Begriff und rechtliche Einordnung
Unter Entweichen von Gefangenen versteht man das unbefugte Verlassen eines staatlichen Gewahrsams. Gemeint sind Situationen, in denen eine Person, der die Freiheit auf behördliche oder gerichtliche Anordnung entzogen wurde, die räumlichen oder organisatorischen Sicherungen der Verwahrung überwindet oder sich ihnen entzieht. Das kann in Justizvollzugsanstalten, Untersuchungshaft, polizeilichem Gewahrsam, dem Vollzug stationärer Maßnahmen oder während bewilligter Lockerungen geschehen.
Wer gilt als „Gefangener“?
Als Gefangene gelten Personen, die sich aufgrund einer hoheitlichen Entscheidung in Freiheitsentziehung befinden. Dazu zählen insbesondere Strafgefangene im Vollzug einer Freiheitsstrafe, Personen in Untersuchungshaft oder vorläufigem Gewahrsam sowie Personen in besonderen freiheitsentziehenden Unterbringungen. Maßgeblich ist das Bestehen eines rechtmäßigen Gewahrsams durch staatliche Stellen.
Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen
Vom Entweichen zu unterscheiden sind:
- Die Befreiung eines Gefangenen durch Dritte (Hilfe von außen),
- die Vereitelung oder Erschwerung staatlicher Vollstreckungshandlungen durch Außenstehende,
- Nichtrückkehr aus Ausgang, Freigang oder Urlaub ohne Überwindung von Sicherungen (oft als besondere Form des Entziehens aus Lockerungen behandelt),
- kollektive Auflehnungen und Gewalthandlungen innerhalb des Vollzugs mit dem Ziel der Flucht.
Rechtliche Relevanz und mögliche Straftatbestände
Straffreiheit des bloßen Entweichens in vielen Rechtsordnungen
In vielen Staaten des deutschsprachigen Raums ist das Entweichen durch den Gefangenen als solches nicht strafbar. Der Gedanke dahinter ist, dass der Freiheitsdrang als menschliche Regung nicht zusätzlich mit Strafe belegt wird. Strafbar sind jedoch regelmäßig Begleithandlungen, die während der Flucht begangen werden, sowie die Unterstützung durch Dritte. In anderen Rechtsordnungen können abweichende Regelungen gelten.
Strafbarkeit der Hilfe von außen
Wer einem Gefangenen beim Entweichen hilft, das Entweichen erleichtert, fördert oder organisiert, kann sich strafbar machen. Erfasst sind Handlungen wie das gewaltsame Befreien, das Einschmuggeln von Werkzeugen, das Manipulieren von Sicherungen, die Täuschung von Bediensteten oder die Unterstützung bei Transport und Versteck. Auch vorbereitende oder nachbereitende Beiträge können rechtlich relevant sein.
Verantwortlichkeit von Bediensteten
Bedienstete, die aktiv an einer Flucht mitwirken, handeln pflichtwidrig und müssen mit straf- und dienstrechtlichen Konsequenzen rechnen. Auch pflichtwidrige Nachlässigkeit, durch die ein Entweichen ermöglicht wird, kann zu persönlicher Verantwortung führen. Daneben kommen disziplinarrechtliche Maßnahmen und dienstrechtliche Folgen in Betracht.
Begleitdelikte beim Entweichen
Obwohl das bloße Entweichen häufig nicht gesondert bestraft wird, können begleitende Handlungen strafrechtlich erheblich sein, etwa:
- Anwendung von Gewalt oder Drohung gegen Personen,
- Beschädigung von Gebäuden, Einrichtungen oder Fahrzeugen,
- Fälschung oder missbräuchliche Verwendung von Dokumenten und Identitäten,
- Verstöße im Straßenverkehr, unerlaubtes Fahren oder Gefährdungen,
- Diebstahl, Einbruch oder Hausfriedensbruch im Rahmen der Flucht.
Verfahrensrechtliche Folgen
Fahndung und Sicherungsmaßnahmen
Nach einem Entweichen werden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet. Dazu zählen regelmäßige Ausschreibungen zur Festnahme, Durchsuchungen und koordinierte Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Landes. Bei grenzüberschreitender Flucht kommen Formen der internationalen Zusammenarbeit in Betracht.
Folgen für Vollzug und weitere Entscheidungen
Ein Entweichen kann sich auf künftige Entscheidungen auswirken. In Betracht kommen die Neubewertung von Fluchtgefahr, der Ausschluss oder die Einschränkung von Lockerungen, die Anhebung der Sicherungsstufe und eine Anpassung des Vollzugsplans. Die Rückkehr – gleich ob freiwillig oder durch Ergreifen – wird dokumentiert und kann in zukünftigen Beurteilungen Berücksichtigung finden.
Jugendliche und besondere Konstellationen
Bei jungen Menschen und besonders schutzbedürftigen Personen stehen während und nach einem Entweichen häufig erzieherische und sichernde Maßnahmen im Vordergrund. Inhalt und Ausgestaltung unterscheiden sich vom Erwachsenenstrafvollzug, die Grundprinzipien der Verantwortlichkeit Dritter und der Begleitdelikte gelten jedoch entsprechend.
Zivil- und öffentlich-rechtliche Aspekte
Staatliche Haftung und Amtspflichten
Kommt es infolge eines Entweichens zu Schäden Dritter, kann eine Haftung des Staates in Betracht kommen, wenn hoheitliche Pflichten gegenüber der Allgemeinheit oder bestimmten Personen verletzt wurden. Maßgeblich sind die jeweiligen Regelungen zur Verantwortlichkeit staatlicher Stellen und ihrer Bediensteten. Daneben bleiben individuelle Ansprüche gegen handelnde Dritte möglich.
Disziplinarrechtliche Folgen
Für Bedienstete können Pflichtverletzungen, die ein Entweichen ermöglichten, disziplinarische Maßnahmen nach sich ziehen. Für Gefangene hat ein Entweichen innerhalb des Vollzugs regelmäßig Konsequenzen wie die Einschränkung von Vergünstigungen, den Ausschluss von Lockerungen oder eine engmaschigere Überwachung.
Besondere Konstellationen
Nichtrückkehr bei Ausgang, Urlaub oder Freigang
Das unentschuldigte Ausbleiben nach gewährten Lockerungen wird vielfach gesondert behandelt. Häufig liegt keine eigenständige Straftat vor, jedoch folgen vollzugsrechtliche Konsequenzen wie der Widerruf von Lockerungen und eine Verschärfung der Sicherung. Zudem werden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet.
Entweichen aus Unterbringungen und Maßnahmen
Auch das Entfernen aus forensischen oder therapeutischen Unterbringungen fällt unter das Entweichen. Unterstützungshandlungen durch Dritte sind in der Regel strafbar. Für die betroffene Person stehen regelmäßig Sicherung und erneute Unterbringung im Vordergrund; Begleitdelikte bleiben davon unberührt.
Elektronische Überwachung und Auflagen
Das Umgehen, Manipulieren oder Entfernen elektronischer Überwachungsmittel kann rechtliche Folgen haben. Je nach Ausgestaltung der Auflage oder Maßnahme kommen eigenständige Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände in Betracht, zusätzlich zu Konsequenzen im Vollzug.
Beweis und Dokumentation
Feststellung des Entweichens
Von einem Entweichen ist auszugehen, wenn der Gewahrsam ohne Befugnis verlassen wird oder eine Person entgegen Anordnung nicht in den Gewahrsam zurückkehrt. Die Feststellung beruht auf Dokumentation der Aufsicht, technischen Sicherungen, Zeugenangaben und sonstigen Beweismitteln.
Beendigung und Rückkehr
Das Entweichen endet durch Ergreifen oder Rückkehr. Der Zeitpunkt der Beendigung ist für die Bewertung von Folgemaßnahmen, die Anrechnung von Zeiten und die Einordnung begleitender Handlungen bedeutsam.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Ist das Entweichen eines Gefangenen eine Straftat?
In vielen Rechtsordnungen des deutschsprachigen Raums ist das bloße Entweichen des Gefangenen nicht als eigenständige Straftat ausgestaltet. Rechtlich relevant werden jedoch begleitende Handlungen wie Gewalt, Sachbeschädigung oder Täuschung sowie die Hilfe Dritter.
Welche Folgen hat das Entweichen für den weiteren Vollzug?
Üblich sind die Neubewertung der Fluchtgefahr, der Widerruf von Lockerungen, eine erhöhte Sicherungsstufe und eine Anpassung des Vollzugsplans. Diese Entscheidungen orientieren sich am konkreten Ablauf und den Ursachen des Entweichens.
Welche Unterstützungshandlungen sind strafbar?
Strafbar sind insbesondere das Befreien, Erleichtern oder Fördern einer Flucht, etwa durch Gewalt, Täuschung, das Überwinden von Sicherungen, das Verstecken der Person oder logistische Hilfe vor, während oder nach dem Entweichen.
Sind Bedienstete verantwortlich, wenn durch Nachlässigkeit eine Flucht gelingt?
Bei pflichtwidriger Nachlässigkeit kommen strafrechtliche, disziplinarrechtliche und dienstrechtliche Folgen in Betracht. Entscheidend sind Umfang und Gewicht der Pflichtverletzung sowie der Kausalzusammenhang zum Entweichen.
Gilt die Nichtrückkehr aus Ausgang oder Freigang als Entweichen?
Die Nichtrückkehr wird vielfach als Entziehen aus einer Lockerung behandelt. In der Regel folgen vollzugsrechtliche Konsequenzen und Fahndungsmaßnahmen; eine gesonderte Strafbarkeit ist häufig nicht vorgesehen, Begleitdelikte bleiben unberührt.
Welche Rolle spielt Gewaltanwendung während der Flucht?
Gewalt oder Drohungen während des Entweichens können eigenständige Straftatbestände erfüllen und das rechtliche Gewicht des Geschehens erheblich erhöhen. Dies gilt auch für Sachbeschädigungen und gefährliche Eingriffe.
Was geschieht, wenn ein Entweichen ins Ausland führt?
Es kommen internationale Fahndungsinstrumente und Formen der Zusammenarbeit in Betracht. Ziel ist die Festnahme und Rückführung in den zuständigen Gewahrsam. Die Einzelheiten richten sich nach den jeweils anwendbaren Vereinbarungen und Zuständigkeiten.