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Ermessen (Verwaltungsermessen)


Begriff und Bedeutung des Verwaltungsermessens

Das Verwaltungsermessen bezeichnet im deutschen Verwaltungsrecht die Entscheidungsspielräume, die einer Behörde bei der Anwendung von Rechtsnormen eingeräumt werden. Verwaltungsermessen entsteht, wenn die gesetzliche Regelung einer Behörde die Wahl zwischen mehreren rechtlich zulässigen Handlungsoptionen belässt. Typische Formulierungen, die Ermessen einräumen, sind etwa „kann“, „darf“ oder „ist befugt“.

Verwaltungsermessen stellt einen zentralen Aspekt der rechtsstaatlichen Verwaltung dar und dient dazu, eine situationsgerechte, angemessene und flexible Entscheidungsfindung in der Verwaltungspraxis zu ermöglichen.


Rechtsgrundlagen des Verwaltungsermessens

Gesetzliche Ausgestaltung

Die Grundlagen des Verwaltungsermessens finden sich überwiegend in den allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzen (z. B. § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG)) sowie in Spezialgesetzen. Die Gesetze formulieren an relevanten Stellen bewusst unbestimmte Handlungsbefugnisse, um der Verwaltung eine auf die jeweilige Einzelsituation zugeschnittene Entscheidung zu erlauben.

Typische Gesetzesformeln

Typische Formulierungen zur Einräumung von Ermessen sind etwa:

  • „Die Behörde kann … anordnen …“
  • „… darf … untersagen …“
  • „… ist ermächtigt, … zu verbieten …“

Solche Regelungen unterscheiden sich von gebundenen Verwaltungsakten, bei denen der Behörde kein Spielraum bleibt („muss“).


Arten des Ermessens

Entschließungsermessen und Auswahlermessen

Rechtlich lassen sich zwei Ausprägungen des Verwaltungsermessens unterscheiden:

  • Entschließungsermessen: Die Behörde entscheidet, ob sie überhaupt tätig wird. Beispiel: Die Polizei kann einschreiten, muss aber nicht zwingend.
  • Auswahlermessen: Ist die Entscheidung getroffen, tätig zu werden, wählt die Behörde das „wie“. Sie kann zwischen mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen auswählen.

Das Ermessen bezieht sich somit sowohl auf die Entscheidung für oder gegen ein Tätigwerden als auch auf die Wahl der konkreten Maßnahme.


Grenzen und Bindungen des Verwaltungsermessens

Ermessensausübungspflicht

Obwohl die Behörde Ermessensspielräume besitzt, besteht dennoch die Verpflichtung, das Ermessen auszuüben. Ein Verzicht auf die Ermessensausübung („Ermessensnichtgebrauch“) ist regelmäßig rechtswidrig, wenn das Gesetz Ermessen fordert.

Schranken des Ermessens

Gesetzliche Bindung

Das Verwaltungsermessen ist durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begrenzt. Es darf nicht dazu führen, dass gesetzliche Vorgaben oder höherrangige Rechtsnormen (bspw. Grundrechte) verletzt werden.

Grundsätze der Ermessensausübung

Gemäß § 40 VwVfG hat die Behörde das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Beachtung der gesetzlichen Grenzen auszuüben. Dabei sind insbesondere folgende Grundsätze zu beachten:

  • Zweckgebundenheit: Die Ermessensermächtigung dient einem bestimmten Sachzweck, z. B. dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
  • Verhältnismäßigkeit: Ermessensentscheidungen müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein.
  • Gleichbehandlungsgrundsatz: Die Behörde muss ähnlich gelagerte Fälle gleich behandeln und Diskriminierungen vermeiden.
  • Willkürverbot: Willkürliche Ermessensausübung ist unzulässig.

Ermessensreduzierung auf Null

In seltenen Fällen kann das Ermessen „auf Null“ reduziert sein. Dies ist dann gegeben, wenn ausnahmsweise nur eine bestimmte Entscheidung rechtskonform ist. In diesen Konstellationen besteht für die Behörde faktisch keine Entscheidungsfreiheit mehr.


Ermessensfehler und gerichtliche Kontrolle

Ermessensfehler

Eine Ermessensentscheidung ist rechtlich zu beanstanden, wenn einer der folgenden Ermessensfehler vorliegt:

  • Ermessensnichtgebrauch: Die Behörde hat das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt.
  • Ermessensüberschreitung: Die Behörde hat die Grenzen des Ermessens überschritten, insbesondere gegen das Gesetz oder höherrangiges Recht verstoßen.
  • Ermessensfehlgebrauch: Die Entscheidung wurde nicht am Zweck der Ermächtigung ausgerichtet oder beruht auf sachfremden Erwägungen.

Gerichtliche Überprüfbarkeit

Die Verwaltungsgerichte überprüfen ausschließlich, ob ein Ermessensfehler vorliegt (§ 114 VwGO). Die Gerichte sind jedoch darauf beschränkt, die Ermessensausübung auf Fehler zu kontrollieren; eine eigene Ermessensausübung ist ihnen grundsätzlich nicht gestattet.

Rechtsfolgen von Ermessensfehlern

Liegt ein Ermessensfehler vor, ist der betreffende Verwaltungsakt rechtswidrig. In der Regel wird die Angelegenheit an die Verwaltung zurückverwiesen, um das Ermessen fehlerfrei auszuüben, sofern keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.


Funktion und Bedeutung des Verwaltungsermessens

Das Verwaltungsermessen ist Ausdruck der Flexibilität und Zweckmäßigkeit der Verwaltungstätigkeit. Es ermöglicht Verträglichkeit mit den Anforderungen des Einzelfalls und eine situationsangemessene Entscheidungsfindung. Gleichzeitig ist Verwaltungsermessen ein zentraler Prüfmaßstab im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsakten.

Bei umfassender Betrachtung ist Verwaltungsermessen ein grundlegendes Element des Rechtsstaatsprinzips und dient sowohl dem Gemeinwohl als auch dem Schutz der Rechte des Einzelnen vor willkürlicher Verwaltungstätigkeit.


Literatur und weiterführende Hinweise

  • Hans-Uwe Erichsen, Detlef Ehlers: Allgmeines Verwaltungsrecht, De Gruyter
  • Klaus F. Gärditz: Grundkurs Öffentliches Recht, Mohr Siebeck
  • Verwaltungsgerichtordnung (VwGO), insbesondere §§ 114, 113
  • Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), insbesondere § 40

Durch die umfassende Berücksichtigung der gesetzlichen Grundlagen, Ausprägungen und Grenzen sowie der gerichtlichen Kontrolle stellt das Verwaltungsermessen einen der zentralen Begriffe des deutschen Verwaltungsrechts dar.

Häufig gestellte Fragen

Wie wird Verwaltungsermessen durch gerichtliche Kontrolle eingeschränkt?

Das Verwaltungsermessen ist kein unbegrenztes Handeln; vielmehr ist es einer rechtlichen Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte unterworfen. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich jedoch darauf, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten bzw. das Ermessen „fehlerfrei“ ausgeübt hat. Die Gerichte prüfen insbesondere, ob Ermessensnichtgebrauch (Ermessensausfall), Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch vorliegt. Ein Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Behörde ihr Ermessen überhaupt nicht erkennt oder nicht ausübt. Eine Ermessensüberschreitung ist gegeben, wenn die Behörde über den gesetzlichen Rahmen hinaus geht. Der Ermessensfehlgebrauch tritt ein, wenn die Behörde sachfremde Erwägungen in ihre Entscheidung einbezieht oder den Zweck der Ermächtigung verfehlt. Die inhaltliche Zweckmäßigkeit und Angemessenheit der Entscheidung ist der gerichtlichen Überprüfung jedoch grundsätzlich entzogen, da das Ermessen der Verwaltungsbehörde zusteht. Hier beschränkt sich die Kontrolle auf die Einhaltung rechtlicher Grenzen gemäß § 114 VwGO.

Wann ist Verwaltungsermessen ausgeschlossen?

Das Ermessen der Verwaltung ist ausgeschlossen, wenn das Gesetz eine gebundene Entscheidung vorsieht, also eine sogenannte „muss“-Regelung vorliegt. Das bedeutet, dass die Behörde in diesen Fällen keine Wahl zwischen verschiedenen Rechtsfolgen oder Handlungsalternativen hat, sondern zwingend eine bestimmte Maßnahme ergreifen muss. Ebenso kann Ermessen aufgrund der Tatbestandsstruktur ausgeschlossen sein, etwa wenn ein Konditionalprogramm („wenn-dann“) vorliegt. Auch kann Verwaltungsermessen durch Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschriften eingeengt oder im Einzelfall auf Null reduziert werden („Ermessensreduzierung auf Null“), wenn einzig eine Entscheidung als rechtmäßig anzusehen ist.

Was versteht man unter der Ermessensreduzierung auf Null?

Von einer Ermessensreduzierung auf Null spricht man, wenn die Verwaltung bei pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens nur eine einzige Entscheidung als rechtmäßige ansehen kann. Das Ermessen besteht formal weiterhin, ist jedoch de facto nicht mehr gegeben, da alle anderen Entscheidungen ermessensfehlerhaft wären. Dies kann etwa bei einer existenziellen Gefährdungssituation des Betroffenen der Fall sein, sodass zum Beispiel ausnahmslos ein Verwaltungsakt zu erlassen oder zu unterlassen ist. Die Ermessensreduzierung auf Null ist von erheblicher Bedeutung für das gerichtliche Verfahren: In diesen Fällen kann der Bürger vor Gericht nicht lediglich die Rechtswidrigkeit, sondern auch die Verpflichtung der Behörde zum Handeln verlangen (Verpflichtungsklage gemäß § 113 Abs. 5 VwGO).

Welche Bindungen bestehen für die Ausübung des Ermessens?

Bei der Ermessensausübung ist die Behörde an die „Zweckbindung“ der gesetzlichen Ermächtigung gebunden, d.h., sie darf das Ermessen nur im Rahmen des vom Gesetzgeber beabsichtigten Zwecks ausüben. Darüber hinaus finden sich Bindungen im Grundgesetz, insbesondere durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG). Des Weiteren hat die Behörde die Grundrechte des Einzelnen zu beachten. Schließlich können auch höherrangige Rechtsvorschriften oder spezifische Verwaltungsrichtlinien, Verwaltungsvorschriften und eigenes Verwaltungshandeln (Selbstbindung der Verwaltung) maßgeblich für die Ermessensausübung sein.

Welche Arten des Ermessens unterscheidet das Verwaltungsrecht?

Im Verwaltungsrecht werden grundsätzlich zwei verschiedene Arten des Ermessens unterschieden: das Entschließungsermessen und das Auswahlermessen. Das Entschließungsermessen bezieht sich auf die Frage, ob die Behörde überhaupt tätig wird, das heißt, ob sie eine Maßnahme ergreift oder von einer Maßnahme absieht. Das Auswahlermessen hingegen betrifft das „Wie“ des Einschreitens, also die Auswahl zwischen mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen. Beide Ermessensarten sind manchen Ermächtigungsnormen gemeinsam zu entnehmen, in anderen Fällen ist nur das Auswahlermessen oder ausschließlich das Entschließungsermessen vorgesehen. Die behördliche Entscheidung muss in jedem Fall beide Ermessenskategorien sorgfältig prüfen, wenn beide eröffnet sind.

Wie wirkt sich ein Ermessensfehler auf die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts aus?

Ein Ermessensfehler führt grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes. Die typischen Ermessensfehler sind der Ermessensnichtgebrauch, die Ermessensüberschreitung und der Ermessensfehlgebrauch. Ein ermessensfehlerhaft erlassener Verwaltungsakt ist rechtswidrig und unterliegt der gerichtlichen Aufhebung (§ 113 Abs. 1 VwGO im Anfechtungsverfahren). Soweit durch den Ermessensfehler ein Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung besteht (insb. Ermessensreduzierung auf Null), kann auch eine Verpflichtungsklage zum Erlass des begehrten Verwaltungsakts erfolgreich sein. Ermessensfehler werden im Rechtsbehelfsverfahren von Amts wegen geprüft; die Tatbestandsmäßigkeit des Verwaltungsermessens ist zwingende Voraussetzung für eine rechtmäßige Entscheidung.