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Epidemische Lage von nationaler Tragweite


Begriff und rechtliche Einordnung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Die epidemische Lage von nationaler Tragweite ist ein zentraler Rechtsbegriff des deutschen Infektionsschutzrechts und war insbesondere während der COVID-19-Pandemie von entscheidender Bedeutung. Dieser Begriff wurde durch das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) eingeführt und bezeichnete einen besonderen Ausnahmezustand, der bundesweit koordinierte Maßnahmen zur Bekämpfung einer ernsthaften Gesundheitsgefahr und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit ermöglichte.

Gesetzliche Verankerung im Infektionsschutzgesetz (IfSG)

Einführung und § 5 IfSG

Mit Wirkung zum 28. März 2020 wurde der Begriff der epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, Artikel 1, in das Infektionsschutzgesetz eingegliedert. Die maßgebliche Rechtsgrundlage hierfür war § 5 IfSG („Epidemische Lage von nationaler Tragweite“).

Nach § 5 Abs. 1 IfSG in der bis Mitte 2022 geltenden Fassung stellte der Deutsche Bundestag auf Antrag der Bundesregierung eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest, wenn eine „ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland“ bestand. Zu den Voraussetzungen gehörte insbesondere, dass

  • eine übertragbare Krankheit national bedeutende Auswirkungen hatte,
  • die Gefahr bestand, dass sich die Krankheit über Bundesländer hinaus ausbreitet, oder
  • die Gefahr bestand, dass die im Inland zur Verfügung stehenden Mittel zur Abwehr der Gefahr nicht ausreichten.

Feststellung und Aufhebung

Die Feststellung erfolgte per Bundestagsbeschluss und musste mit Begründung veröffentlicht werden. Die epidemische Lage konnte vom Bundestag jederzeit wieder aufgehoben werden, sobald die Voraussetzungen nicht mehr vorlagen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 und 3 IfSG).

Rechtsfolgen der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Durch die Feststellung entstanden weitreichende Befugnisse für Bundesministerium für Gesundheit und andere Behörden. Ziel war es, flexibel und zeitnah auf dynamische Lagen im Zusammenhang mit gefährlichen Infektionskrankheiten reagieren zu können.

Verordnungsermächtigungen und Abweichungen von Gesetzen

Mit der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite konnte das Bundesministerium für Gesundheit auf Grundlage des § 5 Abs. 2 IfSG folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Erlass von Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates,
  • Ermächtigungen zur Anordnung von Schutzmaßnahmen,
  • Abweichungen von bundesgesetzlichen Regelungen, insbesondere im Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht, Apothekenrecht, Heilmittelwerbegesetz und Transfusionsgesetz.

Diese Befugnisse gingen über die normale Eingriffsbefugnis hinaus und erlaubten es, flexibel etwa Versorgungsengpässe entgegenzuwirken, Impfstoffe zuzulassen, Meldepflichten zu erweitern oder die Versorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen.

Zentrale Eingriffsbefugnisse im Überblick

  • Arzneimittelregulierung: Schnellere Zulassung, Beschaffung und Verteilung von Arzneimitteln, Impfstoffen und Medizinprodukten.
  • Meldepflichten: Erweiterte Befugnisse zur Anordnung zusätzlicher Meldepflichten.
  • Maßnahmen im Gesundheitswesen: Erleichterte personelle und materielle Ressourcenumverteilung in Krankenhäusern und Pflegeheimen.
  • Verkehrs- und Reisebeschränkungen: Möglichkeit zur Anordnung oder Aufhebung von Einreisebeschränkungen und Quarantänemaßnahmen.
  • Datenverarbeitung: Erweiterte Befugnisse zur Verarbeitung sensibler Gesundheitsdaten im Einklang mit Datenschutzvorgaben.

Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern

Das deutsche Infektionsschutzrecht folgt grundsätzlich dem Grundsatz der föderalen Aufgabenverteilung. Die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite schuf jedoch eine besondere Rechtsgrundlage, welche dem Bund die Möglichkeit einräumte, temporär Regelungen zu zentralisieren, um ein koordiniertes, bundesweit abgestimmtes Vorgehen sicherzustellen. Die Länder blieben jedoch weiter für die Umsetzung vieler Maßnahmen zuständig. Die Verordnungen des Bundes konnten länderspezifische Besonderheiten nur begrenzt berücksichtigen.

Rechtsstaatliche Anforderungen und Kontrolle

Die temporäre Übertragung weitreichender Kompetenzen an das Bundesministerium für Gesundheit bedurfte fortlaufender demokratischer Kontrolle. Das Parlament konnte die Feststellung jederzeit mit einfacher Mehrheit widerrufen. Zudem unterlagen sämtliche Maßnahmen den rechtsstaatlichen Anforderungen, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Bestimmtheit der Regelungen sowie dem Grundrechtsschutz.

Grundrechtseingriffe und Verhältnismäßigkeit

Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverbote oder Maskenpflichten konnten durch die epidemische Lage von nationaler Tragweite rechtlich ermöglicht und gerechtfertigt werden. Gerichte prüften in Folge zahlreiche Maßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit und Angemessenheit. Die Belastungen für die Bevölkerung wurden – soweit rechtlich zulässig – durch nachträgliche parlamentarische Mitbestimmung und gerichtlichen Rechtsschutz ausgeglichen.

Historische Entwicklung und Aufhebung

COVID-19-Pandemie

Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wurde erstmals am 27. März 2020 durch den Deutschen Bundestag festgestellt und anschließend mehrfach verlängert. Erst am 25. November 2021 wurde die Feststellung schließlich aufgehoben. Die mit der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verbundenen außerordentlichen Verordnungsermächtigungen und Maßnahmen liefen bis zum 19. März 2022 aus, als die Rechtsgrundlagen aus dem IfSG entfernt wurden.

Bedeutung nach Aufhebung

Seit Aufhebung besteht keine rechtliche Möglichkeit mehr, eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festzustellen. Die während der Pandemie geschaffenen Sonderschutzmaßnahmen wurden auf das reguläre Instrumentarium des Infektionsschutzgesetzes und die Gesetzgebungskompetenzen der Länder zurückgeführt.

Kritik und verfassungsrechtliche Bewertung

Die Schaffung und Anwendung des Instruments der epidemischen Lage von nationaler Tragweite war Gegenstand erheblicher Diskussionen. Einerseits ermöglichte die Regelung eine einheitliche, schnelle Krisenreaktion; andererseits wurde die temporäre Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen auf Bundesebene sowie die Reichweite der Grundrechtseingriffe kritisch diskutiert. Wesentliche Kritikpunkte betrafen die parlamentarische Kontrolle, die Bestimmtheit gesetzlicher Regelungen und die generelle Vereinbarkeit mit föderalen Strukturen.

Fazit

Die epidemische Lage von nationaler Tragweite war ein zentrales Element des deutschen Infektionsschutzrechts im Rahmen der Pandemiebekämpfung. Sie ermöglichte eine koordinierte, schnelle Reaktion auf Gesundheitskrisen von landesweiter Bedeutung durch besondere Ermächtigungen auf Bundesebene. Nach ihrem Ende verbleiben die grundsätzlichen Lehren zu Fragen des Gesundheitsschutzes, des föderalen Krisenmanagements und des Schutzes individueller Freiheitsrechte für zukünftige Regelungen und Maßnahmen.


Siehe auch:

  • Infektionsschutzgesetz (IfSG)
  • Notstandsrecht in Deutschland
  • COVID-19-Pandemie in Deutschland
  • Gesundheitsrecht

Literaturhinweise:

  • BeckOK Infektionsschutzrecht, IfSG, § 5
  • Deutscher Bundestag: Dokumentationen und Drucksachen zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite
  • Bundesministerium für Gesundheit: Chronologie und Informationen zur COVID-19-Pandemie

(Dieser Beitrag berücksichtigt den Rechtsstand vom Juni 2024.)

Häufig gestellte Fragen

Wer entscheidet über das Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite?

Die Entscheidung über das Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite obliegt gemäß § 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ausschließlich dem Deutschen Bundestag. Das Parlament stellt durch Beschluss fest, ob die Voraussetzungen für eine solche besondere Situation vorliegen. Die rechtliche Grundlage hierfür ist die Erkenntnis über eine ernsthafte, internationale wie nationale Bedrohung für die öffentliche Gesundheit in Deutschland durch Infektionskrankheiten, deren Ausbreitung vom Bundesgebiet aus nicht von einer einzelnen Gebietskörperschaft alleine wirksam verhindert oder bewältigt werden kann. Grundlage der Bewertung sind wissenschaftliche Erkenntnisse, Daten aus der Gesundheitsberichterstattung und eine fortlaufende fachliche Beratung durch das Robert Koch-Institut sowie andere zuständige Behörden. Der Beschluss ist nicht zeitlich unbegrenzt gültig: Die epidemische Lage muss vom Bundestag jederzeit überprüft und aufgehoben werden, sobald die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind.

Welche besonderen Befugnisse erhält die Bundesregierung bei Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite?

Mit der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gehen spezifische, weitreichende Verordnungsermächtigungen für das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einher. Gemäß § 5 Abs. 2 IfSG kann das BMG durch Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates Abweichungen von zahlreichen bundesrechtlichen Vorschriften erlassen, soweit dies zum Schutz der Bevölkerung erforderlich ist. Dazu zählen etwa Regelungen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten, Impfstoffen und Labordiagnostika, zur Meldepflicht von Infektionsdaten, zur Durchführung und Finanzierung von Testungen oder zur Organisation der Gesundheitsversorgung. Die Verordnungen können inhaltlich und regional differenziert ausgestaltet werden und sind temporär beschränkt. Weiterhin können dem BMG zusätzliche Verwaltungsbefugnisse, etwa Weisungsrechte gegenüber Landesbehörden, eingeräumt werden. Die Rechtsverordnungen treten spätestens außer Kraft, wenn die epidemische Lage vom Bundestag aufgehoben wird.

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für die Ausrufung einer solchen Lage erfüllt sein?

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite sind im § 5 Abs. 1 IfSG verankert. Demnach muss entweder eine „ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland“ oder eine solche Gefahr, die „über die Bundesrepublik Deutschland hinausreicht“, vorliegen. Darunter fallen insbesondere Gefahrenlagen, die durch Infektionskrankheiten verursacht werden, deren Ausmaß und Dynamik es erfordern, bundesweit koordinierte Maßnahmen über die normalen Zuständigkeiten hinaus zu ermöglichen. Eine epidemische Lage ist insbesondere dann anzunehmen, wenn das Infektionsgeschehen durch die einzelnen Länder oder Kommunen nicht mehr wirksam eingegrenzt werden kann oder internationale Entwicklungen direkte Auswirkungen auf das Bundesgebiet und dessen Gesundheitssystem haben.

Wie wird die Beendigung der epidemischen Lage rechtlich vollzogen?

Die Beendigung der epidemischen Lage ist klar im Gesetz geregelt: Sobald die Voraussetzungen gemäß § 5 Abs. 1 IfSG nicht mehr vorliegen, muss der Bundestag die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite aufheben. Nach der Aufhebung verlieren die auf § 5 Abs. 2 IfSG gestützten Rechtsverordnungen der Exekutive grundsätzlich ihre Gültigkeit, spätestens jedoch nach einer im Gesetz bestimmten Übergangsfrist. Zudem wird mit Aufhebung der epidemischen Lage die Rückkehr zur regulären Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eingeleitet. Einzelne Maßnahmen und Rechtsverordnungen müssen dann erneut auf die allgemeinen gesetzlichen Regelungen, wie das IfSG außerhalb der Ausnahmesituation, gestützt werden.

Welche parlamentarischen Kontrollmechanismen bestehen während einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite?

Die parlamentarische Kontrolle während einer epidemischen Lage wird im IfSG sowie durch die Geschäftsordnung des Bundestages sichergestellt. Der Bundestag kann jederzeit Sitzungen zu dem Thema einberufen und ist berechtigt, regelmäßig Berichte und Stellungnahmen der Bundesregierung, insbesondere des Gesundheitsministeriums, einzufordern. Im Rahmen der Berichtspflicht muss die Regierung dem Parlament fortlaufend darlegen, welche Maßnahmen getroffen wurden, wie deren Wirksamkeit eingeschätzt wird und ob die Voraussetzungen der epidemischen Lage weiterhin bestehen. Darüber hinaus behält das Parlament jederzeit das Recht, durch Mehrheitsbeschluss die epidemische Lage aufzuheben und so Exekutivbefugnisse wieder zu beschränken.

Welche Rechtsmittel stehen betroffenen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung?

Gegen Maßnahmen, die auf Grundlage der besonderen Kompetenzen während einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite erlassen werden, stehen den Betroffenen grundsätzlich die bekannten Rechtsmittel des Verwaltungsrechts offen. Dazu zählen insbesondere Widerspruch und Anfechtungsklage vor den Verwaltungsgerichten. Bei Maßnahmen, die auf Rechtsverordnungen des Bundesministeriums beruhen, ist auch eine Normenkontrollklage möglich, etwa beim Bundesverwaltungsgericht. Darüber hinaus können individuelle Grundrechtseingriffe mittels Verfassungsbeschwerde vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden. Die Rechtmäßigkeit der einzelnen Maßnahmen richtet sich nach den Anforderungen des Infektionsschutzgesetzes, der einschlägigen verfassungsrechtlichen Garantien und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Welche Bedeutung hat die epidemische Lage von nationaler Tragweite für die föderale Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern?

Die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ermöglicht eine weitgehende Zentralisierung der Entscheidungs- und Handlungskompetenzen beim Bund, insbesondere beim Bundesgesundheitsministerium. Das klassische System der konkurrierenden Gesetzgebung und die ordentlichen Verwaltungszuständigkeiten der Länder werden temporär modifiziert. Der Bund kann, in enger Abstimmung mit den Ländern, Maßnahmen unmittelbar festlegen und anordnen, die ansonsten in die Kompetenz der Länder fallen würden. Ziel ist eine schnelle, koordinierte und flächendeckende Reaktionsfähigkeit auf außergewöhnliche Infektionsgeschehen. Nach Aufhebung der epidemischen Lage wird die Kompetenz auf Grundlage der regulären föderalen Regelungen wiederhergestellt.