Begriff und rechtlicher Status der Europäischen Union (EU)
Die Europäische Union (EU) ist ein Staatenverbund, der als einzigartige rechtsfähige Organisation den Zusammenschluss von europäischen Staaten zur Förderung von Frieden, Sicherheit, Wohlstand und der wirtschaftlichen und politischen Integration bildet. Die rechtlichen Grundlagen, Strukturen und Kompetenzen der Europäischen Union sind umfassend in Verträgen sowie sekundären Rechtsakten geregelt und ergeben ein vielschichtiges Geflecht völker- und unionsrechtlicher Bestimmungen.
Rechtspersönlichkeit und Gründung
Gründung und Entwicklung
Die rechtlichen Ursprünge der EU finden sich in mehreren aufeinanderfolgenden völkerrechtlichen Verträgen. Wesentliche Meilensteine sind:
- Vertrag von Paris (1951): Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)
- Römische Verträge (1957): Etablierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM)
- Vertrag von Maastricht (1992): Schaffung der Europäischen Union und Einführung einer dreisäuligen Struktur
- Vertrag von Lissabon (2007/2009): Schaffung der einheitlichen Rechtspersönlichkeit, Abschaffung der Dreisäulenstruktur und umfassende institutionelle Reformen
Die EU ist gemäß Artikel 47 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit ausgestattet. Dies ermöglicht es ihr, internationale Übereinkommen abzuschließen und Rechte und Pflichten außerhalb der Mitgliedstaaten auszuüben.
Primärrecht und Sekundärrecht
Primärrecht
Das Primärrecht bildet das Verfassungsgesetz der Europäischen Union und besteht maßgeblich aus:
- Vertrag über die Europäische Union (EUV)
- Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
- Charta der Grundrechte der Europäischen Union
- Protokolle und Anhänge zu den Verträgen
Diese Rechtsinstrumente regeln die Zuständigkeiten, Verfahren, Organe sowie die grundlegenden Prinzipien der Union.
Sekundärrecht
Das Sekundärrecht umfasst die von den EU-Organen erlassenen Rechtsakte, insbesondere:
- Verordnungen: Sind allgemeingültig und in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar (Art. 288 AEUV).
- Richtlinien: Verpflichten Mitgliedstaaten zur Umsetzung in nationales Recht, lassen aber Form und Mittel offen (Art. 288 AEUV).
- Beschlüsse: Sind in der Regel verbindlich für die jeweils bezeichneten Adressaten.
- Empfehlungen und Stellungnahmen: Rechtlich unverbindlich.
Kompetenzen und Zuständigkeiten
Kompetenzordnung
Die EU verfügt lediglich über die Kompetenzen, die ihr von den Mitgliedstaaten übertragen wurden (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 EUV). Die Kompetenzen werden unterschieden in:
- Ausschließliche Zuständigkeiten: Nur die EU darf hier tätig werden, z. B. Zollunion, Wettbewerbsregeln, Handelspolitik (Art. 3 AEUV).
- Geteilte Zuständigkeiten: Sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten können tätig werden, z. B. Binnenmarkt, Umwelt, Verbraucherschutz (Art. 4 AEUV).
- Unterstützende, koordinierende und ergänzende Zuständigkeiten: Die EU kann Maßnahmen ergreifen, ohne die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zu verdrängen, z. B. Kultur, Bildung, Gesundheitsschutz (Art. 6 AEUV).
Prinzipien der Ausübung
Die Ausübungsweise der Kompetenzen wird durch folgende Grundsätze bestimmt:
- Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV): Die EU wird nur tätig, sofern Ziele nicht ausreichend auf nationaler Ebene erreicht werden können.
- Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 4 EUV): Maßnahmen dürfen nicht über das zur Erreichung der Ziele Erforderliche hinausgehen.
Institutionelle Struktur der Europäischen Union
Organe der Europäischen Union
Die wichtigsten Organe, geregelt in Art. 13 ff. EUV:
- Europäischer Rat: Setzt Impulse und Prioritäten, besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten.
- Rat der Europäischen Union („Rat der Minister”): Vertritt die Regierungen der Mitgliedstaaten, verabschiedet Gesetze zusammen mit dem Europäischen Parlament.
- Europäisches Parlament: Direkt gewähltes Organ, das an der Gesetzgebung und der Kontrolle beteiligt ist.
- Europäische Kommission: Exekutive, initiiert Gesetzesvorschläge, überwacht die Einhaltung des Unionsrechts und vertritt die EU nach außen.
- Europäischer Gerichtshof (EuGH): Höchstes Gericht zur Auslegung des Unionsrechts.
- Europäische Zentralbank (EZB): Zuständig für die Geldpolitik der Eurozone.
- Europäischer Rechnungshof: Prüft Recht- und Ordnungsmäßigkeit sowie Wirtschaftlichkeit der EU-Finanzen.
Institutionelle Gewaltenteilung und Zusammenarbeit
Die EU folgt dem Prinzip der Gewaltenteilung. Die Aufgaben der Rechtsetzung, Exekutive und Judikative sind den unterschiedlichen Organen zugewiesen, wobei eine enge Zusammenarbeit durch komplexe Mitwirkungsverfahren – insbesondere im Bereich der Gesetzgebung (Ordentliches Gesetzgebungsverfahren, Art. 294 AEUV) – vorgesehen ist.
Rechtsordnung der Europäischen Union
Autonome Rechtsordnung
Das Unionsrecht bildet eine eigenständige Rechtsordnung, die sich von internationalem Recht unterscheidet. Kennzeichnend ist:
- Unmittelbare Geltung: Unionsrecht kann in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfalten (Rechtsprechung des EuGH, insbesondere „Van Gend & Loos”).
- Vorrang des Unionsrechts: Unionsrecht genießt Vorrang vor innerstaatlichem Recht (Rechtsprechung des EuGH, insbesondere „Costa/ENEL”).
Rechtsquellen und -setzung
Unionsrecht entsteht durch die Rechtsetzungsakte der Organe gemäß festgelegten Verfahren. Hierzu zählen das ordentliche und besondere Gesetzgebungsverfahren sowie die delegierte Rechtssetzung und Durchführungsrechtsakte.
Justizielle Kontrolle
Rechtsschutz wird in erster Linie durch den EuGH und das Gericht der Europäischen Union sichergestellt. Über verschiedene Klagearten, wie Nichtigkeitsklage, Untätigkeitsklage und Vorabentscheidungsverfahren, ist die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten möglich (Art. 263 ff. AEUV).
Mitgliedschaft und Austritt
Voraussetzungen und Verfahren
Die Bedingungen der Mitgliedschaft sind in Art. 49 EUV geregelt. Bewerber müssen insbesondere die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen. Der Austritt eines Mitgliedstaates ist gemäß Art. 50 EUV auf freiwilliger Basis möglich und erstmals im Rahmen des Austritts des Vereinigten Königreichs (Brexit) vollzogen worden.
Binnenmarkt und Freiheiten
Vier Grundfreiheiten
Zu den Kernbestandteilen des Binnenmarkts zählen die vier Grundfreiheiten:
- Freier Warenverkehr
- Freier Personenverkehr
- Dienstleistungsfreiheit
- Kapitalverkehrsfreiheit
Diese Freiheiten sind in den Verträgen verankert und durch umfangreiche Rechtsprechung präzisiert.
Internationale Vertretung und Außenbeziehungen
Völkerrechtliche Handlungsfähigkeit
Durch die eigene Rechtspersönlichkeit nimmt die EU international Rechte und Pflichten wahr. Sie kann Verträge abschließen und ist im Rahmen der Zuständigkeiten völkerrechtlich handlungsfähig (vgl. Art. 216 AEUV). Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist speziell reguliert (Art. 21 ff. EUV).
Rechtsschutz und Grundrechte
Grundrechtsschutz
Die Charta der Grundrechte ist integraler Bestandteil des Unionsrechts und bindet die Organe sowie in der Umsetzung des Unionsrechts auch die Mitgliedstaaten (Art. 6 EUV). Der EuGH garantiert die Durchsetzung der Grundrechte.
Zusammenfassung
Die Europäische Union ist ein komplexer, rechtlich umfassend regulierter Zusammenschluss von Staaten mit eigenständiger Rechtspersönlichkeit und tiefgreifender Autonomie im Bereich des Unionsrechts. Durch ihre Verträge, Organe und vielfältigen Kompetenzausübungen bildet sie ein eigenständiges Rechtsregime, dessen Normen Vorrang gegenüber nationalem Recht haben und das durch eigene Gerichtsbarkeit geschützt und entwickelt wird. Die Dynamik der Europäischen Union liegt in der fortlaufenden Integration, der Wechselwirkung nationaler und supranationaler Rechtsordnungen sowie der Sicherung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit im Kontext eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts.
Häufig gestellte Fragen
Wie erfolgt die Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht?
Die EU-Richtlinie ist ein Rechtsakt, der für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, ihnen jedoch die Wahl der Form und Mittel zur Umsetzung überlässt (Art. 288 AEUV). Nach dem Erlass einer Richtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sie innerhalb einer in der Richtlinie bestimmten Frist in nationales Recht umzusetzen. Dieser Vorgang erfolgt typischerweise durch den Erlass nationaler Gesetze, Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften. Die Umsetzung wird von der Europäischen Kommission überwacht, die ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten kann, falls ein Mitgliedstaat der Pflicht nicht nachkommt oder sie fehlerhaft erfüllt. Einzelne Bürger können sich auf umgesetzte Richtlinien vor nationalen Gerichten berufen. Wird eine Richtlinie nicht fristgerecht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt, kann sich in bestimmten Fällen auch eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie ergeben („direkte Wirkung”), sofern die Bestimmungen inhaltlich hinreichend genau und unbedingt formuliert sind. Die genaue Umsetzungspraxis variiert von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, richtet sich jedoch stets nach nationalen Gesetzgebungsverfahren und den verfassungsrechtlichen Vorgaben der jeweiligen Länder.
Welche Rolle spielen die nationalen Gerichte bei der Anwendung des EU-Rechts?
Nationale Gerichte sind wesentliche Bindeglieder für die Durchsetzung des EU-Rechts im nationalen Rechtssystem. Sie sind nicht nur verpflichtet, das EU-Recht anzuwenden, sondern im Konfliktfall auch vorrangig gegenüber widersprechendem nationalen Recht zur Anwendung zu bringen („Vorrang des Unionsrechts”). Darüber hinaus können nationale Gerichte im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anrufen, um Auslegungs- oder Gültigkeitsfragen zu klären. Dieses Verfahren stellt sicher, dass das EU-Recht einheitlich interpretiert wird. Nationale Gerichte müssen zudem für die effektive Durchsetzung des Unionsrechts sorgen, indem sie entsprechende Rechtsbehelfe gewähren, die das nationale System vorsieht. In bestimmten Fällen können Einzelne sich in nationalen Verfahren unmittelbar auf das EU-Recht berufen, wenn dessen Bestimmungen genau, klar und unbedingt sind (unmittelbare Wirkung).
Was passiert, wenn ein Mitgliedstaat gegen EU-Recht verstößt?
Verstößt ein Mitgliedstaat gegen Verpflichtungen aus dem EU-Recht, sieht der Unionsvertrag ein strukturiertes Vertragsverletzungsverfahren vor (Art. 258 ff. AEUV). Die Europäische Kommission, als „Hüterin der Verträge”, prüft zunächst die mutmaßliche Verletzung und fordert den betroffenen Staat zur Stellungnahme und ggf. zur Abhilfe auf (Aufforderungsschreiben und begründete Stellungnahme). Bleibt die Vertragsverletzung bestehen, kann die Kommission Klage vor dem EuGH erheben. Wird eine Verletzung festgestellt, verpflichtet das Urteil den Staat zur Abstellung des Verstoßes. Kommt ein Staat dem nicht nach, kann der EuGH auf Antrag der Kommission Zwangsgelder oder Pauschalbeträge verhängen (Art. 260 AEUV). Auch andere Mitgliedstaaten haben das Recht, Vertragsverletzungsklagen gegen ihre Partner zu führen.
Welche Rechtsmittel stehen Einzelnen bei EU-rechtlichen Verstößen zur Verfügung?
Einzelpersonen und Unternehmen, die der Ansicht sind, durch EU-rechtliche Maßnahmen oder Vorschriften in ihren Rechten verletzt zu sein, können – abhängig vom Sachverhalt – verschiedene Rechtsmittel ergreifen. Zumeist sind zunächst die nationalen Gerichte zuständig und es gelten die dortigen Rechtsbehelfe. In bestimmten Fällen besteht die Möglichkeit, vor dem EuGH eine Nichtigkeitsklage gegen Handlungen der EU-Organe zu erheben (Art. 263 AEUV), wobei die Klagebefugnis für Einzelne eingeschränkt ist („individuelle Betroffenheit”). In Verwaltungsverfahren innerhalb der EU kann der Europäische Bürgerbeauftragte (Ombudsmann) eingeschaltet werden. Darüber hinaus ermöglicht Art. 267 AEUV, dass nationale Gerichte im Rahmen eines laufenden Verfahrens Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit des EU-Rechts dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen. Im Schadensfall können Einzelne gegen den Mitgliedstaat klagen, wenn dieser EU-Recht verletzt hat und ihnen hierdurch ein Schaden entstanden ist („Staatshaftung nach Francovich”).
Wie ist das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht geregelt?
Das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht ist vom Grundsatz des Anwendungsvorrangs geprägt. Dies bedeutet, dass das EU-Recht im Falle eines Widerspruchs grundsätzlich dem nationalen Recht vorgeht. Nationale Vorschriften, die im Konflikt zu EU-Recht stehen, dürfen nicht angewendet werden; notfalls müssen nationale Gerichte solche Vorschriften unangewendet lassen. Der Anwendungsvorrang gilt unabhängig vom Rang der nationalen Norm, betrifft jedoch nur den Bereich des geregelten EU-Rechts und keine Kompetenzüberschreitungen. Die Rechtsprechung des EuGH hat den Anwendungsvorrang über Jahrzehnte entwickelt und konkretisiert. In einzelnen Mitgliedstaaten, etwa Deutschland oder Polen, bestehen verfassungsrechtliche Diskussionen über Ausnahmen des Vorrangs, insbesondere zugunsten grundrechtlicher Kernbereiche. Gleichwohl gilt im Alltag des europäischen Rechts die Effektivität und Vorrangigkeit der Unionsrechtsordnung.
Was ist das Vorabentscheidungsverfahren und welche Funktion erfüllt es?
Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein zentrales Instrument zur Sicherung der Einheitlichkeit und Wirksamkeit des EU-Rechts (Art. 267 AEUV). Nationale Gerichte können dem EuGH Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit des EU-Rechts vorlegen, wenn solche Fragen für die Entscheidung eines bei ihnen anhängigen Rechtsstreits erheblich sind. Für letztinstanzliche Gerichte besteht sogar eine Vorlagepflicht. Der EuGH beantwortet die gestellten Fragen in einem verbindlichen Urteil, dessen Auslegung für das vorlegende Gericht und alle anderen Gerichte der Mitgliedstaaten relevant ist. Das Verfahren stellt sicher, dass das Unionsrecht in allen Staaten gleich ausgelegt und angewandt wird, trägt zur Rechtssicherheit bei und fördert die Rechtsfortbildung innerhalb der Union. Die enge Zusammenarbeit zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH – das sogenannte „Gerichtsdialog” – ist hierbei von ausschlaggebender Bedeutung.