Einrede der Vorausklage
Die Einrede der Vorausklage ist ein wichtiger Begriff im deutschen Schuldrecht, insbesondere im Bereich des Bürgschaftsrechts. Sie gewährt bestimmten Schuldnern das Recht, die Inanspruchnahme durch einen Gläubiger zeitlich hinauszuschieben, indem sie verlangen, dass der Gläubiger zunächst die Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner betreibt. Ziel der Einrede ist der Schutz des Sekundärschuldners vor einer vorzeitigen Inanspruchnahme.
Rechtliche Grundlagen
Gesetzliche Regelung
Die Einrede der Vorausklage ist insbesondere in § 771 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Diese Norm betrifft vor allem den Bürgen im Bürgschaftsverhältnis. Daneben existieren vergleichbare Regelungen in anderen Gesetzesbereichen, wie bei der Haftung des Kommanditisten (§ 171 Abs. 2 HGB) oder bei Mitschuldnern in bestimmten Fällen.
Wortlaut § 771 BGB:
„Der Bürge ist berechtigt, die Befriedigung des Gläubigers zu verweigern, solange nicht die Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner ohne Erfolg versucht ist […]“
Anwendungsbereich
Die Einrede der Vorausklage findet primär im Kontext der Bürgschaft Anwendung. Wird ein Bürge in Anspruch genommen, kann er sich auf dieses Recht berufen, solange keine erfolglose Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner erfolgt ist. Daneben kann die Einrede relevanz in anderen gesetzlichen Schuldverhältnissen mit subsidiärer Haftung haben.
Funktion und Zielsetzung
Schutzfunktion
Der Zweck der Einrede der Vorausklage besteht darin, den Sicherungsgeber (z.B. Bürgen) vor einer vorschnellen Inanspruchnahme durch den Gläubiger zu bewahren. Sie stellt sicher, dass der Gläubiger zunächst die primär verpflichtete Partei, also den Hauptschuldner, zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit in Anspruch nimmt und erst dann auf Sekundärschuldner zurückgreifen kann.
Bedeutung für den Gläubiger
Für den Gläubiger bedeutet die Einrede, dass er zunächst den aufwendigeren Weg der Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner beschreiten muss. Das erschwert eine unmittelbare Durchsetzung seiner Ansprüche gegen den Sicherungsgeber.
Voraussetzungen der Einrede
Anspruchsvollstreckung gegen den Hauptschuldner
Der Gläubiger muss zunächst erfolglos die Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner betrieben haben. Der Versuch gilt als fehlgeschlagen, wenn eine vollständige oder zumindest teilweise Befriedigung aus dem Vermögen des Hauptschuldners nicht möglich ist.
Form und Geltendmachung
Die Einrede der Vorausklage ist eine sogenannte peremptorische (dauerhafte) Einrede, die von dem Einrederechtsinhaber ausdrücklich geltend gemacht werden muss. Dies kann durch schlichte Erwähnung im Prozess erfolgen. Von Amts wegen wird sie nicht berücksichtigt, sondern nur auf entsprechende Verteidigung hin.
Entbehrlichkeit der Einrede (Ausschlussgründe)
Gesetzlich normierte Ausnahmen
Das Gesetz sieht in § 773 BGB verschiedene Fälle vor, in denen die Einrede der Vorausklage ausgeschlossen ist. Hierzu gehören insbesondere:
- Verzicht des Bürgen auf die Einrede (sog. selbstschuldnerische Bürgschaft, § 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB)
- Insolvenz des Hauptschuldners (§ 773 Abs. 1 Nr. 2 BGB)
- Unmöglichkeit der Zwangsvollstreckung im Inland (§ 773 Abs. 1 Nr. 3 BGB)
- Anderer Sitz des Hauptschuldners im Ausland ohne inländische Vollstreckungsmöglichkeit (§ 773 Abs. 1 Nr. 4 BGB)
Vereinbarter Verzicht
In der Praxis ist die Vereinbarung einer selbstschuldnerischen Bürgschaft weit verbreitet. Mit dieser Ausgestaltung verzichtet der Bürge auf das Recht der Einrede. Der Gläubiger kann den Bürgen damit unmittelbar, ohne vorherige Vollstreckung gegen den Hauptschuldner, in Anspruch nehmen.
Einrede der Vorausklage im Vergleich zu anderen Einreden
Einrede und Einwendung
Die Einrede der Vorausklage ist von anderen Einreden (z.B. Verjährungseinrede) zu unterscheiden. Während Einwendungen die Entstehung des Anspruchs verhindern, führt die Einrede der Vorausklage lediglich zur zeitweisen (temporären) Zurückweisung der Klage, solange ihre Voraussetzungen vorliegen.
Verhältnis zur gesamtschuldnerischen Haftung
Im Rahmen der Gesamtschuldnerschaft (§§ 421 ff. BGB) besteht grundsätzlich keine Einrede der Vorausklage. Jeder Gesamtschuldner kann vollumfänglich vom Gläubiger beansprucht werden.
Rechtsfolgen der Einrede der Vorausklage
Wirkung im Gerichtsverfahren
Wird die Einrede der Vorausklage im Gerichtsverfahren erhoben, kann der Gläubiger seinen Anspruch gegen den Einrederechtsinhaber erst dann durchsetzen, wenn eine erfolglose Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner nachgewiesen ist. Dies kann unter Umständen den Prozess verzögern.
Weiterführender Schutz
Zahlt der Bürge dennoch vor Inanspruchnahme der Einrede, kann er unter Umständen den Betrag vom Gläubiger zurückfordern, sofern die Voraussetzungen der Zahlung noch nicht vorlagen.
Praktische Bedeutung und Beispiele
Anwendung im Bürgschaftsrecht
In der Kreditpraxis wird häufig auf die Einrede der Vorausklage verzichtet, indem die selbstschuldnerische Bürgschaft verlangt wird. Bei einfachen Bürgschaften bleibt dem Bürgen die Einrede erhalten. Sie wird dann zur Verteidigung gegen eine zu frühe Inanspruchnahme eingesetzt.
Bedeutung für Gläubiger und Sicherungsgeber
Für Gläubiger ist die Kenntnis über das Bestehen oder den Verzicht auf die Einrede entscheidend, da sie das Risiko und die Durchsetzbarkeit ihrer Ansprüche wesentlich beeinflusst. Sicherungsgeber müssen die Folgen der Einrede bei Vertragsabschluss genau abwägen.
Literatur und Weiterführende Vorschriften
- Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), §§ 765 ff., insbesondere § 771, § 773 BGB
- Handelsgesetzbuch (HGB), § 171 Abs. 2 HGB
- BeckOK BGB, Kommentar
- Palandt, BGB-Kommentar
Zusammenfassung:
Die Einrede der Vorausklage ist ein bedeutsames rechtliches Instrument zur Verteidigung gegen eine vorzeitige Inanspruchnahme aus einer subsidiären Haftung. Ihr Anwendungsbereich, die Voraussetzungen und Ausnahmen sind gesetzlich präzise geregelt und müssen im Schuldverhältnis sorgfältig beachtet werden. Besonders im Bürgschaftsrecht spielt sie eine zentrale Rolle und beeinflusst sowohl die Durchsetzbarkeit von Gläubigeransprüchen als auch die Haftungsrisiken des Sicherungsgebers maßgeblich.
Häufig gestellte Fragen
In welchen Fällen ist die Einrede der Vorausklage im deutschen Recht anwendbar?
Die Einrede der Vorausklage ist im deutschen Zivilrecht in erster Linie im Bürgschaftsrecht (§ 771 BGB), teilweise auch bei Geschäftsführern im Vereinsrecht (§ 31a Abs. 3 BGB), relevant. Sie gibt dem Bürgen oder dem haftenden Funktionsträger die Möglichkeit, die Befriedigung des Gläubigers vorläufig zu verweigern, solange der Gläubiger nicht nachweist, dass eine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner erfolglos war oder aussichtslos wäre. Allerdings ist die Einrede nicht in jedem Fall gegeben, sondern insbesondere bei sogenannten selbstschuldnerischen Bürgschaften ausgeschlossen (§ 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Auch bei bestimmten gesetzlichen Bürgschaften und bei Vereinbarungen, die ausdrücklich auf die Vorausklage verzichten, entfällt das Recht zur Einrede. Im unternehmerischen Geschäftsverkehr wird die Einrede zudem häufig explizit ausgeschlossen. Daher ist stets zu überprüfen, ob die Voraussetzungen einer gewöhnlichen Bürgschaft oder einer spezifischen Haftungskonstellation vorliegen und ob die Einrede der Vorausklage wirksam geltend gemacht werden kann.
Wie und zu welchem Zeitpunkt muss die Einrede der Vorausklage erhoben werden?
Die Einrede der Vorausklage ist eine sogenannte „peremptorische Einrede“, das heißt, sie muss vom Verpflichteten, etwa dem Bürgen, ausdrücklich geltend gemacht werden. Sie wirkt nicht automatisch, sondern nur auf Einwand hin. Die Erhebung erfolgt prozessual im Rahmen der Einlassung auf eine Klage des Gläubigers, spätestens im ersten Rechtszug und in der Regel in der Klageerwiderung (§ 282 ZPO). Versäumt es der Bürge, diese Einrede im Prozess rechtzeitig vorzubringen, gilt sie in diesem Verfahren als dauerhaft verwirkt. Die Geltendmachung der Einrede kann zudem an bestimmte Bedingungen geknüpft sein, etwa an einen Nachweis des Bürgen, dass der Gläubiger bisher keine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner erfolglos versucht hat.
Welche Auswirkungen hat die Einrede der Vorausklage auf das Verfahren zwischen Gläubiger, Bürge und Hauptschuldner?
Wird die Einrede der Vorausklage wirksam erhoben, ist der Gläubiger zunächst verpflichtet, gegenüber dem Hauptschuldner die Zwangsvollstreckung zu versuchen. Erst wenn diese erfolglos bleibt oder von vornherein aussichtslos ist – zum Beispiel bei offenkundiger Zahlungsunfähigkeit, unbekanntem Aufenthalt des Hauptschuldners oder fehlenden pfändbaren Vermögenswerten – kann der Gläubiger direkt gegen den Bürgen vorgehen. Die Einrede führt mithin zu einer vorübergehenden Sperre der Inanspruchnahme des Bürgen und soll diesen vor einer allzu frühen Inanspruchnahme schützen, ohne dass dem Hauptschuldner zuvor eine ausreichende Gelegenheit zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit gegeben wurde. Sie stellt damit einen wichtigen Schutzmechanismus im Haftungsgefüge dar.
Kann auf die Einrede der Vorausklage verzichtet werden, und wenn ja, wie?
Ja, auf die Einrede der Vorausklage kann durch vertragliche Vereinbarung verzichtet werden. Dies geschieht typischerweise durch die Vereinbarung einer sogenannten selbstschuldnerischen Bürgschaft, bei der der Bürge auf das Recht der Vorausklage verzichtet (§ 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Ein solcher Verzicht kann explizit im Bürgschaftsvertrag formuliert sein (z. B. durch die Wendung „Der Bürge verzichtet auf die Einrede der Vorausklage“ oder „selbstschuldnerisch“). Eine stillschweigende oder konkludente Vereinbarung wird in der Praxis nur selten angenommen. Bei Verbraucherbürgschaften ist zu beachten, dass ein Verzicht der Einrede im Rahmen allgemeiner Geschäftsbedingungen einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB unterliegt und unwirksam sein kann, wenn er den Bürgen unangemessen benachteiligt.
Welche Ausnahmen oder Begrenzungen bestehen hinsichtlich der Einrede der Vorausklage?
Die Einrede der Vorausklage ist in bestimmten Fällen ausgeschlossen oder eingeschränkt. Neben den schon erwähnten selbstschuldnerischen Bürgschaften gemäß § 773 BGB kann auf die Einrede auch durch Gesetz oder Vertrag verzichtet werden. Des Weiteren entfällt das Recht zur Einrede, wenn der Hauptschuldner offenkundig zahlungsunfähig ist, sich im Insolvenzverfahren befindet oder unbekannten Aufenthalts ist (§ 771 Satz 2 BGB). Auch wenn eine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner keine Aussicht auf Erfolg bieten würde, etwa mangels pfändbaren Vermögens, kann der Gläubiger den Bürgen trotz Einrede unmittelbar in Anspruch nehmen. Teilweise besteht auch eine Subsidiarität der Einrede (z. B. im Vereinsrecht bei Vorständen), deren Reichweite unterschiedlich ausgestaltet sein kann.
Welche Beweislast besteht im Zusammenhang mit der Einrede der Vorausklage?
Beim rechtlichen Streit über die Einrede der Vorausklage trägt grundsätzlich der Bürge die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er sich auf die Einrede beruft und die Voraussetzungen vorliegen. Der Gläubiger muss dann wiederum darlegen und beweisen, dass die Voraussetzungen für eine unmittelbare Inanspruchnahme bestehen, also dass die Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner bereits erfolglos war oder von vornherein aussichtslos ist. Im Einzelfall kann die Verteilung der Beweislast durch die spezifischen Umstände oder vertragliche Vereinbarungen beeinflusst werden. Insbesondere sind dem Gericht aktuelle Informationen über die Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners und etwaige Vollstreckungsmaßnahmen vorzulegen. Die Beweisführung kann komplex sein und erfordert oft entsprechende Unterlagen, wie z. B. Nachweise über erfolglose Vollstreckungsversuche.