolle

Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts erfolgt durch die Mitgliedstaaten, wobei der EuGH und die Kommission der Europäischen Gemeinschaft die Kontrolle der Einhaltung und Durchsetzung des Rechts sicherstellen. Bei Nichtumsetzung oder fehlerhafter Umsetzung können Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden.


Entwicklungslinien und Übergang zum Unionsrecht

Vertragliche Veränderungen und Integration

Die Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist untrennbar mit der fortschreitenden Integration in Europa verbunden. Einzelne Vertragsänderungen, wie der Vertrag von Maastricht (1992), führten zur Umbenennung der EWG in „Europäische Gemeinschaft“ und schufen das Drei-Säulen-Modell der EU.

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1. Dezember 2009 wurde die „Europäische Gemeinschaft“ in die Europäische Union integriert; das Gemeinschaftsrecht wurde als „Unionsrecht“ weiterentwickelt.

Fortbestehen und Bedeutung

Trotz Integration und Umbenennung sind zahlreiche Bestimmungen, materiell-rechtliche Prinzipien und Rechtsprechungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts weiterhin maßgeblich für die Auslegung, Anwendung und Weiterentwicklung des Unionsrechts. Der Begriff „Europäisches Gemeinschaftsrecht“ bleibt folglich von erheblicher Bedeutung sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für die Praxis.


Grundlagenprinzipien des Europäischen Gemeinschaftsrechts

Supranationalität

Das Gemeinschaftsrecht zeichnet sich durch seine Supranationalität aus, also durch die Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaften und die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten.

Autonomie

Das Europäische Gemeinschaftsrecht ist ein eigenständiges Rechtssystem, dessen Geltung und Anwendung nicht vom nationalen Recht abhängt. Es beruht auf den Verträgen und der Rechtsprechung des EuGH.

Homogenität und Rechtsangleichung

Das Ziel der Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen und der Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums ist ein zentrales Anliegen des Gemeinschaftsrechts. Das Recht der Gemeinschaft sorgt so für Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und gemeinschaftlichen Rechtsschutz.


Institutionen zur Schaffung, Anwendung und Kontrolle

Die wichtigsten Organe im Rahmen des Europäischen Gemeinschaftsrechts waren:

  • Die Kommission (Initiativrecht und Überwachung der Einhaltung des Rechts)
  • Der Ministerrat (Gesetzgebung und Politikgestaltung)
  • Das Europäische Parlament (Mitentscheidungsrecht)
  • Der Europäische Gerichtshof (EuGH) (Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts)

Diese Institutionen stehen im Dienst der Sicherung, Entwicklung und Durchsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts.


Bedeutung und Auswirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts

Rechtsschutz

Das Gemeinschaftsrecht enthält umfassende Instrumente zum Rechtsschutz, unter anderem durch das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV), Vertragsverletzungsverfahren und Klagen gegen Rechtsakte der Gemeinschaft.

Auswirkungen auf die nationalen Rechtsordnungen

Das Europäische Gemeinschaftsrecht hat die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten umfassend geprägt, insbesondere durch die Einführung gemeinsamer Rechtsprinzipien, Harmonisierung relevanter Rechtsbereiche und die Etablierung unionsweiter Mindeststandards.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration

Durch die Schaffung des Europäischen Binnenmarkts, die Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs sowie die gemeinsame Wettbewerbspolitik leistet das Gemeinschaftsrecht einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration Europas.


Literaturhinweise und weiterführende Informationen

  • Schwarze, Jürgen: „Europäisches Gemeinschaftsrecht“, Nomos Verlag, 4. Auflage
  • Dauses, Manuel: „Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts“, C.H. Beck Verlag
  • Grabitz/Hilf/Nettesheim: „Das Recht der Europäischen Union“, Kommentar, C.H. Beck Verlag
  • Art. 288 ff. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

Fazit

Das Europäische Gemeinschaftsrecht stellt einen Schlüsselfaktor für die Rechtsentwicklung und die europäische Integration dar. Es bildet heute die historische und materielle Grundlage des geltenden Unionsrechts, dessen Ziel die Sicherung von Frieden, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit in Europa ist. Seine Prinzipien, Rechtsquellen und Institutionen prägen nachhaltig das rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gefüge der Europäischen Union und beeinflussen sämtliche Ebenen der staatlichen und supranationalen Zusammenarbeit.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hat das Prinzip des Anwendungsvorrangs des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht?

Das Prinzip des Anwendungsvorrangs (auch „Suprematie des EU-Rechts“ genannt) stellt sicher, dass das Europäische Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) in Bereichen seiner Anwendung stets Vorrang gegenüber nationalen Bestimmungen der Mitgliedstaaten genießt. Dies bedeutet, dass einer nationalen Regelung, die mit gemeinschaftsrechtlichen Normen kollidiert, im Widerspruchsfall die Anwendung zu versagen ist. Dieser Vorrang wurde durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zentral entwickelt (insbesondere in den Urteilen „Costa/ENEL“, Rs. 6/64, und „Simmenthal“, Rs. 106/77) und ist unerlässlich für die Einheit, Wirksamkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Gemeinschaftsrechts. Der Vorrang gilt unabhängig vom Rang des nationalen Rechts, das heißt, auch eine innerstaatliche Verfassungsnorm muss zurückstehen, soweit sie Unionsrecht widerspricht. Die praktische Umsetzung erfolgt durch die nationalen Gerichte, die unmittelbar verpflichtet sind, widersprechendes nationales Recht unangewendet zu lassen, ohne dass es einer vorherigen Aufhebung durch Verfassungsorgane bedarf.

Inwieweit wirkt das Europäische Gemeinschaftsrecht unmittelbar in den Mitgliedstaaten, und was ist unter der sogenannten „unmittelbaren Wirkung“ zu verstehen?

Das Prinzip der unmittelbaren Wirkung besagt, dass bestimmte Vorschriften des Gemeinschaftsrechts – insbesondere Verordnungen, aber auch bestimmte Bestimmungen aus Richtlinien und Verträgen – Recht und Pflichten unmittelbar für Einzelne in den Mitgliedstaaten begründen können, ohne dass es einer zusätzlichen innerstaatlichen Umsetzung bedarf. Entscheidend ist dabei, ob die betreffende Norm klar, genau und unbedingt formuliert ist. Die unmittelbare Wirkung wurde im berühmten Fall „Van Gend & Loos“ (Rs. 26/62) erstmals festgestellt. Damit können sich EU-Bürger und juristische Personen direkt vor nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen, um ihre Rechte durchzusetzen. Unmittelbare Wirkung kann sowohl „vertikal“ (gegenüber dem Staat) als auch „horizontal“ (gegenüber anderen Privatpersonen) bestehen, wobei Letzteres jedoch meist nur bei Verordnungen oder unmittelbar anwendbaren Vertragsnormen anerkannt ist.

Welche Rolle spielen die Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zur nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten?

Die Grundfreiheiten – namentlich die Warenverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit (Art. 28 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff. AEUV) sowie die Kapitalverkehrsfreiheit – bilden das Rückgrat des europäischen Binnenmarkts. Sie gewährleisten, dass wirtschaftliche Akteure und Bürger innerhalb der EU grenzüberschreitend tätig werden können, und begrenzen damit die Souveränität der Mitgliedstaaten, indem jede nationale Maßnahme, die den freien Verkehr behindert, einer gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle unterliegt. Einschränkungen sind grundsätzlich nur aus ausdrücklich im Primärrecht genannten Gründen, vor allem unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, zulässig. Der EuGH prüft nationale Rechtsakte regelmäßig auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten und trägt auf diese Weise maßgeblich zur Rechtseinheit und zur Vertiefung der Integration bei.

Inwiefern ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts bindend?

Die Auslegungskompetenz des EuGH ist integraler Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Nach Art. 267 AEUV können und müssen nationale Gerichte Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts dem EuGH im Rahmen des sogenannten Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen. Die ergangenen Urteile entfalten rechtliche Bindungswirkung nicht nur für das vorlegende Gericht und das zugrundeliegende Verfahren, sondern besitzen darüber hinaus grundsätzlich generalisierende Wirkung (Erga-omnes-Wirkung) für sämtliche Gerichte und Behörden in der gesamten Union. Das Sicherstellen einer einheitlichen Anwendung liegt darin, dass die festgelegten Rechtsgrundsätze und Auslegungskriterien des EuGH verbindlichen Charakter haben und Abweichungen seitens der Mitgliedstaaten nicht zulässig sind.

Wie werden Gemeinschaftsrechtsakte in das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten überführt?

Die Übernahme von Gemeinschaftsrechtsakten richtet sich nach deren Rechtsnatur. Verordnungen gelten gemäß Art. 288 AEUV unmittelbar und bedürfen keiner weiteren nationalen Umsetzung; sie sind mit Inkrafttreten in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Richtlinien hingegen richten sich an die Mitgliedstaaten und verpflichten diese, das angestrebte Ziel innerhalb einer festgelegten Frist mit eigenen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu erreichen. Die Umsetzungsfreiheit ist dabei beschränkt auf die Wahl der Mittel, nicht auf die Vorgaben selbst. Wird eine Richtlinie nicht, nicht ordnungsgemäß oder nicht fristgerecht umgesetzt, kann der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen (bei klarer und unbedingter Vorschrift) die Richtlinie im Wege der unmittelbaren Wirkung beanspruchen, sofern diese Rechte verleiht und der Mitgliedstaat als Adressat betroffen ist.

Welche Möglichkeiten bestehen, Verstöße gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht zu sanktionieren?

Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht können auf verschiedenen Ebenen verfolgt werden. Zum einen verfügt die Kommission nach Art. 258 ff. AEUV über die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten, der gegen unionsrechtliche Verpflichtungen verstößt. Gelingt keine Einigung oder Behebung des Verstoßes, kann der EuGH angerufen werden, der feststellt, ob eine Verletzung vorliegt, und gegebenenfalls Zwangs- oder Pauschalzahlungen verhängt. Zum anderen können Einzelpersonen Rechte, die ihnen unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen, nutzen, um vor nationalen Gerichten Ansprüche gegen Mitgliedstaaten geltend zu machen, wobei nach der sogenannten Staatshaftungsrechtsprechung des EuGH (u.a. Rs. Francovich) notfalls Entschädigungen beansprucht werden können, wenn ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht zu einem Schaden geführt hat. Zudem kommen vorläufige Maßnahmen, einstweilige Anordnungen oder andere unionsrechtliche Sicherungsmechanismen in Betracht.