Legal Lexikon

Erbgesundheitsgesetz


Begriff und rechtshistorische Einordnung des Erbgesundheitsgesetzes

Das Erbgesundheitsgesetz (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, GzVeN) war ein Gesetz des Deutschen Reiches, das am 14. Juli 1933 im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme erlassen wurde. Ziel war es, angeblich „erbkranken” Nachwuchs durch Zwangssterilisation zu verhindern. Das Gesetz zählt zu den eugenischen Maßnahmen des NS-Regimes und markiert einen gravierenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht sowie das Familienleben unzähliger Menschen. Es ist heute ein zentrales Beispiel für die nationalsozialistische Rassenpolitik und eugenisch motivierte Gesetzgebung.

Inhalt und Aufbau des Erbgesundheitsgesetzes

Das Erbgesundheitsgesetz bestand aus 25 Paragraphen und regelte unter anderem die Voraussetzungen und das Verfahren für eine zwangsweise Unfruchtbarmachung (Sterilisation). Das Gesetz definierte, welche Krankheiten und Behinderungen aus Sicht des NS-Staates als „erbkrank” galten und betroffene Personen somit sterilisiert werden konnten oder sollten.

Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes

Zu den im Gesetz explizit genannten Krankheiten zählten:

  • Angeborener Schwachsinn
  • Schizophrenie
  • Zirkuläres (manisch-depressives) Irresein
  • Epilepsie
  • Erbliche Blindheit
  • Erbliche Taubheit
  • Schwerwiegende erbliche Missbildungen

Auch chronischer Alkoholismus konnte als Grund für eine Zwangssterilisation herangezogen werden.

Voraussetzungen für eine Anordnung

Das Gesetz erlaubte die Unfruchtbarmachung, wenn „auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnisse die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Nachkommen an schweren Erbkrankheiten leiden werden” (§ 1 GzVeN).

Antragsberechtigung und Ablauf des Verfahrens

Ein Antrag auf Unfruchtbarmachung konnte von Ärzten, Anstaltsleitern und bestimmten Behörden gestellt werden, nicht jedoch von den Betroffenen selbst. Die Entscheidung traf ein eigens eingerichttes Erbgesundheitsgericht, das aus einem Richter und zwei ärztlichen Beisitzern bestand. Gegen die Entscheidung war Berufung beim Erbgesundheitsobergericht möglich. Die medizinische Maßnahme selbst durfte ausschließlich von Fachärzten vorgenommen werden.

Verfassungsrechtliche Analyse und Kritik

Das Erbgesundheitsgesetz steht aus heutiger Perspektive in diametralem Gegensatz zu den Grundrechten der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere zur Menschenwürde (Art. 1 GG), zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und zum Schutz der Familie (Art. 6 GG). Das Gesetz wurde ein zentrales Instrument der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik und verstößt gravierend gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes individueller Freiheit.

Auswirkungen und Umsetzung des Gesetzes

Nach Schätzungen wurden zwischen 1933 und 1945 rund 400.000 Menschen zwangssterilisiert, wobei zahlreiche gesundheitliche Folgen und viele Todesfälle im Zusammenhang mit den Eingriffen dokumentiert sind. Die Unfruchtbarmachungen wurden teils ohne oder gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt und waren häufig mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierung verbunden. Besonders betroffen waren Menschen mit kognitiven, psychischen und physischen Beeinträchtigungen.

Weiterentwicklung und spätere Aufhebung

Fortführung im Dritten Reich

Das Erbgesundheitsgesetz bildete die Grundlage weiterer menschenverachtender Gesetze, etwa des Gesetzes zur Verhütung und Vernichtung lebensunwerten Lebens sowie zahlreicher Maßnahmen zur Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten im Rahmen der Aktion T4.

Rechtsstellung nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Erbgesundheitsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland nicht weiter angewandt. Für die DDR hob das Gesetz vom 29. Januar 1946 die NS-Gesetzgebung auf („Kontrollratsgesetz Nr. 1″ in der Sowjetischen Besatzungszone). Im Gebiet der Bundesrepublik wurde das Gesetz faktisch durch alliierte Normen und nachfolgende deutsche Gesetzgebung außer Kraft gesetzt, eine förmliche Aufhebung erfolgte jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer

Die Anerkennung des Unrechts und die Entschädigung der Opfer erfolgte im deutschen Rechtssystem erst Jahrzehnte später. Die Betroffenen der Zwangssterilisationen wurden durch das Gesetz zur „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege” (NS-StrRehaG, 1998) formal rehabilitiert und ihnen wurden unter bestimmten Voraussetzungen Entschädigungen und Unterstützungsleistungen zugestanden.

Bedeutung im heutigen Recht und gesellschaftliche Aufarbeitung

Das Erbgesundheitsgesetz gilt heute als Musterbeispiel für menschenrechtswidrige Gesetzgebung und ist Gegenstand umfassender wissenschaftlicher, ethischer und rechtlicher Aufarbeitung. Das Gesetz steht für einen der schwersten Eingriffe in die körperliche Selbstbestimmung und das Persönlichkeitsrecht im deutschen Rechtsstaat und wird häufig im Kontext der NS-Medizinverbrechen, Eugenik und Bioethik diskutiert.

Literatur und weiterführende Hinweise

Wichtige Gesetzesmaterialien

  • RGBl. I 1933, S. 529
  • NS-StrRehaG, BGBl. I 1998, S. 1605

Weiterführende Literatur

  • Udo Benzenhöfer: Ärztliche Sterilisation bei Geisteskranken 1934-1945. 1991.
  • Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. 1986.
  • Michael Wunder (Hrsg.): NS-Zwangssterilisation. Opfer, Täter, Folgen. 2005.

Fazit

Das Erbgesundheitsgesetz markiert ein dunkles Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte. Seine Einführung und Umsetzung verdeutlichen die Möglichkeiten und Gefahren politisch motivierter Gesetzgebung, wenn elementare Grundrechte außer Kraft gesetzt werden. Die umfassende rechtliche, gesellschaftliche und moralische Aufarbeitung bleibt Auftrag und Mahnung für zukünftiges rechtsstaatliches Handeln.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Voraussetzungen mussten für eine Unfruchtbarmachung nach dem Erbgesundheitsgesetz vorliegen?

Für die Anordnung einer Unfruchtbarmachung („Erbgesundheitliche Sterilisation”) nach dem Erbgesundheitsgesetz mussten ganz bestimmte rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst konnte die Maßnahme nur dann durchgeführt werden, wenn bei einer Person eine im Gesetz katalogisierte Erbkrankheit vorlag oder angenommen wurde, dass diese vorlag. Die relevanten Krankheiten umfassten etwa angeborenen Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irrsein, erbliche Fallsucht (Epilepsie), erbliche Veitstanz (Chorea Huntington), erbliche Blindheit/Taubheit sowie schwere erbliche Missbildungen. Die Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen erfüllt waren, lag nicht beim Betroffenen selbst, sondern bei einem besonderen Erbgesundheitsgericht, das auf Antrag der Behörden, eines Arztes oder naher Angehöriger handelte.

Das Gericht musste auch prüfen, ob die Fortpflanzung des Betroffenen mit fast sicherer Wahrscheinlichkeit zu Nachkommen mit schweren körperlichen oder geistigen Schäden geführt hätte. Es war weiterhin vorgesehen, dass die Interessen des Betroffenen im Verfahren – teils durch einen sogenannten Verfahrenspfleger – gewahrt werden sollten. Der Eingriff konnte außerdem abgelehnt werden, wenn damit eine schwerwiegende Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Betroffenen verbunden war. Gegen den gerichtlichen Beschluss konnten Rechtsmittel eingelegt werden (Beschwerde), wobei jedoch auch hier wiederum eine gerichtliche Überprüfung stattfand, die ebenfalls primär aus ärztlicher Sicht erfolgte und dem Schutz der „Erbgesundheit” Vorrang vor Selbstbestimmungsrechten einräumte.

Wer durfte eine Sterilisation nach dem Erbgesundheitsgesetz beantragen?

Die Antragstellung für eine Unfruchtbarmachung nach dem Erbgesundheitsgesetz war nicht auf die betroffene Person beschränkt. Vielmehr eröffnete das Gesetz die Möglichkeit, dass auch andere Personen oder Institutionen eine Sterilisation beantragen konnten. Dazu zählten insbesondere Ärzte, die in Zusammenhang mit der Diagnose oder Behandlung erblich belasteter Erkrankungen standen. Auch die gesetzlichen Vertreter des Betroffenen, also insbesondere Eltern oder Vormünder, konnten einen entsprechenden Antrag stellen, sofern der Betroffene selbst nicht antragsberechtigt war, beispielsweise aufgrund Minderjährigkeit oder fehlender Geschäftsfähigkeit. Zudem waren staatliche Institutionen und Gesundheitsbehörden ermächtigt, einen Antrag zu stellen, wenn ihnen Fälle bekannt wurden, in denen „Gefahr für die Erbgesundheit” vermutet wurde. Die institutionellen und individuellen Antragsteller mussten dabei glaubhaft machen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Sterilisation vorlagen. Das eigentliche Entscheidungsrecht lag dann bei den Erbgesundheitsgerichten, welche die Anträge prüften.

Wie war das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht ausgestaltet?

Das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht war durch eine strenge Gesetzlichkeitsbindung und eine formalistische Prozessordnung gekennzeichnet, die jedoch die Rechte der Betroffenen nur eingeschränkt berücksichtigte. Nach Eingang des Antrags wurde das Verfahren von einer besonderen Kammer, bestehend aus mindestens einem Richter und zwei beisitzenden Ärzten, abgewickelt. Die Kammer prüfte die ärztlichen Gutachten, führte erforderlichenfalls eine weitere ärztliche Untersuchung durch und gewährte dem Betroffenen zumindest formal das Recht, gehört zu werden. In der Praxis waren die Möglichkeiten zur effektiven Verteidigung jedoch stark begrenzt. Der Verfahrenspfleger konnte für die Interessenvertretung der Betroffenen bestellt werden, allerdings wurde dessen Rolle oftmals von den Gerichten und Behörden marginalisiert. Es war ein Rechtsmittel (Beschwerde) zum zuständigen Oberlandesgericht vorgesehen, das jedoch die Entscheidung regelmäßig aus medizinisch-erbbiologischer, nicht aus grundrechtlicher Sicht überprüfte. Das Verfahren unterlag zudem einer besonderen Beschleunigung, um die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele rasch umzusetzen.

Gab es Möglichkeiten, gegen eine bereits getroffene Entscheidung des Erbgesundheitsgerichts vorzugehen?

Gegen Entscheidungen des Erbgesundheitsgerichts konnte innerhalb einer bestimmten Frist Beschwerde eingelegt werden. Die Beschwerde führte dazu, dass ein übergeordnetes Gericht, in der Regel eine Kammer mit ähnlicher Besetzung (Richter und Ärzte) beim Landgericht, die Angelegenheit erneut prüfte. Im Rahmen dieser Überprüfung wurden jedoch in erster Linie die medizinischen und erbbiologischen Voraussetzungen erneut bewertet. Die Möglichkeit der Berufung auf Grundrechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit bestand de jure kaum, da diese insbesondere nach der Gleichschaltung der Justiz im Dritten Reich weitgehend ausgehöhlt waren. In seltenen Fällen wurden Eingriffe aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt, eine grundsätzliche Aufhebung aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken gegen das Gesetz kam jedoch praktisch nicht vor, da das Gesetz im NS-Staat als verfassungskonform galt.

Welche Rolle spielten medizinische Gutachten im Entscheidungsverfahren?

Medizinische Gutachten waren im Verfahren nach dem Erbgesundheitsgesetz von zentraler Bedeutung. Bereits im Rahmen des Antrags musste zumeist ein ärztliches Gutachten beigefügt werden, welches die Diagnose sowie die angebliche oder tatsächliche Erblichkeit der Krankheit belegte. Das Erbgesundheitsgericht bestellte mindestens einen weiteren Gutachter, der unabhängig vom ersten Arzt seine Einschätzung abgab. Die Gutachter waren verpflichtet, neben der Diagnose auch wahrscheinlichkeitstheoretisch zu begründen, dass die Nachkommen des Betroffenen mit erheblicher Wahrscheinlichkeit von schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden betroffen wären. Die Gutachten waren regelmäßig das ausschlaggebende Beweismittel für die gerichtliche Entscheidung, da die Gerichte medizinischen Einschätzungen typischerweise Vorrang einräumten und eine eigenständige, juristische Bewertung häufig unterblieb. In der Praxis kam es durch die medizinische Dominanz oft zu voreiligen Entscheidungen zulasten des Betroffenen.

Welche Rechtsfolgen hatte eine gerichtliche Anordnung zur Unfruchtbarmachung für die betroffene Person?

Mit der gerichtlichen Anordnung war der Weg für einen medizinischen Eingriff zur dauerhaften Unfruchtbarmachung frei, der in aller Regel als verpflichtend galt. Die Durchführung erfolgte – in der Regel nach Ablauf der Rechtsmittelfrist oder nach Bestätigung durch das Beschwerdegericht – unabhängig vom Willen der betroffenen Person. Wer sich dem Eingriff verweigerte, musste mit zwangsweiser Vorführung und Durchführung der Maßnahme rechnen. Die Anordnung war insofern bindend, dass sie auch nachträglich nicht aufgehoben wurde und nicht anfechtbar war, wenn das Verfahren abgeschlossen war. Die tatsächlichen Auswirkungen reichten von schwerwiegenden Folgen für die physische und psychische Gesundheit bis hin zu lebenslangen sozialen Ausgrenzungen. Zudem schloss das Gesetz bei Wiederheirat oder Eheschließung der sterilisierten Person die Aufhebung oder Korrektur des Eingriffs aus, was zur dauerhaften Entrechtung führte.

Wurde das Erbgesundheitsgesetz nach 1945 rückwirkend für nichtig erklärt oder rehabilitiert?

Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes wurde das Erbgesundheitsgesetz von den Alliierten in der Bundesrepublik Deutschland zunächst außer Kraft gesetzt. Rechtlich betrachtet erfolgte jedoch lange Zeit keine rückwirkende generelle Nichtigerklärung; vielmehr wurde das Gesetz durch Kontrollratsgesetz Nr. 1 aufgehoben und ähnlichen Gesetzen die Anwendung entzogen. Erst Jahrzehnte später wurden Opfer von Zwangssterilisationen formal als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt und nach dem Bundesentschädigungsgesetz rehabilitiert. Die zivil- und strafrechtliche Bewertung der Eingriffe wurde in den frühen Nachkriegsjahren jedoch häufig dadurch erschwert, dass Gerichte und Behörden die damalige Rechtslage als formal „gesetzmäßig” betrachteten. Die vollständige politische und gesellschaftliche Rehabilitierung sowie die Anerkennung der Unrechtmäßigkeit der Maßnahmen waren ein langer Prozess, der erst allmählich ab den 1980er Jahren weitgehend anerkannt wurde.