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Entweichenlassen von Gefangenen

Entweichenlassen von Gefangenen: Begriff und rechtliche Einordnung

Unter dem Entweichenlassen von Gefangenen wird ein strafbares Verhalten verstanden, bei dem eine Person, der die Verwahrung oder Bewachung eines Gefangenen anvertraut ist, pflichtwidrig dazu beiträgt, dass dieser der amtlichen Verwahrung entkommt. Es handelt sich um ein besonderes Fehlverhalten von Personen mit Aufsichts- oder Verwahrungsverantwortung. Das Delikt steht neben der allgemeineren Erscheinungsform, bei der Außenstehende eine Flucht ermöglichen oder fördern (oft als Befreiung eines Gefangenen bezeichnet). Beim Entweichenlassen steht die Pflichtverletzung der verantwortlich eingesetzten Person im Vordergrund.

Geschütztes Rechtsgut

Geschützt werden die Funktionsfähigkeit des Strafverfahrens und des Vollzugs, das Vertrauen in die Integrität staatlicher Aufgabenträger sowie die öffentliche Sicherheit. Der unerlaubte Verlust des staatlichen Gewahrsams über eine Person kann Strafverfahren beeinträchtigen und erhebliche Risiken für die Allgemeinheit begründen.

Tatbestandliche Voraussetzungen

Täterkreis

Täter kann nur sein, wer mit der Verwahrung oder Bewachung eines Gefangenen betraut ist. Hierzu zählen insbesondere Bedienstete des Justiz- oder Polizeivollzugs sowie andere Personen, die hoheitlich oder vertraglich in die Sicherung und Aufsicht eingebunden sind (beispielsweise bei Transporten oder Krankenhausbewachungen). Es handelt sich um ein Delikt, das eine besondere Verantwortungsstellung voraussetzt.

Begriff des Gefangenen

Als Gefangene gelten Personen, die sich in amtlichem Gewahrsam oder in amtlicher Verwahrung befinden. Dazu zählen unter anderem Personen in Untersuchungshaft oder Strafhaft, im Jugendarrest, im polizeilichen Gewahrsam oder in einer gerichtlich angeordneten Unterbringung. Der Schutz erstreckt sich auf alle Phasen, in denen staatlicher Gewahrsam besteht, einschließlich Transporten, Ausführungen und bewachten Aufenthalten außerhalb der Anstalt.

Tathandlung: Entweichenlassen

„Entweichenlassen“ bedeutet, dass durch pflichtwidriges Verhalten eine Flucht ermöglicht, erleichtert oder nicht verhindert wird. Dies kann durch aktives Tun geschehen (z. B. Öffnen von Sicherungen ohne ausreichende Vorkehrungen) oder durch pflichtwidriges Unterlassen (z. B. unterlassene Kontrolle, Nichtschließen von Sicherungen, Missachtung von Anweisungen). Erforderlich ist stets ein Verstoß gegen die dienstliche oder vertragliche Sicherungspflicht, der den Fluchterfolg ermöglicht oder wesentlich erleichtert.

Kausalität und Zurechnung

Zwischen der Pflichtverletzung und dem Entweichen muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Das pflichtwidrige Verhalten muss für den Erfolg mitverantwortlich sein und ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen oder erhöht haben, das sich im Fluchtgeschehen realisiert. Reine Unglücksfälle oder völlig atypische Kettenverläufe genügen nicht.

Innere Tatseite: Vorsatz und Fahrlässigkeit

Das Entweichenlassen kann vorsätzlich oder fahrlässig begangen werden. Vorsatz liegt vor, wenn die verantwortliche Person die Pflichtwidrigkeit erkennt und das Entweichen will oder zumindest billigend in Kauf nimmt. Fahrlässigkeit setzt die Verletzung der gebotenen Sorgfalt voraus, etwa durch Unachtsamkeit, Fehleinschätzung von Risiken oder Nichtbeachtung verbindlicher Sicherheitsstandards. Vorsätzliche Fälle sind deutlich schwerwiegender.

Versuch und Rücktritt

Bei vorsätzlichem Verhalten ist auch der Versuch von Bedeutung, wenn der Fluchterfolg noch nicht eingetreten ist, aber bereits Handlungen eingesetzt haben, die das Entweichen ermöglichen sollen. Ein Rücktritt kann unter den allgemeinen Voraussetzungen in Betracht kommen. Eine versuchte fahrlässige Begehung ist begriffslogisch ausgeschlossen.

Abgrenzungen zu verwandten Delikten

Gefangenenbefreiung durch Dritte

Unterstützen Außenstehende eine Flucht, ohne selbst Verwahrungs- oder Bewachungspflichten zu haben, handelt es sich regelmäßig um ein gesondertes Delikt, das die aktive Befreiung oder Fluchthilfe erfasst. Das Entweichenlassen betrifft dagegen Personen mit Sicherungsverantwortung.

Strafvereitelung in einem Amtspflichten-Kontext

Lässt eine verantwortliche Person einen Gefangenen mit dem Ziel entweichen, ein Strafverfahren oder die Vollstreckung zu behindern, können neben dem Entweichenlassen weitere strafbare Handlungen in Betracht kommen. Ob eine selbstständige Bewertung oder ein Zurücktreten einer Norm erfolgt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.

Korruptionsdelikte

Erfolgt das Entweichenlassen gegen Zuwendung von Vorteilen, können Delikte im Zusammenhang mit Vorteilsannahme oder Bestechlichkeit hinzutreten. Es handelt sich um getrennt zu beurteilende Vorwürfe, die das Unrecht verstärken können.

Dienstrechtliche Pflichtverletzung

Unabhängig von einer strafrechtlichen Bewertung liegt regelmäßig auch ein schweres Dienstvergehen vor. Dienst- oder arbeitsrechtliche Maßnahmen bestehen neben einer strafrechtlichen Ahndung.

Rechtsfolgen

Strafrahmen und Strafzumessung

Die Sanktionen unterscheiden zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Begehung. Die vorsätzliche Variante wird erheblich strenger bewertet als fahrlässiges Fehlverhalten. Für die Zumessung maßgeblich sind unter anderem Art und Intensität der Pflichtverletzung, der Grad der Vorwerfbarkeit, die Gefährlichkeit der entwichenen Person, die Dauer des unrechtmäßigen Aufenthalts in Freiheit, die Motivation (etwa Gefälligkeit oder Bereicherungsabsicht) und das Nachtatverhalten.

Nebenfolgen

Neben der strafrechtlichen Reaktion kommen dienstrechtliche Konsequenzen in Betracht, etwa Disziplinarmaßnahmen, Versetzungen, Suspendierungen oder die Beendigung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses. Im Einzelfall können Ersatzansprüche geprüft werden, etwa wenn Dritten ein Schaden entstanden ist; dies richtet sich nach besonderen haftungsrechtlichen Regelungen.

Besondere Konstellationen

Lockerungen, Ausführungen und bewachte Aufenthalte

Maßnahmen wie Ausgang, Freigang, Ausführung oder Vorführungen sind rechtlich zulässig, sofern Sicherheitsvorgaben eingehalten werden. Ein strafbares Entweichenlassen setzt eine pflichtwidrige Unterschreitung der gebotenen Sicherungsmaßnahmen voraus. Der rechtmäßig eingegangene, kontrollierte Vollzugslockerungsrahmen begründet allein noch keinen Vorwurf.

Organisatorische Mängel

Treffen organisatorische Defizite des Betriebs auf individuelles Fehlverhalten, ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden Person nur gegeben, wenn sie persönlich eine Sicherungspflicht verletzt und diese Verletzung den Fluchterfolg mitverursacht. Reine Organisationsmängel ohne individuelle Pflichtwidrigkeit fallen vorrangig in den Bereich der Dienstaufsicht.

Besonderer Status des Gefangenen

Die rechtliche Einordnung als Gefangener umfasst auch Jugendliche in Arrest, Personen in Sicherungsverwahrung oder in einer gerichtlich angeordneten Unterbringung. Unterschiede liegen vor allem in den Vollzugsbedingungen; für die Frage des Entweichenlassens ist maßgeblich, dass amtlicher Gewahrsam besteht und eine Sicherungspflicht verletzt wurde.

Verfahren und Beweisfragen

Im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren spielen die Rekonstruktion des Ablaufs und die Feststellung der Pflichtwidrigkeit eine zentrale Rolle. Typische Beweismittel sind Dienst- und Wachpläne, Schlüssel- und Übergabeprotokolle, Videoaufzeichnungen, Kommunikationsdaten, Anstaltsanweisungen sowie Zeugenaussagen. Häufig werden organisatorische Standards und Sicherheitsprotokolle herangezogen, um die gebotene Sorgfalt zu bestimmen.

Internationale Bezüge

Kommt es zu grenzüberschreitenden Fluchten, wirken internationale Zusammenarbeit und Auslieferungsmechanismen mit. Zuständigkeits- und Verfolgungsfragen richten sich nach den einschlägigen Kollisionsnormen und Abkommen. Das Entweichenlassen bleibt hierbei die tatbestandliche Ausgangshandlung im Inland, während für die Rückführung des Entwichenen internationale Instrumente relevant werden.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Was bedeutet „Entweichenlassen von Gefangenen“ in einfachen Worten?

Es bezeichnet das pflichtwidrige Ermöglichen oder Nichtverhindern einer Flucht durch Personen, die für die Bewachung oder Verwahrung eines Gefangenen verantwortlich sind.

Wer kann für das Entweichenlassen verantwortlich sein?

Verantwortlich sind Personen, denen die Sicherung des Gefangenen anvertraut ist, etwa Vollzugs- oder Polizeibedienstete sowie beauftragte Dritte bei Transporten oder bewachten Aufenthalten.

Reicht Unachtsamkeit aus, um sich strafbar zu machen?

Fahrlässiges Verhalten kann strafbar sein, wenn eine gebotene Sorgfaltspflicht verletzt wurde und dies zum Entweichen beigetragen hat. Vorsätzliche Fälle sind rechtlich deutlich gravierender.

Spielt die Gefährlichkeit des Gefangenen eine Rolle?

Ja. Die Einstufung der entwichenen Person und die mit der Flucht verbundenen Risiken können bei der Bewertung der Pflichtwidrigkeit und der Strafzumessung erheblich ins Gewicht fallen.

Ist der Versuch strafbar, wenn die Flucht misslingt?

Bei vorsätzlichem Verhalten kann bereits der Versuch relevant sein, wenn konkrete Schritte zum Ermöglichen der Flucht unternommen wurden. Ein Versuch bei Fahrlässigkeit scheidet aus.

Wie unterscheidet sich Entweichenlassen von einer Befreiung durch Außenstehende?

Beim Entweichenlassen liegt eine Pflichtverletzung durch eine für die Sicherung verantwortliche Person vor. Befreien Außenstehende einen Gefangenen, betrifft dies ein anderes Delikt ohne besondere Sicherungspflicht.

Welche zusätzlichen Folgen neben einer Strafe sind möglich?

Neben einer strafrechtlichen Ahndung kommen dienstrechtliche Konsequenzen in Betracht, etwa Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Beendigung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses. Haftungsfragen können hinzutreten.