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Erwerbsminderung


Begriff und rechtliche Einordnung der Erwerbsminderung

Erwerbsminderung ist ein zentrales sozialrechtliches Konzept im deutschen Recht, das insbesondere im Zusammenhang mit Rentenansprüchen sowie dem Schutz der Arbeitskraft und dem Sozialleistungssystem von Bedeutung ist. Die Erwerbsminderung beschreibt den Zustand, in dem eine Person infolge von Krankheit oder Behinderung nicht mehr oder nur noch eingeschränkt in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die rechtliche Definition und die einzelnen Kategorien sind im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelt.


Gesetzliche Grundlagen der Erwerbsminderung

Relevante Rechtsnormen

Die maßgeblichen Bestimmungen zur Erwerbsminderung finden sich besonders in §§ 43 ff. SGB VI. Diese Vorschriften regeln die Erwerbsminderungsrente und deren Voraussetzungen, beginnend mit der genauen Begriffsbestimmung bis hin zu den leistungsrechtlichen Tatbeständen.

Abgrenzung: Erwerbsfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit

Die Erwerbsminderung ist abzugrenzen von verwandten Begriffen wie Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit. Während die Arbeitsunfähigkeit vor allem temporäre Leistungseinbußen betrifft, bezieht sich die Berufsunfähigkeit auf die Unfähigkeit, den zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben. Im Gegensatz dazu bezieht sich Erwerbsminderung auf die Fähigkeit, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes überhaupt noch tätig zu sein.


Arten der Erwerbsminderung

Volle Erwerbsminderung

Eine volle Erwerbsminderung liegt gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI vor, wenn die versicherte Person wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Teilweise Erwerbsminderung

Eine teilweise Erwerbsminderung ist gegeben, wenn die betroffene Person zwischen drei und unter sechs Stunden täglich arbeiten kann. In diesem Fall besteht unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ein Anspruch auf die sogenannte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.


Voraussetzungen für die Feststellung der Erwerbsminderung

Medizinische Voraussetzungen

Erforderlich ist zunächst ein medizinisch begründeter Verlust oder eine erhebliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit infolge von Krankheit, Behinderung oder Unfall. Die Einschätzung erfolgt regelmäßig durch Gutachten, welche den körperlichen und geistigen Gesundheitszustand einschließlich der verbliebenen Belastbarkeit beurteilen.

Versicherungsrechtliche Voraussetzungen

Neben der medizinischen Beurteilung ist ein ausreichender Versicherungsverlauf nachzuweisen. Die allgemeine Wartezeit beträgt 60 Kalendermonate mit Beitragszeiten (§ 50 SGB VI). Darüber hinaus muss im Regelfall in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens 36 Monate mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sein.

Nahtlosigkeitsregelung

Für Versicherte, bei denen noch kein abschließender Entscheid über die Erwerbsminderung vorliegt, sind Übergangsregelungen vorgesehen. Diese sogenannten Nahtlosigkeitsregelungen (§ 125 SGB III) dienen der Sicherung des Lebensunterhalts bis zur endgültigen Feststellung.


Verfahren zur Feststellung der Erwerbsminderung

Das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsminderung wird durch einen formellen Antrag bei der Deutschen Rentenversicherung eingeleitet. Im Rahmen des Bewilligungsverfahrens werden medizinische Gutachten eingeholt, ärztliche Befunde ausgewertet sowie die individuellen arbeitsmarktbezogenen Faktoren geprüft.

Im Anschluss ergeht ein Verwaltungsakt, gegen den Rechtsmittel (Widerspruch, gegebenenfalls Klage) möglich sind.


Rechtsfolgen der Erwerbsminderung

Anspruch auf Erwerbsminderungsrente

Liegen die Voraussetzungen vor, entsteht ein Anspruch auf eine monatliche Erwerbsminderungsrente. Die Rentenhöhe bemisst sich nach den im Gesetz definierten Grundlagen unter Einbeziehung von Entgeltpunkten, Zugangsfaktoren und Hinzurechnungszeiten, die die Erwerbsbiografie simulieren.

Teilweise Erwerbsminderungsrente und Hinzuverdienstmöglichkeiten

Bei teilweiser Erwerbsminderung ist ein paralleler Hinzuverdienst unter Beachtung gesetzlicher Hinzuverdienstgrenzen möglich. Die Einkommensanrechnung regelt § 96a SGB VI.

Befristung und Überprüfung

Leistungen wegen Erwerbsminderung können zunächst befristet bewilligt werden. Innerhalb dieses Rahmens finden regelmäßige Überprüfungen statt, um fortdauernde oder veränderte Erwerbsminderung zu verifizieren (§ 102 SGB VI).


Besondere Fallgruppen und Sonderregelungen

Geringfügig Beschäftigte und Teilzeitkräfte

Auch geringfügig Beschäftigte und Personen in Teilzeitarbeit können im Grundsatz erwerbsgemindert sein, sofern sie die weiteren versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen.

Versicherte mit besonderen Versicherungsverläufen

Für bestimmte Personengruppen – etwa schwerbehinderte Menschen oder Versicherte mit Erwerbsminderung durch Arbeitsunfall – existieren eigene Regelungen, z.B. durch das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).


Verhältnis zu anderen Sozialleistungen

Erwerbsminderung kann Auswirkungen auf andere Leistungsbereiche haben:

  • Arbeitslosengeld: Bei Erwerbsminderung besteht unter Umständen kein Anspruch auf Leistungen nach SGB III.
  • Grundsicherung: Besteht nach Ausschöpfung der Rentenansprüche ein weiterer Bedarf, kann Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII bestehen.

Beendigung und Wegfall der Erwerbsminderung

Die Erwerbsminderungsrente endet spätestens mit Erreichen der Regelaltersgrenze. Sie entfällt auch, wenn die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind oder nach Ablauf der festgelegten Leistungsdauer keine erneute Feststellung einer fortbestehenden Erwerbsminderung erfolgt.


Rechtsschutz und Durchsetzung von Ansprüchen

Im Streitfall steht Betroffenen der Rechtsweg zu den Sozialgerichten offen. Wichtige Instrumente sind der Widerspruch gegen Verwaltungsakte sowie die sozialgerichtliche Klage gemäß SGG.


Literatur und weiterführende Informationen

  • Sozialgesetzbuch (SGB VI) – Gesetzliche Rentenversicherung
  • Sozialgesetzbuch (SGB VII) – Unfallversicherung
  • Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
  • Bundessozialgericht (BSG) – Urteile zur Erwerbsminderung

Zusammenfassung

Erwerbsminderung ist ein komplexer sozialrechtlicher Begriff mit weitreichenden Konsequenzen für den sozialen Schutz und die Sicherung des Lebensunterhalts Betroffener. Die rechtlichen Voraussetzungen, das Feststellungsverfahren und die Finanzierungsmöglichkeiten sind eng und detailliert geregelt. Dies dient dem Ausgleich von Erwerbseinbußen infolge gesundheitlicher Einschränkungen und stellt einen wesentlichen Bestandteil des deutschen Sozialversicherungssystems dar.

Häufig gestellte Fragen

Welche Voraussetzungen müssen für die Anerkennung einer Erwerbsminderung rechtlich erfüllt sein?

Um eine Anerkennung als erwerbsgemindert nach dem deutschen Sozialgesetzbuch (insbesondere SGB VI) zu erhalten, muss ein Antragsteller bestimmte rechtliche Voraussetzungen erfüllen. Zunächst muss eine gesundheitliche Einschränkung vorliegen, die entweder zur teilweisen oder vollen Erwerbsminderung führt. Entscheidend ist hierbei, dass die Leistungsfähigkeit erheblich gemindert ist: Bei teilweiser Erwerbsminderung darf der Betroffene nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten können; bei voller Erwerbsminderung weniger als drei Stunden. Die Einschätzung erfolgt durch ärztliche Gutachter der Deutschen Rentenversicherung. Darüber hinaus müssen versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt werden: Der Antragsteller muss in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt haben. Zusätzlich muss eine Mindestversicherungszeit (Wartezeit) von fünf Jahren erfüllt sein. Bestimmte Sonderregelungen gelten u.a. bei Arbeitsunfällen oder bei besonderen Personengruppen wie z.B. schwerbehinderten Menschen.

Wie läuft das Antragsverfahren zur Feststellung der Erwerbsminderung rechtlich ab?

Das Antragsverfahren zur Feststellung der Erwerbsminderung ist gesetzlich klar geregelt: Der Antrag ist schriftlich bei der Deutschen Rentenversicherung zu stellen. Zuständig ist der Rentenversicherungsträger, bei dem der Antragsteller zuletzt versichert war. Nach Antragstellung wird ein Verwaltungsverfahren eingeleitet, bei dem die medizinischen Voraussetzungen zunächst durch Befragung, Einholung ärztlicher Unterlagen und meist auch durch eine Begutachtung durch einen vom Rentenversicherungsträger beauftragten Arzt geprüft werden. Die Versicherten sind verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, etwa indem sie sich zu Untersuchungen bereit erklären oder Informationen einreichen. Sollte der Antrag abgelehnt werden, besteht die Möglichkeit, innerhalb eines Monats Widerspruch einzulegen. Im weiteren Verlauf kann Klage vor dem Sozialgericht erhoben werden. Rechtsgrundlagen sind das Sozialgesetzbuch X und VI sowie die Verfahrensregelungen der Deutschen Rentenversicherung.

Welche rechtlichen Ansprüche hat ein Erwerbsgeminderter nach Anerkennung?

Sobald eine Erwerbsminderung anerkannt ist, besteht der Anspruch auf die entsprechende Rente wegen Erwerbsminderung, deren Höhe sich nach den Rentenpunkten im Versicherungsverlauf berechnet. Je nachdem, ob eine teilweise oder volle Erwerbsminderung vorliegt, wird eine ungekürzte oder reduzierte Rente gezahlt. Darüber hinaus sind auch bestimmte sozialrechtliche Schutzregelungen zu beachten: Erwerbsgeminderte unterliegen besonderen Kündigungsschutzregelungen gemäß SGB IX und haben ggf. Anspruch auf Leistungen zur Rehabilitation oder Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 SGB IX), wenn eine Rückkehr ins Arbeitsleben möglich erscheint. Rechte und Pflichten bezüglich zur Meldung von Änderungen des Gesundheitszustands sowie zur Mitwirkung bei Nachprüfungen sind zwingend zu beachten, andernfalls droht der Verlust oder die Rückforderung der Leistung.

Wie lange gilt die anerkannte Erwerbsminderung und wie wird sie überprüft?

Die Anerkennung der Erwerbsminderung erfolgt in der Regel befristet, typischerweise für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren, da das Gesetz von einer möglichen Besserung des Gesundheitszustandes ausgeht (§ 102 SGB VI). Vor Ablauf der Befristung wird von Amts wegen geprüft, ob die Voraussetzungen für die Erwerbsminderung weiterhin bestehen (sogenannte Nachprüfung). Hierzu wird erneut eine medizinische Begutachtung vorgenommen. Erst wenn medizinisch unwahrscheinlich ist, dass eine Besserung eintritt, kann die Erwerbsminderung auf Dauer anerkannt werden. Die Rentenversicherung ist berechtigt, auch außerhalb des Turnus Nachprüfungen anzuordnen, sobald ihr neue Erkenntnisse oder Hinweise auf eine Veränderung des Gesundheitszustands vorliegen.

Gibt es rechtliche Möglichkeiten gegen eine abgelehnte Anerkennung der Erwerbsminderung?

Sollte der Antrag auf Erwerbsminderungsrente abgelehnt werden, steht dem Antragsteller innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheids das Widerspruchsrecht zu. Der Widerspruch ist schriftlich zu begründen; ergänzende medizinische Gutachten oder Unterlagen können eingereicht werden. Bleibt der Widerspruch erfolglos, kann innerhalb eines Monats nach Zugang des ablehnenden Widerspruchsbescheids Klage beim zuständigen Sozialgericht eingereicht werden. Im gerichtlichen Verfahren wird der Sachverhalt nochmals durch das Gericht, ggf. unter Hinzuziehung eines gerichtlichen medizinischen Gutachters, überprüft. Alle Verfahrensschritte beruhen auf den Regelungen des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des Verwaltungsverfahrensgesetzes.

Wie wird das Restleistungsvermögen juristisch bewertet?

Im Antrags- und Begutachtungsverfahren wird das sogenannte Restleistungsvermögen geprüft. Hierbei handelt es sich um eine juristisch-medizinische Beurteilung, in welchem Umfang der Antragsteller unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts noch arbeitsfähig ist. Maßstab ist nicht der zuletzt ausgeübte Beruf (Ausnahme: besondere Berufsgruppen wie Bergleute oder bei Erwerbsunfähigkeit vor 1961 Geborene), sondern jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts. Die Bewertung erfolgt durch ärztliche Einschätzung, gestützt durch medizinische Unterlagen, und unter Beachtung der jeweiligen Lebensumstände und Erreichbarkeit tatsächlich existierender Arbeitsplätze. Nur in Ausnahmefällen, etwa bei schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen, wird eine Einschränkung auf bestimmte Tätigkeiten vorgenommen.

Welche rechtlichen Verpflichtungen bestehen, nachdem die Erwerbsminderungsrente bewilligt wurde?

Nach der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente bestehen zahlreiche rechtliche Mitwirkungspflichten. Der Rentenbezieher muss relevante Änderungen, wie z.B. eine wesentliche gesundheitliche Besserung, Wiederaufnahme einer (Teilzeit-)Beschäftigung oder Erhalt von Reha-Leistungen, unverzüglich dem Rentenversicherungsträger mitteilen. Zudem kann der Rentenversicherungsträger jederzeit eine Nachuntersuchung anordnen, um die weitere Berechtigung zu überprüfen. Bei Verletzung der Mitwirkungspflicht oder Verschweigen relevanter Tatsachen drohen Sanktionen wie die Entziehung, Rückforderung der Rente sowie gegebenenfalls strafrechtliche Konsequenzen, sofern eine vorsätzliche Täuschung nachgewiesen wird. Die gesetzlichen Grundlagen hierfür finden sich insbesondere in den Mitwirkungsvorschriften des SGB X und SGB VI.