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Entweichenlassen von Gefangenen


Begriff und Definition: Entweichenlassen von Gefangenen

Das Entweichenlassen von Gefangenen ist ein Straftatbestand im deutschen Strafrecht, welcher das unbefugte Ermöglichen oder Begünstigen der Flucht von Personen aus gesetzlichem Gewahrsam unter Strafe stellt. Diese Vorschrift sichert die staatliche Strafverfolgung und den Vollzug gerichtlicher Entscheidungen, indem sie die rechtmäßige Inhaftierung schützt und jede rechtswidrige Unterstützung eines Gefangenen beim Entweichen sanktioniert. Die gesetzliche Grundlage für das Entweichenlassen von Gefangenen ergibt sich insbesondere aus § 120 Strafgesetzbuch (StGB).


Gesetzliche Grundlagen

Normierung im Strafgesetzbuch (§ 120 StGB)

Das Entweichenlassen von Gefangenen ist in § 120 StGB geregelt. Der Straftatbestand umfasst verschiedene Formen der Begehung und differenziert unter anderem nach Täterkreis, Tathandlung und subjektiven Anforderungen.

Wortlaut des § 120 StGB (Auszug):

(1) Wer einen Gefangenen, der auf Grund richterlicher Anordnung oder Verfügung in amtlichem Gewahrsam gehalten wird, entweichen lässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) … Das gleiche gilt, wenn der Täter, der mit der Bewachung beauftragt ist, das Entweichen grob fahrlässig verursacht.

Schutzgut der Vorschrift

Geschützt wird die staatliche Vollstreckungshoheit, insbesondere die geordnete Durchführung von Freiheitsentziehungen aufgrund richterlicher Entscheidungen. Ziel ist es, das Vertrauen in den staatlichen Strafvollzug und die Durchsetzung rechtskräftiger Urteile sicherzustellen.


Täterkreis

Amtsträger und Dritte

Der Tatbestand erfasst sowohl Personen, die amtlich mit der Verwahrung oder Bewachung betraut sind, als auch sonstige Dritte. Dabei wird unterschieden:

  • Beamte und sonstige Amtsträger: Dazu zählen insbesondere Justizvollzugsbeamte, Polizeiangehörige sowie sonstige Personen, denen die Aufsicht über den Gefangenen dienstlich übertragen wurde.
  • Private Dritte: Auch Personen außerhalb des Dienstes, also Privatpersonen, können Täter sein, sofern sie aktiv zum Entweichenlassen beitragen.

Tatobjekt: Gefangener

Rechtlicher Status des Gefangenen

Der Tatbestand setzt voraus, dass es sich beim Tatobjekt um einen Gefangenen handelt, der kraft richterlicher Entscheidung in amtlichem Gewahrsam gehalten wird. Darunter fallen:

  • Untersuchungsgefangene
  • Strafgefangene
  • Personen in Sicherungsverwahrung

Nicht erfasst sind lediglich vorläufig festgehaltene Personen ohne richterliche Anordnung oder Menschen, die sich in polizeilichem Gewahrsam ohne richterlichen Beschluss befinden.


Tathandlung: Entweichenlassen

Begriff des „Entweichenlassens“

Das Entweichenlassen kann sowohl durch aktives Tun als auch durch pflichtwidriges Unterlassen erfolgen. Der Begriff umfasst jede Handlung, die dem Gefangenen das Verlassen des amtlichen Gewahrsams ermöglicht oder erleichtert.

Formen des Entweichenlassens:

  • Vorsätzliches Ermöglichen der Flucht: Öffnen von Türen, Überlassen von Hilfsmitteln etc.
  • Pflichtwidriges Unterlassen: Nichtverhinderung der Flucht trotz Überwachungspflicht.
  • Grob fahrlässiges Verursachen: Besonders relevanter Aspekt für mit der Bewachung beauftragte Personen (§ 120 Abs. 2 StGB).

Subjektiver Tatbestand

Vorsatz und Fahrlässigkeit

Für die Bestrafung nach § 120 Abs. 1 StGB ist Vorsatz erforderlich, d. h. der Täter muss die Umstände der Tat erkennen und willentlich handeln. Für mit der Bewachung beauftragte Personen genügt gemäß § 120 Abs. 2 StGB auch grobe Fahrlässigkeit.


Strafmaß und Rechtsfolgen

Strafrahmen

Das Strafmaß für das Entweichenlassen von Gefangenen beträgt grundsätzlich:

  • Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
  • Geldstrafe

Bei grober Fahrlässigkeit (§ 120 Abs. 2 StGB):

  • Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder
  • Geldstrafe

Strafzumessung

Im Rahmen der Strafzumessung werden Umstände wie der Grad der Gefährdung, Motive des Täters, Dauer der Fluchtfreiheit sowie etwaige Folgen (z. B. Begehung weiterer Straftaten durch den Entwichenen) berücksichtigt.


Abgrenzungen zu anderen Tatbeständen

Gefangenenbefreiung und Selbstbefreiung

Das Entweichenlassen von Gefangenen unterscheidet sich von der Gefangenenbefreiung (§ 120a StGB), wobei letzterer Tatbestand regelt, dass Dritte einen Gefangenen mit Gewalt oder durch andere Mittel befreien. Die Selbstbefreiung ist grundsätzlich straffrei, sofern dabei keine weiteren Delikte (wie Sachbeschädigung oder Gewaltanwendung) verwirklicht werden.


Versuch und Vollendung

Versuchsstrafbarkeit

Das Entweichenlassen kann auch im Versuchsstadium gemäß § 23 StGB strafbar sein, sofern der Täter mit der Ausführung unmittelbar beginnt, die Flucht aber letztlich nicht erfolgt.

Vollendung der Tat

Die Tat ist vollendet, wenn der Gefangene die Gewahrsamseinrichtung tatsächlich verlässt.


Tatbeteiligung und Mittäterschaft

Mittäterschaft und Beihilfe

Sowohl die Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) als auch die Beihilfe (§ 27 StGB) sind im Zusammenhang mit dem Entweichenlassen von Gefangenen möglich. Jede Person, die durch aktives Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen den Fluchtvorgang mitverursacht, kann daher strafrechtlich belangt werden.


Rechtsdogmatische Einordnung

Das Entweichenlassen von Gefangenen stellt ein eigenhändiges Delikt dar, wenn der Täter die unmittelbare Verantwortung für den Gewahrsam trägt. Für Dritte handelt es sich um ein Allgemeindelikt, sodass jedermann als Täter in Betracht kommt.


Strafprozessuale und rechtspolitische Aspekte

Anzeige und Strafverfolgung

Das Entweichenlassen von Gefangenen gehört zu den Offizialdelikten und wird grundsätzlich von Amts wegen verfolgt.

Bedeutung für den Strafvollzug

Der Schutz des Freiheitsentzugs und der rechtsstaatlichen Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen ist ein grundlegendes Anliegen der öffentlichen Sicherheit und der Funktionsfähigkeit der Justiz.


Literatur und weiterführende Vorschriften

  • Strafgesetzbuch (StGB), insbesondere §§ 120, 27, 25
  • Kommentar zum Strafgesetzbuch (z. B. Fischer, StGB)
  • Strafprozessordnung (StPO)
  • Rechtswissenschaftliche Aufsätze zur Sicherung von Freiheitsentziehungen und Vollzugspraxis

Zusammenfassung

Das Entweichenlassen von Gefangenen ist ein zentraler Straftatbestand zum Schutz der Durchsetzung staatlicher Freiheitsentziehung. Die Vorschrift erfasst ein breites Feld möglicher Täter und Tathandlungen, von vorsätzlichem Ermöglichen über fahrlässiges Unterlassen bis hin zur Mitwirkung Dritter. Die strenge gesetzliche Regelung unterstreicht die Bedeutung des staatlichen Hoheitsakts Freiheitsentziehung für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und stellt eine effektive Strafandrohung gegen jede Form der rechtswidrigen Fluchterleichterung sicher.

Häufig gestellte Fragen

Wer kann sich wegen Entweichenlassens von Gefangenen strafbar machen?

Das Entweichenlassen von Gefangenen ist nach deutschem Recht insbesondere in § 120 StGB geregelt und kann grundsätzlich nur von bestimmten Personengruppen verwirklicht werden. Nach dem Gesetz handelt es sich hierbei um ein sogenanntes Sonderdelikt, das nur von Amtsträgern begangen werden kann, die dazu berufen sind, die Gefangenen zu bewachen, beispielsweise Justizvollzugsbeamte, Polizeibeamte oder andere mit Vollzugsaufgaben betraute Personen. Darüber hinaus kann sich auch der betreffende Gefangene selbst, der die Flucht ergreift, des eigenmächtigen Entfernens (§ 120 Abs. 1 StGB) strafbar machen, allerdings nicht des „Entweichenlassens“. Privatpersonen ohne Vollzugsaufgaben können nicht Täter dieses Delikts sein, aber eine Strafbarkeit als Gehilfe oder Begünstiger (§§ 27, 257 StGB) bleibt möglich, wenn sie bei der Flucht Unterstützung leisten.

Welche Handlungen werden als „Entweichenlassen“ gewertet?

Unter Entweichenlassen versteht man nach herrschender Meinung nicht nur das bewusste und gewollte Ermöglichen oder Erleichtern der Flucht eines Gefangenen, sondern auch das absichtliche Nichtverhindern derselben, obwohl eine entsprechende gesetzliche oder dienstliche Pflicht zur Sicherung der Bewachung bestand. Typische Handlungen sind etwa das Öffnen von Türen oder Zellen, das Wegsehen bei der Entweichung oder das Unterlassen angemessener Sicherungsmaßnahmen. Entscheidend ist, dass die Flucht aufgrund einer pflichtwidrigen Handlung oder Unterlassung ermöglicht wird. Fahrlässigkeit genügt allerdings nicht; Voraussetzung ist zumindest bedingter Vorsatz bezüglich der Ermöglichung der Flucht.

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Strafbarkeit erfüllt sein?

Für eine Strafbarkeit nach § 120 StGB müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Zunächst muss es sich bei der Person, die entweichen konnte, um einen „Gefangenen“ handeln, das heißt um jemanden, der aufgrund gerichtlicher oder behördlicher Anordnung seiner Freiheit entzogen wurde (z.B. Untersuchungshaft, Strafhaft, Sicherungsverwahrung). Weiterhin muss der Täter als Amtsträger mit der Verwahrung betraut sein. Die Handlung muss vorsätzlich erfolgen; sowohl das aktive Ermöglichen als auch das Unterlassen geeigneter Abwehrmaßnahmen sind betroffen. Ein Erfolg, also das tatsächliche Entweichen, muss realisiert worden sein. Fehlender Vorsatz oder das Ausbleiben des Entweichens führen zur Straflosigkeit nach dieser Vorschrift, wobei andere Normen betroffen sein könnten (z.B. Versuch, Fahrlässigkeit).

Welche Strafen drohen beim Entweichenlassen von Gefangenen?

Gemäß § 120 StGB kann das Entweichenlassen von Gefangenen mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Die tatsächliche Strafzumessung hängt insbesondere vom Ausmaß der Pflichtverletzung, den Motiven des Täters, dem Grad des Verschuldens sowie von etwaigen Vorstrafen ab. In besonders schweren Fällen, etwa bei Entweichenlassen von mehreren Gefangenen oder durch die Begehung unter Ausnutzung dienstlicher Vollmachten, kann das Strafmaß empfindlich erhöht werden. Milderungsgründe oder strafschärfende Umstände werden im Einzelfall gewürdigt.

Gibt es einen Unterschied zwischen aktivem Handeln und Unterlassen?

Ja, das Gesetz sieht sowohl das aktive Handeln als auch das Unterlassen eines pflichtgemäßen Einschreitens als taugliche Begehungsformen des Entweichenlassens an. Beim aktiven Tun handelt es sich beispielsweise um das Öffnen einer Gefängnistür oder das Verschaffen eines Fluchtweges. Das Unterlassen erfasst Fälle, in denen der Amtsträger wissentlich und willentlich erforderliche Sicherungsmaßnahmen nicht ergreift oder bewusst nicht eingreift, obwohl die Möglichkeit und die Pflicht dazu bestanden hätten. In beiden Fällen ist Voraussetzung, dass der Erfolg – also das tatsächliche Entweichen – eintritt und hierfür ein hinreichend kausaler Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Entweichen besteht.

Wie wird der Versuch des Entweichenlassens behandelt?

Der Versuch des Entweichenlassens von Gefangenen ist ebenfalls strafbar (§ 23 Abs. 1 StGB i.V.m. § 120 StGB). Dies bedeutet, dass bereits das Ansetzen zur Ermöglichung der Flucht – auch wenn der Gefangene letztlich nicht entweicht – mit Strafe bedroht ist, sofern der Vorsatz und eine unmittelbare Vorbereitungshandlung vorliegen. Die Versuchsstrafbarkeit ermöglicht es, bereits bei frühzeitiger Entdeckung des Vorhabens strafrechtlich gegen den Täter vorzugehen, um weitere Gefährdungen zu verhindern und den Schutz der Allgemeinheit sicherzustellen.

Welche Rolle spielt die Mitwirkung Dritter (z.B. von außen)?

Wenn Dritte, also beispielsweise Freunde, Verwandte oder andere Privatpersonen, beim Entweichen eines Gefangenen mitwirken, machen sie sich zwar nicht gemäß § 120 StGB strafbar, da sie keine Amtsträger sind, wohl aber können sie sich wegen Gefangenenbefreiung (§ 120 Abs. 2 StGB) oder zumindest der Beihilfe zu dieser (§ 27 StGB) strafbar machen. Ihre Handlung muss darauf abzielen, den Gefangenen aktiv bei der Flucht zu unterstützen. Auch die Begünstigung, das Verbergen oder Unterstützen eines geflohenen Gefangenen ist strafbar (§ 257 StGB). Die Strafandrohung variiert hierbei je nach Schwere und Art der Beteiligung.