Entschädigung für ungerechtfertigte Strafverfolgung
Begriff und rechtliche Einordnung
Die Entschädigung für ungerechtfertigte Strafverfolgung bezeichnet im deutschen Recht den Anspruch einer Person, die durch eine Strafverfolgungsmaßnahme (etwa Untersuchungshaft, vorläufige Festnahme oder Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz) ohne hinreichenden Grund oder trotz späterer Einstellung des Verfahrens Nachteile erlitten hat. Ziel der Entschädigung ist es, die durch staatliches Handeln verursachten Vermögensnachteile sowie immateriellen Schäden auszugleichen, sofern sich im Nachhinein die Strafverfolgung als ungerechtfertigt oder unbegründet herausstellt.
Rechtsgrundlagen
Gesetzliche Grundlagen
Die maßgeblichen Vorschriften sind im Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) geregelt. Daneben finden das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in bestimmten Konstellationen ergänzend Anwendung.
Das StrEG als zentrales Gesetz
Das 1971 in Kraft getretene StrEG regelt systematisch, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine Entschädigung zu gewähren ist. Es konkretisiert Art. 5 Abs. 5 EMRK, wonach jedem, der Opfer einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung wurde, ein Anspruch auf Schadenersatz zusteht.
Anspruchsgrundlagen im Überblick
- § 1 StrEG: Anspruch auf Entschädigung bei Freispruch, Einstellung des Verfahrens oder Aufhebung der Maßnahme ohne eigenes Verschulden.
- § 2 StrEG: Ausschluss der Entschädigung bei überwiegendem Eigenverschulden des Betroffenen.
- § 7 StrEG: Möglichkeit der Ausgleichszahlung für immaterielle Schäden (sog. Nichtvermögensschäden).
Anspruchsvoraussetzungen
Objektive Voraussetzungen
Ein Entschädigungsanspruch setzt eine rechtlich angeordnete Strafverfolgungsmaßnahme voraus, die sich nachträglich als unbegründet herausstellt, etwa durch Freispruch, Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO oder Aufhebung des Haftbefehls.
Beispiele für strafverfolgungsrechtliche Maßnahmen
- Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO)
- Vorläufige Festnahme (§ 127 StPO)
- Anordnung von Sicherungsverwahrung
- Beschlagnahme von Vermögensgegenständen oder Wohnungsdurchsuchungen
- Tätigkeit im Strafvollzug bei nachträglicher Rehabilitierung
Kein Ausschluss wegen Eigenverschulden
Ein Anspruch entfällt nach § 2 StrEG, wenn der Betroffene die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat, etwa durch Falschangaben oder Verschweigen wesentlicher Umstände.
Umfang der Entschädigung
Ersatzfähige Vermögensnachteile
Zu ersetzen sind alle unmittelbaren Vermögensschäden, die durch die Maßnahme entstanden sind. Dies betrifft unter anderem:
- Einkommensverluste und Verdienstausfall
- Kosten für Verteidigung, Aufenthalt an anderen Orten oder Kontaktbeschränkungen
- Entgangene Rentenansprüche, Sozialleistungen oder Unterhaltsleistungen
- Schäden an Sachen bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen
Berechnung der Entschädigung
Die Berechnung erfolgt meist pauschal: Für Entziehungen der Freiheit sieht § 7 Abs. 3 StrEG einen festen Tagessatz vor (ab 2023: 75 Euro pro Tag der Freiheitsentziehung). Für darüber hinausgehende Schäden besteht die Möglichkeit, eine weitergehende Entschädigung nachzuweisen und geltend zu machen.
Ersatz immaterieller Schäden
Für die immateriellen Schäden (sog. Nichtvermögensschäden), insbesondere für erlittene Nachteile wie Ehrverlust, soziale Ausgrenzung oder psychische Belastungen, kann eine Ausgleichszahlung erfolgen. Die Höhe wird unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls festgelegt.
Verfahren der Entschädigungsgewährung
Antragstellung und Fristen
Der Entschädigungsantrag ist schriftlich bei dem zuständigen Landgericht einzureichen. Die Frist beträgt gemäß § 13 StrEG ein Jahr ab rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens.
Zuständigkeit und Ablauf
Für die Entscheidung ist das Landgericht zuständig, das im Strafverfahren zuletzt über die Maßnahme entschieden hat. Gegen die Entscheidung ist die sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht gegeben.
Ausschluss- und Ausschlussfristen
Ein Anspruch ist ausgeschlossen, wenn ein rechtskräftiger Schuldnachweis vorliegt. Nach Ablauf der Antragsfrist kann Entschädigung nur in Ausnahmefällen gewährt werden.
Rechtstatsachen und praktische Bedeutung
Statistik zur Inanspruchnahme
In Deutschland werden jährlich mehrere Tausend Entschädigungsanträge gestellt, hauptsächlich infolge ungerechtfertigter Untersuchungshaft oder unrechtmäßiger Strafvollstreckung. Der Anteil erfolgreicher Anträge liegt bei etwa 60-70 Prozent.
Problematik und Reformansätze
Kritisiert wird insbesondere die Höhe der Tagessätze; sie werde im europäischen Vergleich und in Anbetracht des tatsächlichen Schadens häufig als zu niedrig empfunden. Reformvorschläge stehen regelmäßig im Raum, einen angemesseneren Ausgleich für erlittene Nachteile sicherzustellen.
Internationale Bezüge
Europarechtliche Vorgaben
Die EMRK (Art. 5 Abs. 5) und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR Art. 9 Abs. 5) verpflichten die Vertragsstaaten, Entschädigungen für ungerechtfertigte Freiheitsentziehungen vorzusehen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wirkt mittelbar auf die Auslegung des nationalen Rechts ein und setzt Mindeststandards.
Vergleich mit anderen Rechtsordnungen
Im internationalen Vergleich bestehen Unterschiede insbesondere hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen, der Höhe der Entschädigung und der Durchsetzungsmöglichkeiten. Viele europäische Systeme sehen einen höheren Tagessatz vor oder gewähren darüberhinausgehende immaterielle Entschädigung.
Literatur und weiterführende Quellen
- Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG)
- Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – Art. 5 Abs. 5
- EGMR-Rechtsprechung zu Entschädigungsansprüchen
- Deutsche Statistiken zur Strafverfolgungsentschädigung (Bundesministerium der Justiz)
Zusammenfassung:
Die Entschädigung für ungerechtfertigte Strafverfolgung stellt eine zentrale Errungenschaft des rechtsstaatlichen Schutzes gegenüber hoheitlichem Handeln dar. Sie bezweckt die Kompensation materieller und immaterieller Schäden, setzt jedoch enge Voraussetzungen und wird durch spezielle gesetzliche Regelungen gestaltet. Die Durchsetzung ist an Fristen und strenge materiell-rechtliche Grundsätze gebunden, wodurch die praktische Bedeutung in Deutschland beständig diskutiert und kritisch begleitet wird.
Häufig gestellte Fragen
Wie wird Entschädigung für ungerechtfertigte Strafverfolgung geltend gemacht?
Wer von einer ungerechtfertigten Strafverfolgung betroffen ist, etwa durch Freispruch oder Einstellung des Verfahrens, kann nach den §§ 7 ff. StrEG einen Antrag auf Entschädigung stellen. Dieser Antrag ist grundsätzlich innerhalb einer Frist von einem Monat nach Rechtskraft der ihn begünstigenden Entscheidung bei dem zuständigen Landgericht einzureichen. Zuständig ist das Landgericht, in dessen Bezirk das Strafverfahren gegen die betroffene Person stattgefunden hat. Der Antrag muss die entscheidende Verfügung, aus der die Rechtskraft hervorgeht, beilegen und sollte die zu erstattenden Kosten und ggf. entstandene Schäden, wie Verdienstausfall oder immaterielle Belastungen, detailliert darlegen. Es ist ratsam, eine detaillierte Darstellung des Sachverhalts sowie belegbare Nachweise für die entstandenen Schäden und Mehraufwendungen beizufügen. Das Gericht prüft dann, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung erfüllt sind und setzt gegebenenfalls die Höhe der Entschädigung fest.
Welche Arten von Schäden können entschädigt werden?
Das StrEG unterscheidet zwischen Vermögensschäden und immateriellen Schäden (sogenanntes Schmerzensgeld). Zu den ersatzfähigen Vermögensschäden zählen insbesondere entgangener Arbeitslohn, Verdienstausfall während Untersuchungshaft, notwendige Aufwendungen für die Verteidigung (sofern nicht bereits durch Kostenerstattung im Hauptverfahren abgedeckt), Kosten für Sachverständige und notwendige Fahrtkosten. Immaterielle Schäden, wie beispielsweise Freiheitsentzug, werden nach festen Tagessätzen ersetzt, die im Gesetz geregelt sind. Unter bestimmten Voraussetzungen können auch außergewöhnliche materielle Schäden erstattet werden, die nicht vom pauschalen Entschädigungssatz umfasst sind, etwa Schäden an der beruflichen Existenz oder Verlust von Geschäftschancen. Eine genaue Darlegung und Nachweisführung sind hierbei zwingend erforderlich.
Besteht immer ein Anspruch auf Entschädigung?
Ein Anspruch auf Entschädigung besteht nicht in jedem Fall einer Einstellung oder eines Freispruchs. Die Entschädigung ist nach § 5 Abs. 2 StrEG ausgeschlossen, wenn der Betroffene die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig selbst herbeigeführt hat. Beispielsweise entfällt der Entschädigungsanspruch, wenn durch falsche Angaben oder das Verschweigen von Tatsachen eine Inhaftierung oder ein Ermittlungsverfahren ausgelöst wurde. Auch bei Verfahren, die wegen Schuldunfähigkeit eingestellt werden, ist ein Anspruch regelmäßig ausgeschlossen. Das Gesetz sieht somit ausdrücklich eine Prüfung des Eigenverschuldens vor, bevor eine Entschädigung zugesprochen wird.
Wie wird die Höhe der Entschädigung berechnet?
Die Höhe der Entschädigung richtet sich im Falle des Freiheitsentzugs nach den gesetzlichen Pauschalsätzen gemäß § 7 Abs. 3 StrEG. Derzeit beträgt die Entschädigung für jeden erlittenen Tag der Freiheitsentziehung 75 Euro. Darüber hinaus können nachweisbare Vermögensschäden ersetzt werden, wobei hier ein differenzierter Nachweis über die tatsächliche Schadenshöhe erbracht werden muss. Die Erstattung erstreckt sich dabei auf alle Kosten, die nachweislich unmittelbar durch die Strafverfolgungsmaßnahme entstanden sind. Der Ersatz von immateriellen Schäden (insbesondere für erlittenen Freiheitsentzug) erfolgt dagegen ausschließlich in pauschalierter Form und ist nicht individuell steigerbar, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor.
Können auch Dritte (z. B. Familienangehörige) eine Entschädigung beantragen?
Grundsätzlich ist der Anspruch auf Entschädigung nach dem StrEG höchstpersönlicher Natur, das heißt, er steht nur der von der Strafverfolgung betroffenen Person selbst zu. In Ausnahmefällen, etwa im Todesfall des Entschädigungsberechtigten, können die Erben die noch nicht ausgezahlte Entschädigung beanspruchen (§§ 9, 10 StrEG). Familienangehörige können keine eigene Entschädigung für mittelbare Schäden (zum Beispiel seelisches Leid durch Trennung oder Einschränkungen im Familienleben) beanspruchen; sie sind auf eigene deliktische Ersatzansprüche aus dem Zivilrecht verwiesen, die jedoch hohe Voraussetzungen erfüllen müssen.
Gibt es Fristen, die bei der Antragstellung zu beachten sind?
Die wichtigste Frist ergibt sich aus § 8 Abs. 1 StrEG: Der Entschädigungsantrag muss spätestens innerhalb eines Monats nach Eintritt der Rechtskraft des freisprechenden oder einstellenden Beschlusses gestellt werden. Bei Versäumnis dieser Frist kann der Entschädigungsanspruch untergehen. Es empfiehlt sich daher, nach Ende des Strafverfahrens umgehend anwaltlichen Rat einzuholen, da die Antragsstellung an formale und inhaltliche Voraussetzungen gebunden ist.
Ist die Entschädigung steuerpflichtig?
Die nach dem StrEG gezahlte Entschädigung für immaterielle Schäden, insbesondere für Freiheitsentzug, stellt grundsätzlich keine steuerpflichtige Einnahme dar, da sie dem Ausgleich eines erlittenen Unrechts und keiner wie auch immer gearteten Gegenleistung dient. Auch Ersatzleistungen für materielle Schäden sind regelmäßig nicht als Einkünfte nach dem Einkommensteuergesetz zu qualifizieren, sofern sie lediglich den Status quo ante wiederherstellen. Ausnahmen kann es jedoch bei Ersatzleistungen für entgangene Einnahmen geben, etwa wenn Verdienstausfall ersetzt wird – dieser kann unter Umständen wiederum zu einer steuerpflichtigen Einnahme führen. Es empfiehlt sich, im Einzelfall steuerliche Beratung in Anspruch zu nehmen.