Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Familienrecht»Erziehungshilfe

Erziehungshilfe


Definition und rechtlicher Rahmen der Erziehungshilfe

Erziehungshilfe ist ein zentrales Element des deutschen Kinder- und Jugendhilferechts und bezeichnet vielfältige Leistungen, die minderjährigen Kindern, Jugendlichen sowie jungen Volljährigen und deren Familien im Bedarfsfall zur Erziehung, Entwicklung und zur Bewältigung von Problemlagen gewährt werden. Diese Hilfen werden durch das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geregelt und stellen einen Anspruch auf Unterstützung sicher, wenn die Entwicklung eines jungen Menschen gefährdet ist und die Erziehungsberechtigten zur Abwendung dieser Gefahr nicht ausreichend in der Lage sind.

Rechtsgrundlagen der Erziehungshilfe

SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe

Den gesetzlichen Rahmen bildet das SGB VIII, insbesondere die §§ 27 ff. Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung besteht gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII, wenn eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für die Entwicklung des jungen Menschen geeignet und notwendig erscheint. Weitere relevante Vorschriften sind §§ 28-35a SGB VIII, in denen spezifische Formen der Hilfen zur Erziehung definiert werden.

Anspruchsberechtigte Personen

Anspruch auf Erziehungshilfe haben grundsätzlich alle Minderjährigen sowie junge Volljährige (§ 41 SGB VIII), deren Entwicklung gefährdet ist. Die Erziehungsberechtigten – in der Regel die Eltern – müssen die Hilfen beantragen, wobei das Kind oder der Jugendliche ab einem bestimmten Alter auch selbst als Antragsteller auftreten kann (§ 36 SGB VIII).

Formen und Ausgestaltung der Erziehungshilfe

Ambulante Hilfen

Ambulante Hilfen werden im familiären Umfeld angeboten. Dazu zählen:

  • Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII): Intensive Betreuung und Beratung der Familie zur Bewältigung von Erziehungsproblemen.
  • Erziehungsbeistand (§ 30 SGB VIII): Individuelle Unterstützung des Kindes oder Jugendlichen zur Förderung der Verselbständigung.
  • Betreuungshelfer (§ 30 Abs. 2 SGB VIII): Sozialpädagogische Unterstützung mit gerichtlicher Anordnung.

Teilstationäre und stationäre Hilfen

  • Tagesgruppen (§ 32 SGB VIII): Teilstationäre Einrichtungen, in denen Kinder nach dem Schulbesuch betreut werden.
  • Vollstationäre Leistungen (Heimerziehung, § 34 SGB VIII): Unterbringung in Heimen, Wohngruppen oder Pflegefamilien, wenn eine Unterbringung rund um die Uhr erforderlich ist.
  • Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen (§ 34 SGB VIII): Umfassende Betreuung außerhalb des Elternhauses einschließlich schulischer und beruflicher Förderung.

Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung

Insbesondere für Jugendliche mit schweren individuellen Problemen gibt es Angebote wie die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII), wobei ein besonders individualisiertes Betreuungskonzept zum Tragen kommt.

Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche

§ 35a SGB VIII regelt die Eingliederungshilfe für Minderjährige, die von einer seelischen Behinderung bedroht oder betroffen sind, sofern die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dadurch beeinträchtigt ist.

Verfahren, Zuständigkeit und Durchführung

Antragstellung und Beteiligung

Der Hilfebedarf wird durch Antragstellung an das Jugendamt nach § 36 SGB VIII eingeleitet. Das Jugendamt prüft im Rahmen eines partizipativen Hilfeplanverfahrens gemeinsam mit allen Beteiligten (Kind/Jugendlicher, Sorgeberechtigte, Fachkräfte) die Notwendigkeit und die geeigneten Hilfen. Das Hilfeplanverfahren ist verpflichtend und dient der Sicherstellung individueller und bedarfsgerechter Unterstützung.

Entscheidungsfindung und Auswahl der Hilfe

Mit Hilfe eines Hilfeplans (§ 36 SGB VIII) wird die konkrete Form der Erziehungshilfe festgelegt. Die Leistungen sind freiwillig, sofern keine akute Kindeswohlgefährdung (§ 42 SGB VIII) vorliegt, in welchem Fall das Jugendamt auch gegen den Willen der Eltern tätig werden kann.

Finanzierung und Kostenheranziehung

Die Leistungen der Hilfen zur Erziehung werden überwiegend von den örtlichen Jugendämtern finanziert. Ggf. werden die Sorgeberechtigten gemäß §§ 91, 92 SGB VIII zu den Kosten herangezogen, abhängig von deren finanzieller Leistungsfähigkeit.

Dauer, Beendigung und Rechte der Beteiligten

Dauer und Überprüfung der Hilfe

Die Dauer der Erziehungshilfe richtet sich nach dem individuellen Hilfebedarf und wird fortlaufend im Hilfeplanverfahren überprüft und angepasst. Jede Maßnahme kann bei Wegfall der Voraussetzungen beendet werden (§ 27 Abs. 2 SGB VIII).

Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte

Kinder, Jugendliche und Personensorgeberechtigte haben das Recht auf Mitwirkung und Beteiligung an allen Entscheidungen (§ 36 SGB VIII). Besonders ab 14 Jahren ist die Beteiligung der betroffenen Kinder und Jugendlichen ausdrücklich vorzusehen.

Rechtsschutz und Beschwerdemöglichkeiten

Bei Meinungsverschiedenheiten besteht die Möglichkeit der Beschwerde gegen Entscheidungen des Jugendamtes bei der übergeordneten Aufsichtsbehörde oder über das Familiengericht nach §§ 42, 43 SGB VIII.

Besondere rechtliche Aspekte

Verhältnis zu anderen Hilfesystemen

Die Erziehungshilfe ist Teil der Kinder- und Jugendhilfe, grenzt sich aber von Maßnahmen im Bereich des Bildungswesens (Schule), der Gesundheitshilfe (SGB V), der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen (SGB IX) und von Maßnahmen des Familienrechts ab. Im Fall einer drohenden oder bestehenden Kindeswohlgefährdung greift das Jugendamt als „Wächteramt“ im Sinne des § 1666 BGB ein.

Datenschutz und Schweigepflicht

Die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Hilfen zur Erziehung unterliegt strengen datenschutzrechtlichen Vorschriften nach SGB VIII und DSGVO. Alle an der Hilfemaßnahme Beteiligten sind zur Wahrung des Sozialgeheimnisses verpflichtet.

Wissenschaftliche und gesellschaftliche Einordnung

Erziehungshilfen haben eine zentrale Funktion im präventiven und intervenierenden Kinderschutz sowie der sozialen Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Wahrung des Kindeswohls und zur Sicherstellung fairer Entwicklungschancen.


Hinweis: Der Rechtsrahmen kann sich durch Gesetzesänderungen oder aktuelle Rechtsprechung verändern. Im Zweifelsfall empfiehlt es sich, die aktuell gültige Gesetzesfassung zu konsultieren.

Häufig gestellte Fragen

Wer hat einen Anspruch auf Erziehungshilfe im rechtlichen Sinne?

Ein Anspruch auf Erziehungshilfe ergibt sich aus § 27 Abs. 1 SGB VIII (Sozialgesetzbuch Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe). Grundsätzlich haben Personensorgeberechtigte – in der Regel sind dies die Eltern – einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn die Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen ohne diese Hilfe nicht gewährleistet werden kann und eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung im Sinne des Kindeswohls gefährdet ist. Der Antrag ist beim örtlich zuständigen Jugendamt zu stellen. Die Gewährung der Hilfe erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei das Kindeswohl stets im Vordergrund steht. Jugendliche selbst haben unter bestimmten Voraussetzungen auch einen eigenen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, insbesondere wenn sie einen notwendigen Bedarf aufweisen und der Kontakt zu den Sorgeberechtigten gestört oder unmöglich ist (§ 27 Abs. 4 SGB VIII).

Wer ist für die Gewährung und Überwachung der Erziehungshilfe zuständig?

Zuständig für die Gewährung, Organisation und Überwachung der Erziehungshilfen ist das Jugendamt als Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Das Jugendamt prüft den Hilfebedarf, führt die sogenannte „Hilfebedarfsklärung“ durch und erstellt gemeinsam mit den Beteiligten einen Hilfeplan (§ 36 SGB VIII). Dabei muss das Jugendamt regelmäßig überprüfen, ob die gewährte Hilfe weiterhin geeignet und erforderlich ist. Die Kontrolle beinhaltet auch die Zusammenarbeit mit freien Trägern der Jugendhilfe, die häufig die praktische Durchführung der Hilfen übernehmen. Darüber hinaus obliegt dem Jugendamt die rechtliche Verantwortung für das gesamte Hilfeverfahren, inklusive Dokumentations- und Berichtspflichten sowie das Beschwerdewesen gemäß § 9a SGB VIII.

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für die Bewilligung von Erziehungshilfe vorliegen?

Die rechtlichen Voraussetzungen sind im Wesentlichen in § 27 SGB VIII geregelt. Zentrale Voraussetzung ist der festgestellte Bedarf an Hilfe zur Erziehung, der vorliegt, wenn eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig erscheint. Ein Antrag der Personensorgeberechtigten oder des Jugendlichen (bzw. mit deren Zustimmung) muss beim Jugendamt gestellt werden. Des Weiteren wird im Rahmen des Hilfeplanverfahrens geprüft, ob andere Leistungen oder Hilfen in Betracht kommen (Subsidiaritätsprinzip) und welche Form der Hilfe am besten geeignet ist. Dazu zählen auch ambulante, teilstationäre oder stationäre Angebote, je nach individuellem Bedarf und Lebenslage (§§ 28-35 SGB VIII).

Welche Rechte haben Eltern und Kinder im Hilfeplanverfahren?

Im Hilfeplanverfahren haben sowohl Eltern als auch Kinder und Jugendliche umfangreiche Beteiligungsrechte (§ 36 SGB VIII). Sie sind zur Mitwirkung berechtigt und müssen über alle Schritt des Hilfeplanprozesses informiert und einbezogen werden. Das betrifft insbesondere die Feststellung des Hilfebedarfs, die Auswahl der geeigneten Hilfeform und die Festlegung der weiteren Perspektive und Ziele. Ergebnisse und Entscheidungen sind schriftlich festzuhalten und den Beteiligten transparent mitzuteilen. Darüber hinaus besteht ein Rechtsanspruch auf ein förmliches Hilfeplanverfahren sowie auf Anhörung. Wird eine gewünschte Hilfe abgelehnt, steht den Betroffenen der Rechtsweg offen, sodass sie Widerspruch und im Anschluss Klage beim Verwaltungsgericht einreichen können.

Wie lange besteht ein Anspruch auf Erziehungshilfe und wie erfolgt die Beendigung?

Der Anspruch auf Erziehungshilfe besteht, solange die individuellen Voraussetzungen vorliegen; eine Befristung sieht das Gesetz nicht grundsätzlich vor. Das Jugendamt ist jedoch verpflichtet, die Notwendigkeit der Hilfe in regelmäßigen Abständen im Rahmen der Hilfeplanüberprüfung zu evaluieren. Die Beendigung der Erziehungshilfe erfolgt, sobald die Ziele erreicht wurden oder die Umstände sich so geändert haben, dass die Hilfe nicht mehr notwendig, geeignet oder angezeigt ist. Über die Einstellung oder den Wechsel der Hilfeform entscheidet das Jugendamt nach einer erneuten Prüfung und unter Einbeziehung der Betroffenen. Kommt es dabei zum Streit, können Rechtsmittel eingelegt bzw. eine gerichtliche Klärung herbeigeführt werden.

Welche rechtlichen Schutzmöglichkeiten bestehen bei Ablehnung oder Streit über die Gewährung von Erziehungshilfe?

Im Falle der Ablehnung einer beantragten Erziehungshilfe oder bei Unstimmigkeiten hinsichtlich Art, Umfang oder Dauer der gewährten Hilfe haben Betroffene die Möglichkeit, förmliche Rechtsmittel einzulegen. Gegen einen ablehnenden Bescheid des Jugendamtes kann zunächst ein Widerspruch gemäß §§ 68 ff. VwGO (Verwaltungsgerichtsordnung) eingelegt werden. Sollte diesem nicht abgeholfen werden, besteht die Möglichkeit der Klage vor dem Verwaltungsgericht. Während dieses Verfahrens kann unter Umständen auch vorläufiger Rechtsschutz beantragt werden, um unzumutbare Nachteile für das Kind oder den Jugendlichen zu vermeiden. Darüber hinaus steht seit 2022 das zivilrechtliche Verfahren der „Verfahrenslotsen“ als niedrigschwellige Beschwerdemöglichkeit zur Verfügung, das den Zugang zu rechtlicher Klärung erleichtert.

Welche Rechte haben Minderjährige selbst im Kontext der Erziehungshilfe?

Minderjährige, also Kinder und Jugendliche, werden gemäß § 8 SGB VIII ausdrücklich in ihren Beteiligungsrechten gestärkt. Sie haben das Recht, bei allen für sie bedeutsamen Angelegenheiten der öffentlichen Jugendhilfe (insbesondere bei Hilfe zur Erziehung) regelmäßig anzuhören und zu beteiligen. Auch eigene Anträge können sie – insbesondere ab 15 Jahren – selbst stellen, wenn das Kindeswohl dies erfordert oder der Kontakt zu den Sorgeberechtigten unmöglich ist. Der Wille des Kindes ist bei allen Entscheidungen zu berücksichtigen, wobei das Alter, die Reife und die Entwicklung berücksichtigt werden. In bestimmten Fällen kann das Familiengericht rechtsverbindlich über die Interessenvertretung des Kindes entscheiden, etwa durch die Bestellung eines Verfahrensbeistands (§ 158 FamFG) oder durch Bestellung eines Vormunds (§ 1773 BGB i.V.m. §§ 1800 ff. BGB).